21. Januar 2022 Stephanie Odenwald: Eine Würdigung anlässlich des 20. Todestages
Pierre Bourdieus Spätwerk »Die männliche Herrschaft«
Am 23. Januar jährt sich der Todestag von Pierre Bourdieu zum zwanzigsten Mal. Der französische Soziologe hat durch seine herausragenden Studien und Analysen nicht nur die sozialwissenschaftliche Forschung bereichert, sondern auch aktiv die sozialen Bewegungen gegen den Neoliberalismus unterstützt.[1]
Ich nehme den Jahrestag zum Anlass für eine Würdigung eines seiner letzten Werke »Die männliche Herrschaft«,[2] in dem er sich für eine Neuorientierung, ja »Revolution« bei der Untersuchung der Geschlechtertrennung und ihrer Folgen ausspricht.
Pierre Bourdieu weist mit ausdrücklicher Wertschätzung darauf hin, was durch die Frauenbewegung thematisiert und erkämpft worden ist, gleichzeitig bezieht er sich kritisch auf einen bestimmten feministischen Diskurs im ausgehenden 20. Jahrhundert, der sich auf den häuslichen Bereich als sichtbarsten Ausdruck patriarchalischer Herrschaftsverhältnisse konzentriert habe. Im Gegensatz dazu formuliert er seine These, dass vor allem durch solche Instanzen wie Schule, Staat, Kirche Herrschaftsprinzipien entwickelt und aufgezwungen worden seien, die langfristige Wirkung hätten. Wenn vorrangig die geschichtlichen Mechanismen und Institutionen zum Feld der Untersuchung würden, eröffne sich »ein riesiges Aktionsfeld für feministische Kämpfe« (S. 13).
Bourdieu hat mit seiner Kritik einen bestimmten Strang der Frauen- und Geschlechterforschung angesprochen, worauf zum Teil harsch reagiert wurde. Sicher ist die Auseinandersetzung mit staatlichen Institutionen, mit Kirche und Schule als Bewahrer der überlieferten Geschlechterordnung in den 1990er Jahren keineswegs neu gewesen. Seitdem hat sich eine breite Auseinandersetzung mit staatlichen Dienstleistungen in der Frauenbewegung entwickelt, wie die intensive Beschäftigung mit dem Care-Sektor. Aktuell gilt: Auch wenn in der Corona-Pandemie die häusliche Arbeitsteilung und Doppelbelastung der Frauen häufiges Thema ist, wird gleichzeitig deutlich, wie sehr die private Situation von öffentlichen Dienstleistungen abhängt und deren Ausbau eine Voraussetzung für gleichberechtigtes Zusammenleben ist.
Gerade weil im Zuge des Neoliberalismus staatliche Aufgaben abgebaut wurden, wogegen Bourdieu immer wieder Stellung genommen hat, gibt es eine gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit für die Unzulänglichkeiten von Institutionen wie Schule, Kita, Universitäten, Care-Einrichtungen (Krankenhäuser, Pflege- und Altenheime etc.), alles Orte, die geschlechtsspezifisch geprägt sind. Gewerkschaftliche Kämpfe haben in diesen Bereichen stattgefunden, die sich gegen niedrige Löhne, unzumutbare Arbeitsbedingungen, prekäre Arbeit und gegen das Nichtgenügen gemessen an heutigen Ansprüchen richteten. So ist für Deutschland u.a. der schleppende Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen zu kritisieren, wie auch die Personalnot in Krankenhäusern und Altenpflege bis hin zu den Defiziten der öffentlichen Verwaltung mit ihren vielfältigen Service-Aufgaben für Bürger*innen. Allerdings wurden vielerorts Anti-Diskriminierungsgesetze geschaffen und Gleichstellung institutionell abgesichert, deren Umsetzung jedoch klippenreich ist. Sehr berechtigt warnt Bourdieu davor, dass die sichtbaren Veränderungen der Situation der Frauen das Fortbestehen unsichtbarer Herrschaftsstrukturen verdecken könnten.
Wie kam es zu diesem Spätwerk Bourdieus?
