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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
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15. Dezember 2022 Bernhard Sander: Die Situation der Linkskräfte in Frankreich

Neue Vorstände, neue Risse

Grünen-Vorsitzende Marine Tondelier nach ihrer Wahl (Foto: EELV)

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron eröffnete die zweite Sitzungsfolge des von ihm ins Leben gerufenen CNR, einer Art Nebenparlament, mit der Ankündigung, dass die Eckpunkte der geplanten Rentenreform nach dem Jahreswechsel verkündet werden.

Das stellt die gerade mit über 90% neu gewählte Vorsitzende der Grünen, Marine Tondelier, und die neue Leitung sogleich unter maximalen Druck, als Teil des Oppositionsbündnisses NUPES Position in einer der zentralen sozialen Fragen zu beziehen. Ähnliches trifft auch für den am letzten Wochenende in Urabstimmung gewählten Vorsitzenden der Republikaner (LR) zu, die es faktisch zerrissen hat. Das von Éric Ciotti erzielte Ergebnis ist eine halbe Niederlage.

Der Abgeordnete aus dem Departement Alpes-Maritimes erhielt 53,7% der Stimmen, und sammelte bei 62.586 Wähler*innen (69,75% Wahlbeteiligung) damit nur 4.632 Stimmzettel mehr ein als sein Gegenkandidat Bruno Retailleau. Das schwache Resultat von Ciotti trifft nun indirekt auch Laurent Wauquiez. Der Parteitag hätte die ideale Startrampe für seine Präsidentschaftskandidatur sein können. Während seiner gesamten Kampagne hatte der neue LR-Vorsitzende ihn auf ein Podest gestellt, ihn als einzige Hoffnung der Rechten beschrieben und ihn dazu gedrängt, bereits 2023 zu kandidieren.

Damit hat er zweifellos Wähler*innen mobilisiert, die skeptisch gegenüber den Ambitionen von Wauquiez waren. Der unterlegene Retailleau versprach zudem einen Bruch mit der Vergangenheit, insbesondere mit Nicolas Sarkozy, der Ciotti immer noch nahesteht. Retailleau gab seinem neuen Vorsitzenden mit auf den Weg, die gesamte Partei setze auf Geschlossenheit, die Rückkehr einer »festen Rechten, die die Ordnung auf der Straße wiederherstellt«, und einer »Rechten der Freiheit, die die Steuern senkt«.

Die auf eine fast unsichtbare Oppositionsrolle degradierte LR wird seit Monaten zerrieben. Auf der einen Seite durch die Ankündigungen der Macht, auf der anderen durch die Agitation von NUPES und des rechts-populistischen Rassemblement National (RN). Seit den Parlamentswahlen hat keine einzige republikanische Idee die »Mauer« der öffentlichen Meinung durchbrochen. Ohne Linie wissen die Abgeordneten nicht, wie sie sich positionieren sollen. Die Fraktion in der Nationalversammlung ist bei einigen Texten konstruktiv und bei anderen in Frontalopposition, was am Ende allen Unbehagen bereitet. »Eine ganze Menge ideologischer Arbeit ist zu leisten.«

Zu diesem Zeitpunkt ist die einzige klare Botschaft, die von der Wahl Ciottis ausgeht: Die ehemalige Partei der Rechten und des Zentrums hält nicht mehr das Gleichgewicht. Sie bewegt sich unaufhaltsam nach rechts in Variationen, die nicht völlig deckungsgleich sind. Ciotti hat seinen Bekanntheitsgrad auf einem selbstbewussten Sicherheits- und Anti-Immigrationsdiskurs aufgebaut. Neben anderen Themen befürwortet er die Abschaffung des Bodenrechts und einen weitreichenden »steuerlichen Gegenschock«.

