18. April 2013 Heiner Fechner: Venezuelas Opposition eskaliert die Gewalt
Nicolas Maduro gewinnt nur knapp
Nicolas Maduro, Kandidat des linken Wahlbündnisses sowie der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), hat die Präsidentschaftswahlen am 14. April 2013 knapp mit 50,75% der Stimmen gegenüber 48,98% des bürgerlichen Gegenkandidaten Henrique Capriles gewonnen. Die Wahlen waren nötig geworden, nachdem der erst im Oktober 2012 wiedergewählte Präsident Hugo Chávez an den Folgen seiner Krebserkrankung am 5. März gestorben war.
Der Wahlausgang war deutlich knapper als erwartet. Die verschiedenen großen Umfrageinstitute des Landes hatten bis eine Woche vor den Wahlen einen Vorsprung zwischen 7% und 15% der Stimmen vorhergesagt. Am Ende waren es rund 260.000 Stimmen, die über den Wahlsieg Maduros entschieden. Die Aufholjagd des Oppositionsführers Capriles hatte damit eine ähnliche Größenordnung wie schon zwischen August und Oktober 2012, als Capriles einen Umfragerückstand von gut 30 Prozentpunkten im August auf letztlich 11 Punkte reduzieren konnte.
Auch wenn Oppositionsanhänger insbesondere Capriles von Wahlmanipulationen sprechen und umgekehrt viele Chavistas ihrerseits, infolge eigener interner Prognosen aufgrund von Befragungen am Wahltag von einem Vorsprung von fünf bis zehn Punkten ausgehend, eine Fälschung durch Oppositionsleute vermuten: Das Wahlsystem in Venezuela ist nach Aussagen von Ex-US-Präsident Jimmy Carter, nach 92 internationalen Wahlbeobachtungen mit seiner Stiftung (unverdächtiger) Experte in dieser Sache, das sicherste der Welt und eine Manipulation nach Aussage der internationalen WahlbegleiterInnen der lateinamerikanischen Wahlorganisationen und der UNASUR praktisch ausgeschlossen.
Regionale Unterschiede
Ein differenziertes Bild des Ergebnisses bringt ein Blick in die Regionen des Landes. Chávez hatte bei Präsidentschaftswahlen stets alle oder fast alle Staaten gewonnen. Maduro dagegen musste acht von 23 Bundesstaaten verloren geben. Angesichts der Schwächen des Chavismus in diesen Bundesstaaten ist das allerdings plausibel. Drei dieser Staaten (Táchira, Zulia und Nueva Esparta) waren bis Dezember oppositionell regiert und nicht zuletzt wegen schwacher Oppositionskandidaten einerseits, wenig polarisierender, d.h. wenig dezidiert linker Gegenkandidaten andererseits an den Chavismus gefallen.
Zwei Staaten (Lara, Miranda) sind ohnehin oppositionell regiert. Und in drei weiteren Staaten (Mérida, Bolívar und Anzoátegui) waren die regionalen Infrastruktur- und ökonomischen Politiken des Chavismus in den letzten Jahren so umstritten, dass bereits seit langem ein Wechsel zur Opposition befürchtet worden war. Umgekehrt gelang in allen anderen Staaten, in denen der Chavismus konsolidiert ist, ein Sieg Maduros – ein Indiz, dass vor allem die jeweilige Stärke des sozialistischen Projektes eine große Rolle für den Wahlausgang spielte. Bei Chávez dagegen war das persönliche Profil, der hohe Bekanntheitsgrad des Präsidenten, der seit Mitte der 1990er Jahre mehrfach alle Winkel des Landes bereist hatte, von größerer Bedeutung.
Ungleiche Voraussetzungen
Der Wahlkampf war für Maduro alles andere als ein Spaziergang. Zwar war die Stimmung im Land stark durch den Tod Chávez und einen entsprechenden Bonus für dessen Wunschnachfolger geprägt. Andererseits darf aber nicht unterschlagen werden, dass Präsidentschaftswahlen in Lateinamerika in erheblichem Umfang Persönlichkeitswahlen sind und Kenntnis der KandidatInnen durch die WählerInnen, aber auch das in der Öffentlichkeit erworbene Charisma eine Rolle spielen. Hier hatte der langjährige Außenminister Maduro, der erst im Herbst letzten Jahres zum Vizepräsidenten ernannt worden war, keinen Vorteil. Er hatte sich als loyaler Gefolgsmann von Chávez zuvor kaum ein eigenes öffentliches Profil erkämpft, sondern eher aus dem Hintergrund gewirkt.
