21. Oktober 2013 Joachim Bischoff: SPD-Konvent beschließt Verhandlungen für Große Koalition
Politikwechsel mit CDU/CSU?
Die CDU-Vorsitzende Merkel triumphiert in einer Telefonkonferenz ihrer Parteiführung: Die SPD hat »die Phase überwunden, in der man sie zum Jagen tragen muss«. In der Tat: Politische Eigenständigkeit und die Überwindung der durch die Konservativen verursachten Stagnation war gestern; die SPD nimmt Koalitionsverhandlungen mit der Union zur Bildung einer schwarz-roten Bundesregierung unter erheblichen Abstrichen ihrer eigenen politischen Zielvorstellungen auf.
Zunächst hatte der SPD-Parteivorstand sich mit breiter Mehrheit für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausgesprochen. Im Parteikonvent gab es spätere eine kleine Minderheit, die sich dagegen aussprach. 85% der Delegierten dagegen folgten dem Votum der Parteispitze.
Diese hatte zehn Kernforderungen für einen Koalitionsvertrag formuliert. Vor allem die Parteilinken hatten vergeblich versucht, den Forderungskatalog für die Koalitionsverhandlungen mit der Union zu verschärfen. Kommentar des Koordinators der SPD-Linken und schleswig-holsteinischen Landeschefs Ralf Stegner: Ohne substanziellen Politikwechsel könne die SPD in keine Regierung eintreten. Hintertürchen: Ein Politikwechsel sei auch mit einer großen Koalition möglich.
Der Forderungskatalog enthält folgende »unverzichtbare« Forderungen:
- Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn sowie die wirksame Bekämpfung des Missbrauchs von Leih- und Zeitarbeit;
- Altersarmut soll dauerhaft verhindert werden, Angleichung der Rentensysteme in Ost- und West;
- Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen;
- Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen und Männern;
- indirekt wird die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft gefordert;
- finanzielle Stärkung der Kommunen, nachhaltige Entlastung von Kosten sozialer Leistungen;
- mehr Investitionen in die Infrastruktur;
- besseres und gerechteres Bildungssystem;
- wirksame Regulierung der Finanzmärkte, vor allem eine Finanztransaktionssteuer;
- Sicherung und Stärkung von Wachstum und Beschäftigung in Europa.
Politisch bedeutsam ist vor allem: Der Verzicht seitens der SPD auf Steuererhöhungen wurde erkauft mit der Bereitschaft der Union, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Entscheidend auch die Absegnung der Altersrente mit 67 Jahren, denn es wird bei der bisherigen Regelung bleiben. Allerdings sollten Möglichkeiten geschaffen werden, schon früher und ohne Abschläge aus dem Erwerbsleben auszusteigen, wenn jemand 45 Jahre gearbeitet hat.
Faktisch kassiert die Sozialdemokratie die Anforderungen an einen Politikwechsel. Vorbehalte sind in der politischen Versenkung verschwunden. Da ist zunächst der demokratietheoretische Einwand: Künftig werden rund ein Fünftel der Bundestagsabgeordneten (Linkspartei und Grüne) sich gegenüber einer erdrückenden Mehrheit zu behaupten und eine demokratische Kontrolle der Regierungsmacht durchzusetzen haben. Die angekündigte Stärkung der Parlamentsrechte für die Opposition wird die faktische Zusammenballung der Macht nicht aufhalten können.
Weiter ist vollständig die substanzielle Zielvorstellung kassiert worden, dass die bestehende Lastenverteilung in der Gesellschaft höchst ungerecht, die soziale Durchlässigkeit massiv eingeschränkt ist und sowohl ökonomisch wie sozial von einer meritokratischen Gesellschaftsordnung keine Rede mehr sein kann. Eingriffe in die bestehenden Vermögensverhältnisse hatten das Ziel, mit dem Rückbau der massiven Verteilungsunterschiede eine gerechtere Gesellschaftsordnung anzuschieben und auch ökonomisch eine ausgeglichenere Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums zu gewährleisten.
Höhere Steuern sind in der Tat kein Selbstzweck. Sie sollen die Verteilungsverhältnisse ausgewogener gestalten und ermöglichen die Finanzierung notwendiger staatlicher Ausgaben und wichtiger Zukunftsinvestitionen. Daher sollten Steuererhöhungen gerecht gestaltet werden: Wegen der starken Zunahme des privaten Reichtums, zahlreicher Steuergeschenke und der teuren Rettung privater Finanzvermögen war als Politikwechsel auch in der Sozialdemokratie angestrebt worden, hohe Einkommen und Vermögen zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte heranzuziehen.
Dennoch: Auch aus der NRW-SPD heißt es nun: »Der Rahmen, dieses Land gerechter zu machen, ist da, sonst würden wir ja auch unseren Mitgliedern vor Ort und dem Konvent nicht empfehlen, in Koalitionsverhandlungen zu gehen.« Soweit die Führung der Unionsparteien keine gravierenden Fehler macht, ist die Herausforderung eines Politikwechsels auf Jahre vertagt.