In seinem Vorwort schreibt Bourdieu, dass er sich schon immer über das »paradox der doxa« gewundert hat. Er meint damit die Selbstverständlichkeit, ja fast den Automatismus, wie sich die Menschen der herrschenden Ordnung unterwerfen. »Ich habe auch immer in der männlichen Herrschaft und in der Art und Weise, wie sie aufgezwungen und erduldet wird, das Beispiel schlechthin für diese paradoxe Unterwerfung gesehen, die ein Effekt dessen ist, was ich symbolische Gewalt nenne.« (S. 8) Es handele sich um eine »sanfte, für ihr Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im Wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt wird.« (Ebd.)
Gerade weil diese soziale Beziehung so gewöhnlich sei, biete sie Gelegenheit, »die Logik einer Herrschaft zu erfassen die im Namen eines symbolischen Prinzips ausgeübt wird, das der Herrschende wie der Beherrschte kennen und anerkennen« (ebd.). Wie macht sich das bemerkbar? Bourdieu nennt Sprache/Aussprache, Lebensstil/Denk-, Sprech-, Handlungsweise, in einem allgemeineren Sinn: distinktive Eigenschaften, Emblem, Stigma, bei dem die Hautfarbe symbolisch am wirksamsten sei. Er geht davon aus, dass die gesellschaftliche Konstruktion der Geschlechterteilung naturalisiert wird, also als durch biologische Voraussetzungen begründet gesehen wird.
Sein Vorhaben ist, das Paradoxe sichtbar zu machen, die Prozesse zu erforschen, »die für die Verwandlung der Geschichte in Natur, des kulturell Willkürlichen in Natürliches verantwortlich sind«. (ebd.) Er verweist auf die von ihm hoch geschätzte Virginia Woolf, die in ihrem Werk die »hypnotische Macht der Herrschaft« beschreibt. Die literarisch beschriebene Ausgrenzung der Frauen bringt sie mit den Ritualen einer archaischen Gesellschaft in Verbindung, so in ihrer Erzählung »Drei Guineen«. Um wie sie die Tiefenschichten sozialer Interaktion zu erfassen, hält Bourdieu es für nötig, die trügerische Alternative von »Materiellem« und »Spirituellem« bzw. »Ideellem« zu vermeiden, eine »materialistische Analyse der Ökonomie der symbolischen Güter« vorzunehmen, woran er seit vielen Jahren arbeitete. Erforderlich sei, die subjektiven Erfahrungen von Herrschaftsverhältnissen als objektive Tatsache in die Theorie aufzunehmen. Laut Bourdieu bedarf es eines besonderen Gebrauchs der Ethnologie, um das Projekt »einer wissenschaftlichen Objektivierung dieser mystischen Operation, deren Resultat die Geschlechterteilung ist« (S. 10) zu realisieren. So untersucht er die traditionelle kabylische Gesellschaft »eine durch und durch nach dem androzentrischen Prinzip organisierte Gesellschaft« (ebd.). Damit knüpft er an seine ethnologischen Untersuchungen in Algerien aus den 1950er Jahren an, die seinem Militärdienst in Algerien folgten.
Zur Sozioanalyse des andropozentrisch Unbewussten
Eine solche objektive Sozioanalyse sei zugleich ein Instrument für eine »objektive Archäologie unseres Unbewussten«. Er grenzt sich damit von Analysen der Geschlechterverhältnisse à la Foucault ab, die sich auf lang zurück liegende Gesellschaften, wie das alte Griechenland und dessen Schriften beziehen, die in der Entwicklung der Psychoanalyse eine Rolle spielen würden. Nichts könne die unmittelbare Wahrnehmung einer noch bestehenden archaischen Struktur ersetzen. Ohnehin sei unsere europäische Tradition, insbesondere die mediterrane durch heute noch vorfindbare Lebensweisen und Gemeinwesen wie eben in der Kabylei beeinflusst, wenn auch nicht mehr durchgängig und zusammenhängend, sondern nur noch partiell. Da wir zu unserer eigenen Tradition ein »Verhältnis trügerischer Vertrautheit« (S. 11) hätten, sei dieser Umweg über eine fremdartige Tradition erhellend.