Zu Ciottis Programm gehören Verfassungsänderungen, um den Einfluss des europäischen Rechts auf die Migrationspolitik zu begrenzen. Die Kontrolle der Migrationsströme ist zur Obsession Nummer eins einer Partei geworden, deren Basis immer mehr schrumpft und die zwischen Macron auf der einen und Éric Zemmour und Marine Le Pen auf der anderen Seite eingeklemmt ist.

Die proklamierte Ablehnung jeglicher Vereinbarung mit Macron und die von Ciotti und Retailleau geteilte Überzeugung, dass die Zukunft nunmehr auf der Seite einer Union der Rechten liegt, die es aufzubauen gelte, bergen eine echte Gefahr in sich.


Neue Hoffnung der Grünen

Aktuell bewegen die französischen Bürger*innen laut einer Studie der Jean-Jaurès-Stiftung und des Centre de recherches politiques de Sciences Po (Cevipof) vor allem soziale Fragen. Zunächst einmal ist die Umwelt die Priorität Aller und nicht mehr nur einiger Weniger. Als Bestätigung der in diesem Jahr durchgeführten Umfragen hat sie aber nur die zweitwichtigste Priorität – sie wurde von 34% der Befragten genannt. Die Umwelt liegt weit hinter der Kaufkraft (54%), aber deutlich vor der Zukunft der Renten und des Gesundheitssystems (26%), der Einwanderung (18%) oder der Sicherheit (18%). Diese Priorität für Umwelt wird weitgehend geteilt, unabhängig davon, ob Frau oder Mann, reich oder arm, ländlich oder städtisch und sogar jung oder alt.

Auch wenn die Umweltschützer große Metropolen wie Lyon, Bordeaux oder Grenoble erobert haben und seit Jahrzehnten auf allen Ebenen der Demokratie gewählte Vertreter*innen auftauchen, stößt die Partei auf nationaler Ebene an die gläserne Decke, wo sie »nicht glaubwürdiger als früher erscheint«.

Es besteht mittlerweile ein Konsens darüber, dass der Klimawandel tatsächlich stattfindet, aber nur eine Mehrheit ist sich über die Ursachen dieses Wandels einig. Die französischen und internationalen Nachrichten haben die Bewusstseinsbildung zweifellos beschleunigt: Fast 90% der französischen Bürger*innen sind der Ansicht, dass »wir einen Klimawandel erleben«. Allerdings teilen nur 61% den Konsens des IPCC über die Ursachen dieses Wandels, nämlich »hauptsächlich menschliche Aktivitäten«, während der Rest insbesondere der Meinung ist, dass es sich um ein »natürliches Phänomen« (16%) handelt, oder dass man »es nicht wissen kann« (8%).

Diese Skepsis ist gespalten: Sie ist eher bei den Älteren (27 Prozentpunkte Unterschied zwischen den 18- bis 24-Jährigen und den über 70-Jährigen), den weniger Gebildeten (22 Prozentpunkte Unterschied zwischen denjenigen ohne Abschluss und denjenigen mit formal hohem Bildungs-Abschluss), aber auch bei den Anhängern der extremen Rechten (57 Prozentpunkte Unterschied zwischen den Anhängern von Europe Ecologie-Les Verts und den Anhängern von Reconquête!).

Eine weitere Erkenntnis: Die französischen Bürger*innen warten auf tiefgreifende Veränderungen. Sie pflegen keinesfalls einen verzweifelten Fatalismus: Nur 10% sind der Meinung, dass man »nichts tun kann«, um den Klimawandel zu bekämpfen. Sie hängen auch nicht an einem glückseligen Technizismus: Nur 14% glauben, dass die Lösung durch wissenschaftliche Innovationen gefunden werden kann. Ebenso wenig stehen sie für gewalttätigen Aktivismus: 73% (aber nur 52% der EELV-Sympathisanten und 49% der Sympathisanten von La France insoumise) halten Gewalt bei militanten Umweltaktionen oder -demonstrationen für »inakzeptabel«. Im Gegensatz dazu plädieren 68% der Befragten für einen tiefgreifenden Wandel – sei es in Bezug auf unsere Lebensweise (30%) oder die Produktionsmethoden der Unternehmen (38%).

