17. Oktober 2023 Holger Politt: Polen nach den Parlamentswahlen
PiS verliert Regierungsmehrheit, Oppositionsbogen gewinnt
Die am 15. Oktober 2023 abgehaltenen Parlamentswahlen in Polen haben ein klares Ergebnis hervorgebracht: Die bislang regierenden Nationalkonservativen um den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński kommen auf 35,4% der abgegebenen Stimmen und verlieren ihre Mehrheit im Sejm, der Abgeordnetenkammer.
Das Kaczyński-Lager bleibt zwar stärkste Partei, doch besteht keine realistische Aussicht, über Koalitionen mit anderen eine regierungsfähige Mehrheit im Sejm zusammenzubekommen. Die Rechtsaußenpartei Konfederacja (Konföderation) kommt auf lediglich 7,2% der abgegebenen Stimmen, was also rechnerisch ohne Wert bleibt.
Die drei Listen aus dem demokratischen Oppositionsbogen haben bereits vor den Wahlen erklärt, im Falle eines Wahlerfolgs eine neue Regierungskoalition zu bilden, ein Zusammengehen mit den Nationalkonservativen wurde strikt ausgeschlossen. Nun haben die liberal ausgerichtete Bürgerkoalition (KO) unter Donald Tusk mit 30,7%, das gemäßigt konservativ bis liberal ausgerichtete Parteienbündnis Trzecia Droga (Dritter Weg) mit 14,4% und die sozialdemokratisch bis linkalternativ ausgerichtete Lewica (Linke) mit 8,6% der abgegebenen Stimmen zusammengerechnet eine komfortable Mehrheit an Abgeordnetensitzen. Einer Regierungsbildung steht so gesehen nichts mehr im Weg.
Damit geht die acht Jahre währende Regierungszeit der Nationalkonservativen in Polen unweigerlich zu Ende, auch wenn erste Äußerungen im bisherigen Regierungslager anzeigen, wie schwer man sich tut mit dem Eingeständnis, abgewählt worden zu sein. In den regierungsseitig kontrollierten Medien klingt es doppeldeutig, heißt es dort doch, dass die Nationalkonservativen gewonnen hätten, die Opposition allerdings eine rechnerisch regierungsfähige Mehrheit habe. Insgeheim wird auf nationaldemokratischer Seite damit gerechnet, dass die Bildung einer Koalitionsregierung aus den drei recht unterschiedlichen Gruppierungen im demokratischen Oppositionsbogen scheitern wird.
»Verschlafe es nicht, sonst wirst du überstimmt.«
Wahlentscheidend war der hohe Mobilisierungsgrad. Die Wahlbeteiligung von 74,4% bewerten viele Beobachter*innen als ausgesprochen hoch (es gibt keine Briefwahl!), was zudem von der zugespitzten Polarisierung im politischen Leben des Landes zeuge. Die gewaltigen Demonstrationen zur Unterstützung des demokratischen Oppositionsbogens am 4. Juni dieses Jahres und zuletzt kurz vor dem Wahltag am 1. Oktober in Warschau hatten bereits gezeigt, dass die Nationalkonservativen in der Frage der Mobilisierung der eigenen Wählerpotenziale diesmal das Nachsehen haben könnten. Wählerwanderung zwischen den verfeindeten Lagern gab es keine, was allein den Ausschlag gab, war die Mobilisierung der eigenen Potenziale.
Bezeichnend ist, dass die Kaczyński-Partei in der Wählergruppe von 18 bis 29 Jahren mit knapp 15% der abgegebenen Stimmen abgeschlagen erst auf dem fünften Platz gelandet ist. Und regional blieb es bei der alten Teilung im Land, nur haben sich die Zahlenverhältnisse zugunsten der Opposition verschoben. Die nationalkonservativen Hochburgen bleiben die Wojewodschaften ganz im Osten und Südosten, wohingegen die an der Grenze zu Deutschland gelegenen Wojewodschaften für sie die schwächsten Werte aufweisen. Hier zog die im Wahlkampf eingebaute antideutsche Stimmungsmache am wenigsten. Oppositionsführer Tusk wurde als Gewährsmann deutscher Interessen verteufelt.
Ein gemeinsamer Nenner im demokratischen Oppositionsbogen war das eindeutige Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Auf der Brüsseler Bühne soll die Blockadehaltung der bisherigen Regierung, die sie in vielen Fragen zeigte, aufgegeben werden. Anders gesagt: Mit der Wahlniederlage der Kaczyński-Regierung hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán den wichtigsten Verbündeten in Brüssel verloren.
Nun liegt es an Staatspräsident Andrzej Duda, in den nächsten Wochen einen Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen. Der muss nicht an die stärkste Gruppierung gegeben werden, entscheidender sollte die Wahrscheinlichkeit sein, dass tatsächlich eine regierungsfähige Mehrheit gebildet wird. So empfehlen viele Beobachter*innen Duda den kürzeren Weg, denn die schwierige internationale Lage erfordere eine möglichst schnelle Regierungsbildung. Folgt Duda indes seinen nationalkonservativen Überzeugungen, wird er den Ball zunächst dem bisherigen Regierungslager zuspielen, was dieses nutzen wird, um, wie vielerorts zu hören ist, wertvolle Zeit zu schinden.
Holger Politt war Leiter des RLS-Regionalbüros Ostmitteleuropa in Warschau. Im VSA: Verlag erschien von ihm zuletzt gemeinsam mit Krzysztof Pilawski der Band Ein Krieg, der keiner sein sollte. Russlands Überfall auf die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn. Eine ausführliche Bewertung mit Hintergrundinformationen zur Situation in Polen wird in der Print-Ausgabe von Sozialismus.de im November erscheinen.