»Da wir, Männer und Frauen, Teil des Gegenstandsbereichs sind, den wir zu erfassen suchen, haben wir in Form unbewusster Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata die historischen Strukturen der männlichen Ordnung verinnerlicht. Wir laufen daher Gefahr, dass wir zur Erklärung der männlichen Herrschaft auf Denkweisen zurückgreifen, die selbst das Produkt dieser Herrschaft sind. Aus diesem Zirkel herauszukommen, dürfen wir nur unter der Bedingung hoffen, dass wir eine für die Objektivierung des Gegenstands der wissenschaftlichen Objektivierung brauchbare Strategie finden.« (S. 14)
Sehen wir uns diese Strategie an. Wie in einem Laborversuch wird das Leben der Bergbauern in der Kabylei, genannt Berber, untersucht. Diese hätten traditionelle Strukturen bewahrt, geschützt »durch die relativ ungebrochene praktische Kohärenz von Verhaltensweisen und Diskursen«. Vorzufinden sei »eine paradigmatische Form der ›phallo-narzisstischen‹ Sicht und androzentrischen Kosmologie« (S. 15). Bourdieu beschreibt ein sich in der Sprache und Ritualen ausdrückendes Weltverständnis, das eng mit dem weiblichen und männlichen Körper verbunden ist, und das eine anscheinend naturgegebene männliche und weibliche Arbeitsteilung generiert, durch die Tätigkeiten strikt verteilt sind. Das Draußen, die Versammlungen, sind den Männern vorbehalten, die Sorge für das Haus im Wesentlichen den Frauen (außer der Feuerstelle!). Sie gelten als prinzipiell unterlegenes Geschlecht, ihre Unterordnung unter die Herrschaft des Mannes muss nicht legitimiert werden, sondern ergibt sich quasi aus der Natur der Dinge. Die anschauliche Wiedergabe dieser archaischen Lebensweise und Kultur soll hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden, sondern kann im Original nachgelesen werden.
Symbolische Macht und symbolische Revolution
Bourdieus ethnologische Untersuchung dient dazu, den Mythos des ewig Weiblichen und ewig Männlichen zu hinterfragen. Er analysiert die Geschlechterteilung und symbolische Herrschaft als Ergebnis einer unablässigen gesellschaftlichen Reproduktionsarbeit, die sich prägend für die Menschen auswirkt, somit in ihren Habitus eingeht. Damit sind die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata gemeint, die sich ohne bewusste Entscheidung und Willenskontrolle bilden. »Die symbolische Kraft ist eine Form von Macht, die jenseits aller physischen Zwänge unmittelbar und wie durch Magie auf die Körper ausgeübt wird. Wirkung erzielt diese Magie aber nur, indem sie sich auf Dispositionen stützt, die wie Triebfedern in die Tiefe des Körpers eingelassen sind.« (S. 71)
Es sei völlig illusorisch daran zu glauben, dass die symbolische Gewalt allein mit den Waffen des Bewusstseins und Willens besiegt werden könne, gerade weil sie im Inneren des Körpers wirksam sei. Auch könne sie den Untergang ihrer gesellschaftlichen Produktionsbedingungen für lange Zeit überdauern. Denn nachdem Frauen schon lange Rechte errungen haben wie das Wahlrecht, Zugang zu Bildung und beruflichen Tätigkeiten, trete an die Stelle von ausdrücklicher Ausgrenzung der Selbstausschluss oder die Annahme der sogenannten Berufung, wie die weitverbreitete Vorstellung, dass Mädchen keine Berufung für naturwissenschaftliche Fächer hätten.
Als Schlussfolgerung für die von der feministischen Bewegung geforderte symbolische Revolution formuliert Bourdieu, dass sie sich nicht auf eine bloße Umkehrung des Willens und des Bewusstseins beschränken könne. »Infolgedessen kann man eine Aufkündigung des Einverständnisses der Opfer der symbolischen Gewalt mit den Herrschenden allein von einer radikalen Umgestaltung der Produktionsbedingungen jener Dispositionen erwarten, die die Beherrschten dazu bringen, den Herrschenden und sich selbst gegenüber den Standpunkt der Herrschenden einzunehmen.« (S.77)
Als Opfer der symbolischen Gewalt sieht Bourdieu im Übrigen auch die Männer, deren Privilegien eine Falle seien, nämlich in einer permanenten, bisweilen geradezu absurden Anspannung gefangen zu sein, ihre männliche Leistungskraft beweisen zu müssen. Er nennt es eine »Bürde«! Insofern ist die notwendige Umgestaltung der Produktionsbedingungen, welche unablässig und hartnäckig weibliche/männliche Dispositionen erzeugen, ein gemeinsames Interesse, zugunsten der eigenen Lebensqualität und einer diskriminierungsfreien Struktur der sozialen Welt. Betroffen sind all die Institutionen, die sich auf unser Leben auswirken. Bourdieu verweist besonders darauf, dass in den Bildungsinstitutionen umgesteuert werden muss, da hier immer wieder reproduziert werde, wozu angeblich Mädchen und Jungen besonders begabt sind. Diese von ihm beschriebenen Weichenstellungen haben nach wie vor weitreichende Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg, auf gelingende oder erschwerte Emanzipation von Frauen und Männern.
