9. Juni 2016 Bernhard Sander: Der Kampf gegen das Arbeitsgesetz in Frankreich
Notstand oder Hängepartie?
Der französische Ministerpräsident Manuel Valls verdreht die Tatsachen: »Die CGT macht nicht die Gesetze.« Das wollen die Gewerkschaften auch nicht, sie wollen ein Gesetz verhindern, das die Regierung mithilfe von Notverordnungen durchsetzen will.
Das Arbeitsgesetz stellt den bisher größten Angriff auf die Sozialordnung Frankreichs dar. Kündigungen werden erleichtert, Wochen-Arbeitszeiten flexibilisiert und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften für eine Branche untergraben. Vor allem die Möglichkeit, künftig über Arbeitszeit und die Bezahlung von Überstunden auf Unternehmens- statt auf Branchenebene zu verhandeln, gilt für die Regierung Valls als »Herzstück« und ist bei aller angedeuteten Konzessionsbereitschaft »unverhandelbar«. In anderen Punkten (Sozialplanprämie, vorrübergehende Ausdehnung der Wochenarbeitszeit) hat man Zugeständnisse gemacht.
Da die sieben Gewerkschaftsbünde bereits jetzt über keinen besonders hohen Organisationsgrad verfügen (in der Summe 20% im Öffentlichen Dienst und 9% im Privatsektor), verschiebt der Gesetzentwurf ihre Verhandlungsposition nachhaltig zugunsten der Unternehmen mit erpressbaren Belegschaften. Die Gewerkschaften versuchen seit drei Monaten gegen das Gesetz zu mobilisieren, doch ließ ihre Präsenz auf den Straßen zuletzt immer mehr nach.
Die Arbeitslosigkeit sinkt seit zwei Monaten wieder und die Wachstumsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden nach oben korrigiert. Es gibt keinen weiteren Mahnbrief aus Brüssel, die Fiskaldisziplin zu verschärfen. Die Mobilisierung der Gewerkschaftsbünde sank zuletzt, weil sie uneins sind und die CFDT meint, die Wucht der Reformen in Verhandlungen abgeschwächt zu haben. Aber ihre Verhandlungsmacht ist immer nur so groß, wie CGT, FO und andere Arbeitnehmerorganisationen kampfentschlossen agieren. Der Arbeitnehmerschaft fehlt allerdings auch eine Perspektive, wie der Abbau von Industriearbeitsplätzen, der sich mit der Großen Krise nach 2008 beschleunigt hat, wieder umgekehrt oder zumindest gestoppt werden kann.
Die CGT setzt in dieser Situation auf eine Strategie »Klasse statt Masse« und verstärkt dort den Druck, wo sie eine gesamte Branche treffen kann und wo die Auswirkungen am spürbarsten sind. Die acht Großraffinerien wurden blockiert, so dass etwa ein Drittel der Tankstellen Leerstand meldeten. Die Blockaden sollen die Anlieferung von Rohöl und den Abtransport der Raffinade-Produkte verhindern, da die Prozesse selbst stark automatisiert sind und damit zeitweilig unter der Aufsicht von verbliebenen Führungskräften usw. ablaufen können. Derzeit muss etwa jede fünfte Tankstelle eine Zapfsäule schließen. Die Regierung pumpt aus der nationalen Notfallreserve die fehlenden Kontingente nach. Die Kraftstoffpreise steigen dennoch.
Es darf gegen ein Gesetz gestreikt (anders als in Deutschland), aber es darf nicht blockiert werden; daher setzte die Regierung die bewaffnete kasernierte Nationale Polizei als Blockadebrecher gegen die Gewerkschaften ein. In 16 der 19 Kraftwerksstandorte haben die Belegschaften ebenfalls den Streik beschlossen. Es gibt keine Streikkassen, daher wird auf den Vollversammlungen zu Schichtbeginn über die Fortsetzung des Streiks diskutiert und abgestimmt. Die Eisenbahn, die bereits einen Branchentarifkonflikt austrägt, wird ebenfalls bestreikt, allerdings nur mit mäßigem Erfolg (drei von vier Hochgeschwindigkeitszügen und zwei von drei Regionalbahnen fahren). (Öl-)Häfen und andere haben sich angeschlossen. Le Monde und weitere Zeitungen wurden für einen Tag bestreikt, nachdem sie sich weigerten, eine Erklärung des CGT-Vorsitzenden abzudrucken.
Der seit November verhängte Notstand verschärft die Stimmungslage, obwohl die Eskalation der Gewerkschaftskämpfe bisher davon nicht behindert wird. Der entsprechende Verfassungsparagraph hält Versammlungsverbote, nächtliche Hausdurchsuchungen, wochenlange Untersuchungshaft und dergleichen Maßnahmen bereit (und praktiziert sie gegen den islamischen Teil der Bevölkerung weiter).