Schon in dem Beschluss des SPD-Konvents ist der Weg vorgezeichnet: »Wir werden in den Koalitionsverhandlungen auf einer verlässlichen, soliden und gerechten Finanzierung aller Projekte einer künftigen Koalitionsvereinbarung bestehen, um die damit angestrebten Verbesserungen auch tatsächlich zu erreichen.« Konkret genannt wird nur eine Anhebung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Höhere Steuerbelastungen für Vermögende und höhere Einkommensbezieher scheinen kassiert zu sein. Die Korrekturen in der Alterssicherung werden aus den Sozialkassen finanziert und ansonsten hofft die große Koalition auf die endliche Überwindung der Wirtschaftskrise.
Die führenden Wirtschaftsinstitute rechnen in ihrem Herbstgutachten vor, dass die neue Bundesregierung auch ohne Steuererhöhungen am Kurs der Haushaltskonsolidierung festhalten und zugleich mehr Geld in Bildung und Infrastruktur investieren könne. Die Ökonomen kommen zu dem Schluss, die Lage der Staatsfinanzen werde sich in den kommenden Jahren weiter entspannen. Sie erwarten bereits in diesem Jahr einen gesamtstaatlichen Überschuss von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen von drei Milliarden Euro, der bis 2018 auf rund 53 Milliarden Euro steigen soll.
Allerdings basiert diese Einschätzung auf der Annahme, dass die deutsche Wirtschaft am Beginn eines kräftigen Aufschwungs steht. In ihrer Herbstprognose sagen die Institute für das kommende Jahr ein reales Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 1,8% voraus, nachdem das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr bei lediglich 0,4% zu liegen kommen dürfte. Die mehrjährige Phase nach der großen Wirtschafts- und Finanzkrise soll jetzt am Ende sein. Bislang habe sich die die deutsche Wirtschaft mehr oder weniger in einem Korridor der Stagnation bewegt. Seit Mitte 2011 war die Wirtschaftsleistung nur noch geringfügig gewachsen.
Die Forschungsinstitute betonen zwar die Risiken für diesen Ausblick; so schließen sie etwa eine neuerliche Eskalation der Euro-Schuldenkrise nicht aus. Aber insgesamt sehen sie eine positive Grundtendenz. In einem Umfeld, in dem die Weltwirtschaft wieder stärker werde und die Euro-Zone langsam auf einen Wachstumspfad zurückfinde, sollten auch die strukturellen Stärken Deutschlands wieder stärker zum Tragen kommen. Der Privatkonsum soll sich auch im kommenden Jahr als Stütze der Konjunktur erweisen, nachdem er schon seit längerem von der guten Beschäftigungs- und Lohnentwicklung angetrieben worden ist.
Eine klare Trendwende erwarten die Institute bei den Investitionen. Die Unternehmen dürften demnach ihre jüngste Zurückhaltung ablegen, die historisch niedrigen Zinsen nutzen und wieder kräftiger in Ausrüstungen und Maschinen investieren. Eine größere Dynamik wird schließlich bei den Exporten prognostiziert. Hier soll sich die Erholung besonders in den Absatzmärkten der Euro-Zone positiv auswirken. Allerdings dürften die Exporte weniger stark steigen als die Importe, wodurch der Außenbeitrag das BIP-Wachstum eher dämpfen wird. Die Prognosen der Forschungsinstitute sind auch deshalb von größerem Einfluss, weil die Regierung auf ihrer Grundlage die Finanzplanung erstellt. Für die kommenden Jahre sagen die Institute wachsende Überschüsse im Staatshaushalt voraus.
Angepeilt worden war in der SPD auch eine Wende in der Europapolitik. Merkels Therapie des »Heilfastens« habe zu einer europäischen Magersucht geführt, so die Argumentation im Wahlkampf. Zudem habe die Bundesregierung die vom Verfassungsgericht vorgegebene Grenze der zulässigen Kreditzusagen für die Unterstützungsmaßnahmen der Krisenländer umgangen, da sie der Europäischen Zentralbank den Ankauf von Anleihen dieser Länder außerhalb des Auftrags der Bank zugestanden habe. Die Bürger sei getäuscht worden, denn für die Politik der Europäischen Zentralbank haften die Mitgliedstaaten.
Der konservative frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio warnt zu Recht vor den Folgen der geplanten Großen Koalition in Sachen für die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung im Land. »Es ist sehr bedenklich, wenn eine Regierung etwa bei europäischen Rettungsmaßnahmen gleichsam vom Kabinettstisch aus Änderungen der Verfassung beschließen könnte«, stellt er mit Blick auf die Vierfünftelmehrheit, die eine Große Koalition im neuen Bundestag hat, fest.
Zwar sei eine Große Koalition an sich nichts »verfassungsrechtlich Anrüchiges«. Aber eine so starke Mehrheit, wie Union und SPD sie haben, »würde die übliche Balance der Gewaltenteilung verändern«. Di Fabio fürchtet auch die Folgen im Parlament. »Bislang mussten bei Rettungsschirmen einzelne Abgeordnete überzeugt werden, um die eigene Mehrheit des Regierungslagers zu sichern. Bei einer 80%-Mehrheit kommt es auf den einzelnen Abgeordneten kaum noch an.«