Zum Thema Emanzipation gehört auch, dass Bourdieu sich im Anhang zu seinem Text zur Schwulen- und Lesbenbewegung äußert, die durch ihre Existenz und Handlungen, sowie von ihr erzeugten Diskurse und Theorien für die Sozialwissenschaften bedeutend seien. Durch sie würde die bestehende symbolische Ordnung zutiefst in Frage gestellt. Das würde allerdings relativiert, wenn ein Teil der Bewegung vom Staat fordere, dass die herkömmliche Ordnung (Eheschließung usw.) auch für sie gelte. Bourdieu empfahl diesen Akteurinnen anlässlich einer Veranstaltung, sich »in den Dienst der sozialen Bewegung als ganzer« zu stellen, und sich nicht in eine exzentrische ghettogleiche Ecke drängen zu lassen. Bezogen auf die aktuelle polemische Diskussion um Identitätspolitik sei an diese Orientierung erinnert. Bourdieus Text ist vor allem hilfreich, die Wirkung symbolischer Herrschaft zu verstehen und dies in eine Strategie der gesellschaftlichen Veränderung einzubeziehen.
Stephanie Odenwald war im GEW Hauptvorstand zuständig für Berufliche Bildung und Weiterbildung. Sie arbeitet in den Sozialistischen Studiengruppen (SOST) mit.
Anmerkungen
[1] Sein Wirken wurde im November 2002 durch eine Veranstaltungsreihe der Arbeitnehmerkammer Bremen in Kooperation mit dem französischen Kulturinstitut gewürdigt. Die dort gehaltenen Beiträge wurden – ergänzt um weitere Artikel – in dem von Margareta Steinrücke herausgegebenen im VSA: Verlag 2004 erschienenen Band »Pierre Bourdieu. Politisches Forschen, Denken und Eingreifen« dokumentiert. Die Herausgeberin charakterisiert in ihrem Vorwort das Werk und Auftreten Bourdieus: »Seine Kritik der Distinktion, der sozialen Abgrenzung als Mittel symbolischer Machtausübung, mit der er vielen von uns die Augen geöffnet hat für die alltäglichen subtilen Formen des Klassenkampfs auf der Ebene von Bildung, Geschmack, Konsum , hat auch immer sein persönliches Verhalten bestimmt: Er war bescheiden bis hin zur Schüchternheit, sensibel und mitfühlend für alle Formen von Erniedrigung und sozialer Scham, wütend und in Umsetzung dieser Wut arbeitswütig angesichts sozialen Unrechts.«
Der VSA: Verlag hatte nicht nur seinerzeit diesen Band veröffentlich, sondern durch die Publikation zahlreicher immer noch lieferbarer Texte von Pierre Bourdieu mit dazu beigetragen, sein Werk in Deutschland bekannt zu machen. Im Frühjahrsprogramm 2022 wird zudem der zunächst im Jahr 1991 erschienene Sammelband »Die Intellektuellen und die Macht« als ein »hellrotes Bändchen aus 50 Jahren Verlagsarbeit« neu aufgelegt.
[2] Pierre Bourdieu, La domination masculine, Liber, Paris 1998; die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel »Die männliche Herrschaft« 2005 bei Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005 (die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe). Der Beitrag von Irene Dölling »Männliche Herrschaft als paradigmatische Form der symbolischen Gewalt« in der in Anmerkung 1 genannten Dokumentation (dort S. 74ff.) befasst sich ebenfalls mit dieser Arbeit Bourdieus.