Die Frage des Aktionstages am 26. Mai war, ob die gewerkschaftliche Strategie wieder größere Menschenmengen als davor auf die Straße bringen würde. Zustimmung ist vorhanden. Zwei Drittel aller befragten Franzosen halten die Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz für gerechtfertigt. Nicht die Gewerkschaften handelten verantwortungslos, sondern die Regierung trage allein die Schuld. In Kreisen des Front National hört man ebenfalls Sympathien. »Als die Araber unsere Autos angezündet haben (2005), ließ die Regierung die Armee in der Kaserne. Jetzt ruft man sie zur Räumung der Blockaden.« Marine Le Pen erklärt das Gesetz zu einem »Diktat aus Brüssel«.
Der Kampf ist auch ein Kampf um Demokratie. Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez kritisiert, dass der Gesetzentwurf schon bei seiner Erarbeitung mehr mit der Presse diskutiert worden sei als mit der ganzen Breite der Gewerkschaftsbewegung. Der Notverordnungsparagraph 49.3 der Verfassung setzt die Rechte des Parlaments außer Kraft, insofern streikt die Gewerkschaft auch für die demokratischen Rechte der Volksvertretung.
Der Protest ist dennoch weit davon entfernt, dass aus der Wut eine revolutionäre Stimmung würde. Nach Angaben des Innenministeriums waren am 26.5. landesweit 153.000 Menschen unterwegs (gegenüber 128.000 am Aktionstag 19.5.), und die Gewerkschaften selbst zählten 300.000 Teilnehmende (gegenüber 400.000). Eine journalistische Redensart besagt, dass sich eine französische Regierung bei einer Million Demonstranten beginnt, sich Sorgen zu machen. Aber auch die drei Millionen gegen Sarkozy konnten 2010 letzten Endes die Renten»reform« zwar abschwächen, jedoch nicht verhindern.
Zudem kam es am Rande der Protestzüge zu Randale, Sachbeschädigung und polizeilicher Körperverletzung. Ein Blockierer wurde von einem Autofahrer tödlich verletzt. In den Internet-Medien kursieren Videos von Gewalttätigkeiten, die zum Teil Jahre zurückliegen. Zwar gab es schon gewalttätigere Proteste, aber diesmal haben sie die besondere Aufmerksamkeit der Regierung, die sich seit einiger Zeit bemüht, sozialen Widerstand auf diese Weise zu diskreditieren. Die Flucht des Air France-Personalvorstands vor aufgebrachten MitarbeiterInnen markierte den Stimmungsumschwung.
Hinter den Kulissen sind jedoch die Minister und führenden PS-Funktionäre dabei, den Spielraum für weitere Kompromisse auszuloten. Dies löst auf Seiten der Unternehmer Unruhe aus, da schon die bisherigen Streikausfälle in ihren Augen zu teuer für die bisher erreichten Reformen sind.
Wenn auch die Gewerkschaften es nicht wirklich wissen, so hat ihr Kampf gegen das Gesetz der Arbeitsministerin Myriam El Khomri durchaus eine europäische Bedeutung. Noch immer halten die Regierungen der Nationalstaaten und die EU-Kommission an dem Ziel fest, Europa zur wirtschaftlich stärksten und wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen. Sollte sich die »Reform-Agenda« im ökonomisch zweitstärksten EU-Land durchsetzen, beginnt europaweit eine neue Runde von Sozialabbau, Steuererleichterungen, Deregulierung von sozialen und ökologischen Standards (mit oder ohne TTIP, mit oder ohne Euro-Gruppe) – die auch auf das wirtschaftlich stärkste Land Deutschland ausstrahlen dürfte.
Trotz oder wegen der Gewalttätigkeiten der eingesetzten Polizei-Einheiten sinkt die öffentliche Zustimmung zu den gewerkschaftlichen Protesten allmählich. Derzeit streiken die Fluglotsen, die Raffinerie-Beschäftigten und die Eisenbahner. Da letztere wegen einer Änderung der Unternehmensstruktur verhandeln wollen, steht diese Auseinandersetzung nur bedingt im Zusammenhang mit dem El Khomri-Gesetz. Das vorliegende Ergebnis wird wohl von der CFDT unterschrieben, während die relativ starke Basisgewerkschaft SUD weiter streiken will. Einzelne Belegschaften schalten sich ein: Fähren, Flughafenmannschaften, Nestlé usw. Aber ein qualitatives Mehr an Bewegung bringt das nicht.
Für die PS-Regierung spitzt sich die Lage zu, wenn mit der Fußball-Europameisterschaft größere Touristenströme ins Land kommen und sich an den Verkehrsknotenpunkten stauen. Hinzu kommt, dass sich die Hochwasserlage in einigen Regionen zuspitzt. Doch scheint von Einlenken nicht mehr die Rede, seit der Ministerpräsident kategorisch erklärt hat, an der Einschränkung des Verhandlungsmandats (Artikel 2 des Gesetzes) werde es keine Änderungen geben.
Mit einem berühmten Zitat des einstigen Kommunistenchefs Maurice Thorez appellierte Staatspräsident François Hollande an den Verantwortungssinn der CGT-Gewerkschaft: »Man muss es verstehen, einen Streik zu beenden.« Die CGT, die die Rücknahme der Arbeitsmarktreform verlangt, antwortete postwendend, der Konflikt sei zu Ende, wenn ihre Forderung erfüllt werde.