Capriles dagegen, Sprössling einer der reichsten Familien des Landes mit eigener Medienkette, hatte als Gouverneur des bevölkerungsreichen, u.a. Teile der Hauptstadtregion umfassenden Bundesstaates Miranda, seinen Präsidentschaftswahlkampf de facto schon zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen begonnen und die Regionen bereist, insbesondere als Gegenkandidat von Chávez bei den Wahlen im Oktober 2012.
Zwar hatte Maduro bei den staatlichen Medien einen ganz deutlichen Vorteil gegenüber Capriles. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die staatlichen Medien nur eine Nische des Medienmarktes bedienen; der Großteil der Marktanteile liegt in der Hand von Medienkonzernen, die der eigentlich zersplitterten Opposition nicht nur nahe stehen, sondern diese seit dem medienkonzertierten Putsch 2002 immer wieder angeführt und zusammengebracht haben.
Die staatlichen Sender kann man dabei hinsichtlich ihrer Programmgestaltung und ZuschauerInnenzahl am ehesten mit Phoenix und Arte vergleichen. Die drei größten Zeitungen des Landes gehören dem Vater von Capriles (Ultimas Noticias) oder sind konsequent oppositionell-rechtslastig (El Nacional, El Universal).
Schmutziger Wahlkampf der Opposition
Die Opposition hat, je nach Perspektive, geschickt oder einfach widerlich Wahlkampf betrieben. Inhaltlich hat sie sich als bessere sozialistische Alternative verortet: Die ökonomischen Fehler der Regierung machen wir nicht, in der Sozialpolitik dagegen machen wir alles genau so wie Chávez, nur besser. Dabei hat sie Symbole des Chavismus bis zur Unkenntlichkeit übernommen – ihre Wahlkampfzentrale nannte sich »Comando Simón Bolívar«, Embleme der Regierungsinstitutionen wurden leicht abgewandelt übernommen.
Taktisch hat sie im Übrigen vor allem durch schmutzige Kampagnen gegen Maduro gepunktet, die auch international gewirkt haben. Es wurde ein Bild entworfen, das den Gewerkschafter und ehemaligen Busfahrer als unfähig, nicht qualifiziert und aufgrund der Tätigkeit als Außenminister auch nicht mit den Problemen des Landes vertraut darstellte. Und ganz »zufällig« kam es, wie schon beim Parlamentswahlkampf 2010 und den Präsidentschaftswahlen 2012, zu größeren Stromausfällen immer in den Staaten, in denen Maduro gerade auftrat oder aufgetreten war, wobei sich neben der Sabotage an Transformatoren vor allem brennende Reifenstapel unter Hochspannungsleitungen als effektiv erwiesen.
Seit Anfang Januar, als immer deutlicher wurde, dass Neuwahlen bevorstehen, leerten sich wie durch Wunderhand viele Einkaufsregale der privaten Supermärkte; gerade Grundnahrungsnahrungsmittel wie Zucker und Milch, aber auch Bedarfsmittel wie Toilettenpapier, Tampons und Binden waren, wie stets in politischen Krisensituationen der letzten Jahre, außerhalb staatlicher Einkaufsketten kaum zu bekommen. Und auch die staatlichen Läden wurden, insbesondere von StraßenhändlerInnen, vielfach leergekauft, um die Produkte dann zu Schwarzmarktpreisen weiter zu veräußern.
