8. Dezember 2016 Klaus Bullan: Die soziale Spaltung in der Gesellschaft verschärft sich in der Schule
PISA 2015
15 Jahre ist es her, dass der PISA-Schock Deutschland erreicht hat. Vor PISA konnten die BildungspolitikerInnen dieses Landes noch von einer vermeintlichen Vormachtstellung des deutschen Schulsystems reden, in dem im Unterschied zu fast allen anderen Ländern der Welt für jede/n SchülerIn bereits im Alter von zehn Jahren der angemessene Platz in einer besonderen Schulform zugeteilt wird.
Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Sonderschulen jeder Art – für alle »Begabungstypen«, so die Behauptung, finde sich die richtige Schule. Dass die Verteilung der SchülerInnen nicht nach Begabung, sondern nach sozialem oder ethnischem Hintergrund der Eltern vorgenommen wurde und wird, fiel nicht ins Gewicht in der Auseinandersetzung.
Der PISA-Schock räumte mit dem Vorurteil auf, dass die Homogenisierung von Lerngruppen nach Leistung bzw. vor allem nach sozialem Status optimale Ergebnisse bringt – wenn auch zu Lasten sozial Benachteiligter. Deutschland schnitt im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich ab und war nur Spitzenreiter im Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft.
Verstärkte Investitionen in die Frühförderung an Kitas, Ausbau von Ganztagsschulen Veränderungen in der Schulstruktur hin zur Abschaffung/Reduzierung von Sonderschulen und die Schaffung einer zweigliedrigen Schulstruktur in einigen Bundesländern, in denen es neben dem Gymnasium jetzt eine weitere Schulform gibt, haben die soziale Schieflage nicht wesentlich verändert. Dass in den letzten PISA-Studien in dieser Hinsicht für Deutschland leichte Verbesserungen festgestellt wurden, ist wohl hauptsächlich auf höhere Bildungsaspirationen der Elternschaft und dem damit gestiegenen Anteil von AbiturientInnen zurückzuführen.
Nach wie vor ist der Zusammenhang, so der Nachweis auch in der aktuellen PISA-Studie,[1] zwischen sozialer Herkunft und Lernerfolg in Deutschland überdurchschnittlich hoch.
Abb. 1.6.9; Wahrscheinlichkeit der Leistungsschwäche unter benachteiligten Schülern, im Vergleich zu nicht benachteiligten Schülern
Noch gravierender wird die soziale Schieflage, wenn die Schulen betrachtet werden. In kaum einem anderen Land ist der Lernerfolg so stark von der sozioökonomischen Lage der Schule, die ein/e Schüler/in besucht, bestimmt wie in Deutschland. Im Durchschnitt der OECD liegt das Lernniveau in Schulen in benachteiligten Lagen um ca. zwei Lernjahre gegenüber den anderen Schulen zurück, in Deutschland sind das drei Lernjahre. Während in Ländern wie Kanada, Dänemark, Finnland, Irland, Norwegen und Polen davon auszugehen ist, dass die SchülerInnen unabhängig davon, welche Schule sie besuchen, ein hohes Leistungsniveau erreichen, ist in Deutschland das Schicksal vorbestimmt.
Wer das Pech hat, auf eine Schule – in Deutschland meist kein Gymnasium – in Hamburg-Wilhelmsburg oder in Berlin-Wedding zu gehen, hat viel geringere Chancen, erfolgreich zu sein als SchülerInnen in Schulen in bevorzugter Lage. Die soziale Spaltung in der Gesellschaft verschärft sich in der Schule. Wenn nach wie vor fast jede/r fünfte SchülerIn in Deutschland zur »Risikogruppe« derjenigen gehört, deren Zukunft aufgrund ihrer Lernstände mit 15 Jahren gefährdet ist, so gilt das für die sozial benachteiligten SchülerInnen mehr als doppelt so häufig.
Das gleiche Bild zeigt sich auch, wenn die Jugendlichen mit Migrationshintergrund betrachtet werden. Auch sie haben in deutschen Schulen geringere Chancen als in vielen anderen Staaten der OECD.
Seit PISA 2001 hat sich allerdings vieles an deutschen Schulen geändert. Seitdem wird vor allem eines ausgiebig und intensiv getan: Es wird getestet. SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern können ein Lied davon singen, wieviel Zeit, Geld und Mühe in Vergleichstests, Lernstanderhebungen und Ländervergleiche gesteckt wird. Die Testeritis bleibt nicht ohne Folgen: SchülerInnen und Lehrkräfte sind viel besser geworden, was die Vorbereitung und Durchführung der Tests betrifft. Die statistisch kaum signifikanten Verbesserungen in Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften gegenüber 2001 sind vermutlich darauf zurückzuführen.
Der Aussagewert der Mittelwertvergleiche zwischen Staaten, die z.T. in völlig disparaten Verhältnissen leben, wie z.B. Hongkong, Peru und Italien, waren schon immer fragwürdig. Ein solches Länderranking hat keinerlei Erkenntniswert für die Bildungspolitik. Wichtiger sind die Daten über die Verteilung der Lernerfolge innerhalb eines Landes nach sozialer Lage, ethnischer Herkunft und Geschlecht.
Hier zeigen sich für Deutschland enorme Disparitäten. Es gelingt weder, den Zusammenhang zwischen Lernerfolg und sozialer Lage spürbar zu reduzieren, noch die MigrantInnen erster, zweiter und dritter Generation an die durchschnittlichen Lernstände heranzuführen, noch, die geschlechtsspezifischen Nachteile von Jungen im Leseverständnis und Mädchen in Mathematik und Naturwissenschaften zu reduzieren.
Die PISA-Studien sind deshalb sinnvoll, weil der Blick auf andere Länder zeigt, dass sowohl der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Lage oder Migrationshintergrund, als auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede veränderbar sind.
Die aktuelle PISA Studie gibt Hinweise, was bildungspolitisch getan werden müsste: »Eine Strategie, bei der statt des Leistungsniveaus die Bildungsgerechtigkeit im Vordergrund steht, hätte in denjenigen Ländern und Volkswirtschaften den größten Effekt, in denen erhebliche Leistungsunterschiede zwischen begünstigten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern und ein starker Zusammenhang zwischen Leistung und sozioökonomischem Status festzustellen sind.« (PISA 2015 Ergebnisse Band 1, S. 295)
Die Studie empfiehlt in Ländern, in denen – wie in Deutschland – die Abhängigkeit zwischen Lage der Schule und Schulerfolg hoch ist, zielgerichtete Ressourcen für Schulen mit einer hohen Konzentration von leistungsschwachen und benachteiligten SchülerInnen bereit zu stellen. Das können neben Finanzmitteln, die in die bessere Ausstattung dieser Schulen mit Räumen, Material und Personal investiert werden, auch Maßnahmen sein, um »die Konzentration von benachteiligten und leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern an bestimmten Schulen zu verringern«.
Da bleibt hierzulande noch viel zu tun.
[1] OECD (2016), PISA 2015 Ergebnisse (Band I): Exzellenz und Chancengerechtigkeit in der Bildung, PISA, W. Bertelsmann Verlag, Germany. Eine pdf-Datei kann heruntergeladen werden.