Trotz aller Versprechungen ist es keiner der letzten Grünen-Parteiführungen gelungen, das erträumte große grüne Haus zu schaffen. Die Zahl der Mitglieder (um die 10.000) hat sich nur wenig verändert, und die Jugend, die sich bei Klimamärschen oder Aktionen des zivilen Ungehorsams engagiert, meidet die Partei. Dieses Phänomen sei nur ein Symptom des ursprünglichen, in der DNA der Umweltaktivisten verankerten »Misstrauens« gegenüber den Institutionen, möchte man sich bei EELV beruhigen. In der Gründungsphase der Partei stammte das Gros der Mitglieder aus der Umweltbewegung, den Assoziationen und Initiativen. Heute entstammen die Aktivist*innen weitgehend der Zivilgesellschaft.

Marine Tondelier erzielte im ersten Wahlgang 47% der Delegiertenstimmen, und hatte danach 14 Tage Zeit bis zum Parteitag, um mit den anderen Strömungen zu verhandeln. Hier waren vor allem die Realpolitiker um den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Yannick Jadot (vertreten durch Sophie Bussière 18%) und einige kleinere Strömungen aufgefordert, sich zu entscheiden. Die Gegenkandidatin, die öko-feministische Parteirebellin Sandrine Rousseau, die den Skandal um häusliche Gewalt in den eigenen Vorstandsetagen ins Rollen gebracht hatte, erzielte nur 18,5% und konnte sich damit im zweiten Wahlgang kaum verbessern (13% im ersten Wahlgang). Tondelier erreichte 90% der Stimmen. Die Stadträtin und Gesundheitsökonomin ist 36 Jahre alt und stammt aus der Region Oberfrankreich, wo sie sich seit ihrer Jugend im Kampf gegen den Le Pen-Clan Ansehen verschafft hat. Sie vertritt einen Mittelweg in der parteiinternen Debatte über Radikalität und tritt für neue Allianzen ein, um die NUPES zu überwinden.

Nach einer Präsidentschaftswahl, die die Partei zwischen Sandrine Rousseau und Jadot spaltete, vertritt sie einen Mittelweg und glaubt, mit jeder ihrer Konkurrentinnen zusammenarbeiten zu können – alle sechs eingereichten Leit-Anträge werden von Frauen geleitet. Tondelier weigert sich zwar, eine Kampagne für oder gegen die Neue Ökologische und Soziale Volksunion (NUPES) zu führen, distanziert sich aber vom Linksbündnis und ruft zu neuen Koalitionsformaten und Autonomie bei Zwischenwahlen auf.

Vor ihrer Wahl beschrieb sie in einem Interview mit Le Monde am 4.11.2022 ihre Pläne. »Wir haben mehrere Prioritäten: Zunächst einmal besteht die Notwendigkeit einer Volksökologie. Die Ökologie wird von einigen immer noch als etwas für Reiche angesehen, das muss sich ändern. Zweitens gibt es einen Bedarf an Neugründung. Nach dem Kongress schlagen wir Generalstände vor, um vor dem Sommer zu einer Neugründung der Partei zu gelangen, notfalls auch mit einer Namensänderung. In den Stadtvierteln, auf dem Land müssen vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden und nicht nur in Wahlzeiten.

Wir waren uns sicher, dass das Thema der Stunde die Ökologie war und dass es logisch war, dass wir diejenigen sein würden, die am besten darüber sprechen würden, wie eine Form magischen Denkens. Die Tatsache, dass sich der Großteil des Wahlkampfs um die Themen der Rechten und der extremen Rechten drehte, mag uns ungerecht erschienen sein. Die Wahrheit ist, dass die Rechte und die extreme Rechte diesen Kulturkampf seit Jahren vorbereitet und geführt haben.