Maduro: Konzentration auf Defizite des Chavismus
Maduro wiederum machte einen Wahlkampf, der sich zugleich an die AnhängerInnen des Chavismus wie auch an bislang Oppositionelle wendete und Kontinuität, Vertiefung und Erweiterung des politischen Prozesses versprach. Ausgangspunkt war das Erbe Chávez´, der im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand. Im Übrigen lag das Augenmerk auf den drängendsten Problemen des Landes, darunter die hohe (Gewalt-)Kriminalitätsrate, Probleme der Stromversorgung, Strukturprobleme vieler (staatlicher) Industrieunternehmen und fehlende Industrialisierung. Indirekt könnte man der Regierung vorwerfen, so das Augenmerk auf ihre eigenen Schwächen gelegt zu haben. Das von Chávez vorgelegte Wahlprogramm von 2012 übernahm Maduro im Übrigen und konkretisierte es an Schlüsselpunkten.
Auch wenn Chávez Maduro zu seinem Nachfolger erklärt hatte, aufgebaut im engeren Sinne hatte er ihn zwar nach »innen« durch die fast zwei Jahrzehnte dauernde tägliche Zusammenarbeit, nicht aber in die Gesellschaft hinein. Maduro, Mitglied des intimen Zirkels um Chávez seit Mitte der 1990er Jahre, Mitglied der verfassunggebenden Versammlung 1999 und Abgeordneter zwischen 1998 und 2006, mehrjähriger Parlamentspräsident und anschließend Außenminister, kennt den Apparat und die Politik des Chavismus wie kaum ein zweiter. Ihn trifft aber das Erbe Chávez insofern, als dass die Bevölkerung stets zwischen dem »guten«, basisdemokratischen Chávez und der unfähigen, bürokratischen Regierung unterschieden hatte – Maduro ist nun zunächst Vertreter der letzteren.
Wichtige ökonomische Entscheidungen zum falschen Zeitpunkt
Zwei währungspolitische Entscheidungen spielten der Opposition besonders in die Hände. Anfang Februar, einen Monat vor Chávez Tod, wurde eine Abwertung der Landeswährung Bolívar gegenüber dem US-Dollar in Höhe von fast 50% beschlossen. Aufgrund der hohen Importquote löste dies einen erheblichen Inflationsschub aus, einen erheblichen Kaufkraftverlust, der gerade in der ArbeiterInnenbewegung auf starke Kritik stieß.
Kurze Zeit später wurden erhebliche Einschränkungen des Zugangs zu US-Dollars beschlossen, um den Missbrauch des Systems zu beenden und einen alternativen Mechanismus einzuführen, der allerdings erst Wochen später verfügbar war. Damit wurde (oppositionellen) UnternehmerInnen ein gutes Argument zur Begründung der Versorgungsengpässe selbst in solchen Fällen in die Hand gegeben, in denen tatsächlich keine Engpässe bestanden.
Das in der deutschen Presse recht eindeutig gezeichnete Bild der venezolanischen Ökonomie und inneren Sicherheit bedarf dabei allerdings der Korrektur – wäre die Realität so, wie hier beschrieben, würde in Venezuela spätestens nach Chávez´ Tod kaum jemand auf die Idee kommen, die Linke dort an der Macht zu halten.
Venezuela hat jedoch nicht nur erhebliche Erfolge bei der Armutsbekämpfung aufzuweisen, beim Aufbau von Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, sondern gerade auch beim Aufbau einer neuen, menschenrechtsfreundlichen und universitär ausgebildeten Polizei, oder auch beim Auf- und Ausbau verstaatlichter Dienstleistungsunternehmen wie z.B. im Bereich Telekommunikation oder Banken. Die staatlichen Supermarktketten Mercal, Pdval und Abastos Bicentenario weisen alle Schwächen bürokratisch gesteuerter Dienstleistungsunternehmen auf wie lange Schlangen oder teils leere Regale. Allerdings ist einer der Gründe die starke Subventionierung der Lebensmittel in diesen Läden, um die Grundversorgung der ärmeren Bevölkerung sicherzustellen – wie auch einen gewissen Schutz vor Sabotage, die Venezuela 2002/03 während des UnternehmerInnenstreiks erlitten hatte.
Keine Antwort gefunden hat man bisher auf die seit den 1970er Jahren fast ununterbrochen zweistellige Inflation – ein strukturelles Problem, wie auch auf die chronische Überbewertung der Landeswährung als Resultat fester Wechselkurse zwecks Inflationsbekämpfung, resultierend in hohen Lohnstückkosten und struktureller Förderung von Importen. Die Inflationsbekämpfung durch Preiskontrollen treibt nicht zuletzt staatliche Unternehmen ständig an den Rand der Zahlungsunfähigkeit, mit der Konsequenz häufiger Streiks, fehlender Investitionen aus eigener Kraft sowie Produktions- und Produktivitätsschwächen.