Das menschliche Gehirn ist sehr schlecht darauf vorbereitet, das Klimarisiko zu begreifen, obwohl es offensichtlich ist und unmittelbar bevorsteht. Manche Menschen leben in Öko-Angst, andere verleugnen es. Wenn wir selbst Ablenkungen anbieten, dann sind wir Teil des Problems. Umweltschützer sind stark, wenn sie zusammen sind. Wenn wir damit beschäftigt sind, uns zu zerstreuen und zu debattieren, verlieren wir.«

Sowohl in NUPES als auch in der stärksten Kraft der Links-Union wachsen die Differenzen: gemeinsame Liste zur Europa-Wahl, Haltung zum Ukraine-Krieg, Sozialdemokratisierung, offene Führungsfragen bei LFI sind die Stichworte.

Ein Streitpunkt bei den Grünen ist die Frage nach einer gemeinsamen NUPES-Liste zur Europawahl. Nur Sandrine Rousseau, deren Antrag »La Terre, nos luttes« (»Die Erde, unsere Kämpfe«) im ersten Wahlgang 13% der Stimmen erhielt, hatte sich offen für solche Gespräche gezeigt.

Für die Grünen ist mit der neuen Vorsitzenden bereits entschieden: »Die Linie ist kristallklar, schwarz auf weiß geschrieben: Es wird eine grüne und föderalistische Liste bei den Europawahlen geben.« Am Vorabend des Kongresses von Europe Ecologie-Les Verts (EELV), auf dem die Ernennung von Marine Tondelier zur neuen Nationalsekretärin der Grünen bestätigt wurde, geriet der Europaabgeordnete David Cormand in Rage, als er gefragt wurde, ob seine Partei eine gemeinsame Liste mit ihren anderen Partnern der Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (NUPES) für die Europawahlen 2024 in Betracht ziehen könnte. Dieser Wahltermin liegt noch in weiter Ferne, sorgt aber bereits jetzt für Unruhe in der Linksunion. Innerhalb der Grünen wurde das weitere Vorgehen von den Aktivisten entschieden, die mit großer Mehrheit für eine eigenständige Liste stimmten.


Risse in der linken Union

Das hindert La France Insoumise (LFI) nicht daran, die Hoffnung auf eine Vereinigung im Jahr 2024 zu nähren. »Wir haben Konvergenzpunkte, wir müssen uns die Frage stellen«, um »gegen die Blöcke der Rechten und der extremen Rechten zu gewinnen«, erklärt die »unumstrittene« Europaabgeordnete Manon Aubry. Die Bewegung von Jean-Luc Mélenchon ist bereit, den Partnern den roten Teppich auszurollen, und bietet ihnen an, dass die Liste »das Kräfteverhältnis« der letzten Wahl berücksichtigt. Im Jahr 2019 stellten die Grünen 13 Europaabgeordnete, während die »Unbeugsamen« und die Sozialisten jeweils sechs Abgeordnete stellten.

In den letzten Tagen des Jahres sind weitere Differenzen aufgetaucht. Am 7. Dezember erinnerte Mélenchon bei einem Vortrag vor Studenten des Institut libre des relations internationales (Ileri) an das Ausmaß der Differenzen. Er erklärte, dass die Krim der Ukraine an einem Abend »geschenkt« worden sei, an dem Chruschtschow »betrunken war«, und wiederholte seine Kritik an den gegen Russland verhängten Sanktionen, die er für die »politische Niederlage« der »europäischen Länder, die von den USA an die Kehle gefasst werden«, verantwortlich macht. Er betonte, dass Frankreich eine »Position der Blockfreiheit« einnehmen müsse und sich »allein verteidigen kann, ohne jemanden um etwas zu bitten«.

Einige Tage zuvor hatte sich La France Insoumise zweimal bei Texten zur Unterstützung der Ukraine enthalten, obwohl die Grünen und die Sozialisten dafür gestimmt hatten. Der erste, der am 23. November im Europäischen Parlament angenommen wurde, bezeichnete Russland u.a. als »terroristischen Staat«. Daher, so Manon Aubry, die Entscheidung der »Unbeugsamen«, die diese Terminologie für »kontraproduktiv halten, wenn man einen diplomatischen Ausweg« aus dem Konflikt anstrebt. Die Europaabgeordnete erinnert daran, dass sie für »24 Texte zugunsten« von Sanktionen, logistischer Hilfe usw. gestimmt habe.

Bei den »Unbeugsamen« von LFI brennt es noch aus einem weiteren Grund. Clémentine Autain, Abgeordnete aus Seine-Saint-Denis, eine Gründungs-Figur von La France Insoumise, stellt die »sozialdemokratische« Linie des nordfranzösischen Abgeordneten François Ruffin in Frage. In einem Interview mit »L'Obs« hatte sich der Abgeordnete aus dem Departement Somme als Sozialdemokrat definiert – da er »sozial und demokratisch« sei. Seine Kollegin aus Seine-Saint-Denis lehnt den Begriff ab und bevorzugt stattdessen den Begriff »Ökosozialist«.

Ihrem aufmüpfigen Mitstreiter wirft sie vor, dass er bei den neuen gesellschaftlichen Kämpfen nur halbherzig sei. Für sie sind diese Kämpfe und das soziale Engagement der Linken zwei Seiten derselben Medaille. Die Folge: Vier Jahre vor den Präsidentschaftswahlen und ohne Gewissheit über die künftige Rolle von Mélenchon zeichnet sich ein Grundsatzstreit um das Parteiprofil ab.

Weiteres Ungemach braut sich um die Neukonstituierung der LFI-Leitung an: Wie die Abgeordneten Alexis Corbière und Raquel Garrido, beide gehören bisher zum Think Tank um Mélenchon, wurden sowohl Ruffin als auch Autain von der neuen Führung von La France Insoumise ferngehalten. Dies sei so bestimmt worden von einer vorgeblich »repräsentativen Versammlung« von LFI, von der die Abgeordnete von Seine-Saint-Denis Autain allerdings nichts weiß. Der Abgeordnete des Departements Bouches-du-Rhône, Manuel Bompard, kündigte diese Neuorganisation der Partei in der Presse an: Er selbst wird Koordinator der Bewegung werden, Ruffin und andere »unbotmäßige« Schwergewichte werden außerhalb der operativen Leitung stehen, aber zu einem »politischen Rat« eingeladen werden.

Autain ist der Ansicht, dass es sich bei diesem Gremium, das potenziell alle sechs Wochen zusammentreten soll, um »ein Not-Komitee handelt, das versucht, den Mangel an Pluralismus in der Führung zu kaschieren«. »Dass es in der Koordination weder Ruffin, noch Autain, noch Corbière, noch Coquerel gibt? Das ist fast eine Säuberung«, meint die Leiterin der »Insoumise«-Delegation im Europaparlament, Leïla Chaibi.

Bompard versichert »den Willen, dass alle identifizierten Figuren vertreten sind«. Aber, so erklärt er, unter diesen großen Figuren »hat sich niemand für einen Pol oder einen Sektor der Bewegung vorgeschlagen, sie haben manchmal Ideen angesprochen, aber sich nicht für die Übernahme von Aufgaben gemeldet«.

Die Durchgefallenen werden das zu schätzen wissen. Die Leitung verteidigt jedenfalls die Idee, eine gewichtige Figur zu sein, kein ausreichendes Argument ist, um in der Leitung zu sitzen, wenn es nicht darum geht, dort etwas Konkretes zu tun. Mit einer Eskalation des Konflikts, der die Partei in einer Phase der parlamentarischen Eingewöhnung trifft, ist zu rechnen.