Herausforderungen für die Regierung Maduro
Maduro steht vor einigen schweren Aufgaben, die durch das Wahlergebnis nicht leichter geworden sind. Dazu gehören u.a. eine Entscheidung über die Preiserhöhung für Benzin – die Benzinpreise sind seit Chávez´ Amtsübernahme eingefroren. Mittlerweile kostet eine Tankfüllung weniger als eine Flasche Wasser – ein jedenfalls auf Dauer kaum nachhaltiger Zustand.
Dringend ist auch eine große Steuerreform, um die Finanzbedürfnisse des Staates konjunkturunabhängiger zu machen, Pensions- und Kindergeldausbau zu bezahlen und mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, d.h. große Einkommen und Vermögen angemessen zu besteuern. Venezuela kann zwar mit gewachsenen Einnahmen aus dem Ölverkauf rechnen, hat aber auch (abgesehen von der Rohstoffbesteuerung) die niedrigsten Steuersätze Südamerikas und fördert so indirekt aufgrund hoher Liquidität nicht nur die Inflation, sondern vor allem die Flucht in den US-Dollar, wie auch die Kapitalkonzentration der Oberschicht.
Zu den zentralen Aufgaben gehört aber vor allem, Korruption und Ineffizienz der Regierung zu bekämpfen, die das Ansehen der Verwaltung seit jeher belasten. Eine große Verwaltungsreform gehört zu den schwierigsten Aufgaben, von der mehr als ein paar Leuchtturmprojekte wie z.B. bei der Metro von Caracas oder der staatlichen Pass- und Meldebehörde nicht erkennbar ist.
Die Opposition spielt mit dem Feuer
In der nächsten Zukunft gilt es aber vor allem, den sich anbahnenden Staatsstreich bzw. den drohenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Opposition folgt derzeit dem gleichen Muster wie 2002 vor dem Putsch, als die Position Chávez´ zwischenzeitig geschwächt war.
Capriles hatte seine WählerInnen gleich am Tag nach den Wahlen für abends auf die Straße bestellt, um den von ihm behaupteten Wahlsieg zu verteidigen und eine manuelle Neuauszählung der Stimmen einzufordern, nachdem er zuvor von der Präsidentin des Nationalen Wahlrates (CNE) aufgefordert worden war, bei Zweifeln zwecks Neuauszählung den hierfür gesetzlich vorgesehenen Rechtsweg zu beschreiten. Ein bekannter Oppositionsjournalist hatte später Vermutungen geäußert, Wahlurnen seien in einem Ärztehaus von kubanischen ÄrztInnen versteckt worden.
Nachdem die Opposition vor den Wahlen eine Einbürgerung kubanischer ÄrztInnen und eine Weiterführung der Gesundheitsprogramme ebenso wie eine nationale Versöhnung versprochen hatte, standen bereits am ersten Abend nach den Wahlen die ersten Ärztehäuser wie auch Parteizentralen der PSUV in Flammen, mehrere Chavistas wurden bereits getötet.
Für die vor einigen Jahren gebildeten Anti-Putsch-Einheiten ist das die erste große Herausforderung. Die Opposition sieht derzeit, angesichts einer Regierung ohne Chávez und mit einem neuen noch wenig profilierten Präsidenten, die letzte Chance bis auf Weiteres, den Chavismus von der Macht zu vertreiben. Dass sie im Zweifel bereit ist, alle in Frage stehenden Mittel einzusetzen, hat sie bereits wiederholt bewiesen. Der Kampf um die Verteidigung der Demokratie ist noch nicht gewonnen. Die faschistische Fratze zeigt sich in erprobter lateinamerikanischer Tradition.
Heiner Fechner ist Jurist mit den Schwerpunkten Arbeits- und Gesellschaftsrecht und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Von ihm erschien im Heft 4-2013 von Sozialismus ein Nachruf auf Hugo Chávez: »Hasta siempre, Comandante!«