Die anstehende Rentenreform

Unterdessen bereitet sich die Regierung auf ganz andere soziale Konflikte vor. Die Gewerkschaften können allerdings froh sein, dass Macron ihnen ein Todlaufen des Protestes in der Weihnachtszeit erspart hat. E will offenbar einen Entscheidungskampf à la Thatcher. »Ich hoffe, dass diese Verschiebung es der Regierung ermöglicht, die Vorschläge der Gewerkschaften zu erkunden, damit sie versteht, dass sie wirklich interessant sind und umgesetzt werden müssen«, reagierte Dominique Corona, der Verhandlungsführer der UNSA bei den Renten, mit einem Hauch von Sarkasmus.

Die CFDT ihrerseits »nimmt diese Ankündigung zur Kenntnis«, wie sie in einer Pressemitteilung schreibt, erinnert aber daran, »dass sie gegen jede Verschiebung des Rentenalters ist«. Beide Gewerkschaftsbünde hatten bisher auf einen Verhandlungskompromiss im sozialen Dialog gehofft. Die Gewerkschaften gingen noch in diesen Tagen zum Arbeitsministerium, um über das finanzielle Gleichgewicht des Systems zu diskutieren.

Um die Gemüter vorzubereiten, führt die Exekutive zahlreiche Pressegespräche, Arbeitssitzungen in Matignon und Gipfeltreffen im Elysée-Palast durch. Die Ankündigungen der Premierministerin scheinen von vornherein festzustehen, da der Präsident versprochen hat, das gesetzliche Rentenalter von 62 auf 64 oder sogar 65 Jahre anzuheben.

Laurent Berger, Chef der CFDT, beschrieb seine Stimmung mit Euphemismen: »Wir sind ein wenig verärgert angekommen.« Bei einem Abendessen hatte Macron seine Absicht bekräftigt, das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 65 Jahre anzuheben. »Wir haben um Aufklärung [von Frau Borne] gebeten«, fügte Berger hinzu. Aber die Aufklärung sei nicht erfolgt, so der Gewerkschafter, der seinen Beitrag mit dem Ausspruch beendete: »Ich bin natürlich nicht besonders zuversichtlich.«

In den Augen des scheidenden CGT-Vorsitzenden, Philippe Martinez, ist die Spannung raus: »Sie bleiben hartnäckig dabei – ich wäge meine Worte ab – zu sagen, dass man bis 65 arbeiten muss«, sagte der Generalsekretär der CGT und ironisierte das »Geschenk«, das der Bevölkerung wenige Tage vor den Weihnachtsfeiertagen gemacht werden soll. »Die Messe ist gelesen, Emmanuel Macron will auf Konfrontationskurs gehen«, sagte François Hommeril, der Vorsitzende der CFE-CGC, gegenüber Le Monde. Sein Kollege von der CFTC, Cyril Chabanier, ergänzt: »Sie scheinen in der Frage der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters verschlossen zu sein.«

Die Anfang Oktober eingeleiteten Beratungen zwischen der Exekutive und den Sozialpartnern über die Reform nähern sich ihrem Ende. »Es gab keinen wirklichen Willen, den Gewerkschaften zuzuhören«, meint Michel Beaugas, Gewerkschaftssekretär der FO, der von einem Austausch unter »Zwang« spricht, der es der Regierung vor allem ermöglicht habe, »zu zeigen, dass sie nicht mit Gewalt durchkommt«.

Die CFDT glaubt noch immer, dass die Gespräche in Bezug auf die Vermeidung von Verschleiß und die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer*innen »interessante« Leitlinien zu Tage bringen könnten. Die CFDT hatte sich intensiv mit diesen beiden Themen beschäftigt und hoffte, dass es »konkrete« Ankündigungen geben würde. Am 2. Januar will Regierungschefin Elisabeth Borne noch einmal mit den Gewerkschaften reden.

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