Ulrich Duchrow
Gerechtigkeit, Frieden, (Über)Leben
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Felix Krebs/Florian Schubert
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Rechte und rassistische Gewalt in den 1980er-Jahren: gesellschaftliche Bedingungen und staatliche Reaktionen
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Jürgen Kowalewski
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Rudolf Hickel
Schuldenbremse
oder »goldene Regel«?

Verantwortungsvolle Finanzpolitik für die sozial-ökologische Zeitenwende | Eine Flugschrift
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Heiner Karuscheit
Der deutsche Rassenstaat
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ISBN 978-3-96488-237-0

24. Februar 2016 Joachim Bischoff / Björn Radke

Politische Kampagne um den »Brexit«

Nach der Einigung auf ein Reformpaket beim EU-Gipfel in Brüssel hat der britische Premier Cameron das Datum für das Brexit-Referendum bekannt gegeben. Am 23. Juni sollen die BritInnen über ein mögliches Ausscheiden aus der Europäischen Union abstimmen. Cameron lobte die erreichte Einigung mit den 27 EU-Partnerländern: Er werde sich entschieden für ein »Ja« für einen Verbleib in der EU einsetzen. Er habe von den anderen EU-Ländern die angestrebten Zugeständnisse erhalten.

Der Premierminister behauptet, er habe für Großbritannien definitiv einen »Sonderstatus« herausgehandelt. Das Vereinigte Königreich werde somit niemals »Teil eines europäischen Superstaates«. Reichlich Rhetorik. Kommissionspräsident Juncker artikuliert die Gegenposition: Großbritannien habe in der EU immer einen speziellen Status gehabt und immer eine wichtige Rolle gespielt. Insofern hätten die Briten den »alten neuen Status« festgeschrieben.

Von einer tiefgreifenden »Reform der EU« kann überhaupt keine Rede sein. Zähgestritten wurde im Wesentlichen um drei Punkte:

  • Mögliche Beschränkungen von Sozialleistungen. Zugewanderte ArbeitnehmerInnen aus anderen EU-Staaten sollen künftig erst nach vier Jahren Anspruch auf volle Sozialleistungen haben. Nutzen darf Großbritannien diese Regelung sieben Jahre lang. Diese Regelung gilt nur für Staaten, die nach der Osterweiterung ihre Grenzen für ArbeitnehmerInnen aus den Beitrittsstaaten ohne Übergangsregelung geöffnet haben. Das trifft nur auf Großbritannien zu.
  • Des Weiteren sollen – nach einer Übergangszeit bis 2020 – alle Länder den Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland das Kindergeld für Kinder kürzen können, die weiterhin im Heimatland dieser Arbeitnehmer leben. Die Leistungen sollen an die Lebenshaltungskosten im jeweiligen Heimatland angepasst werden. Für neu ankommende ArbeitnehmerInnen gilt dies von Anfang an, für bereits anwesende ab 2020. In beiden Punkten hatten sich osteuropäische EU-Mitglieder gegen zu große Zugeständnisse gesperrt. Da vergleichsweise viele ihrer BürgerInnen in Großbritannien arbeiten, ist das Thema für sie brisant.
  • Ähnlich umstritten waren die Vereinbarungen zum Verhältnis von Euro- zu Nicht-Euro-Staaten. Hier geht es unter anderem um ein Verfahren, das die Nicht-Euro-Staaten in Gesetzgebungsverfahren vor einer »Tyrannei« der Mehrheit der Euro-Staaten schützen soll. Sie erhalten kein Vetorecht, aber ein Verfahren soll der Gefahr des Überstimmens vorbeugen.

Frankreich hatte hier starke Vorbehalte. Der französische Staatspräsident François Hollande machte geltend, es brauche eine Finanzmarktregulierung, die auf alle Finanzzentren in der EU anwendbar sei. Niemand solle den Kampf gegen die Spekulation und gegen Finanzkrisen mit einem Veto blockieren können.

Bei den WählerInnen wirbt der britische Premier für ein »Ja« zum Verbleib in der EU mit dem Argument, er habe »das Beste aus zwei Welten« – der Mitgliedschaft in der EU mit ihren wirtschaftlichen Vorteilen und den Ausnahmen für sein Land – herausgeholt. Faktisch steht damit erneut fest: Es gibt ein »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten« und Ziele. Der Großteil der Zugeständnisse bezieht sich auf britische Sonderrechte, die bereits jetzt im EU-Vertrag von Lissabon stehen. Nur wird noch einmal viel klarer und dezidierter festgehalten, was Großbritannien niemals machen wird. Bei zentralen Projekten der EU wie dem Euro, dem Schengen-Abkommen und einem möglichen europäischen Militärverbund wird der Unterschied festgeschrieben.

Die Brexit-Befürworter halten dem entgegen, dass die EU stets alles tun werde, um Großbritannien in der Gemeinschaft zu halten; eine grundlegende Reform der EU werde es nicht geben. Die von Cameron durchgesetzten Veränderungen werden nicht nur bei den Brexit-Befürwortern nicht als Vorteile angesehen. Die Kampagne »Für oder gegen Europa« hat begonnen. Dass der Kampf hart werden dürfte, zeichnet sich bereits ab. Eine Reihe von Kabinettsmitgliedern – auch Justizminister Michael Gove – gehen ins Lager der Exit-Befürworter über. Das Land sei außerhalb der EU »freier, fairer und besser dran«, betonte Gove. Premier Cameron trägt dieser offenen Spaltung Rechnung und erklärte, in dieser Frage nicht auf Kabinettsdisziplin zu beharren. Auch Boris Johnson, der Bürgermeister von London, hat sich nach dem EU-Gipfel für einen Austritt Großbritanniens aus der EU ausgesprochen. Ihm gehe es gehe um die Souveränität Großbritanniens. Das Projekt der politischen Gemeinschaft sei in Gefahr, außer Kontrolle zu geraten.

Auf Seiten der Labour-Party gibt es gleichfalls Spaltungen. Der Bewegung Labour Leave schlossen sich mehrere Parlamentarier an, die damit gegen die offizielle Parteilinie rebellieren. Die Labour-Abgeordnete Kate Hoey bezeichnete die EU als eine »antidemokratische und antisozialistische« Einrichtung, die niemandem Rechenschaft ablege. Unterstützt wird Labour Leave vom Geschäftsmann John Mills, Labours größtem Einzelspender der vergangenen Jahre. Der im vergangenen September an die Spitze der Partei gewählte Euroskeptiker Jeremy Corbyn vom linken Flügel hatte erklärt, dass Labour für den Verbleib Großbritanniens in der EU eintrete.

Außer UKIP gehören eine Reihe prominenter Tory-Abgeordneter, reiche Förderer und ein paar Labour-Politiker der Out-Kampagne an. Noch gibt es Rangeleien darüber, wer vom Britischen Wahlausschuss als offizieller Vertreter des Anti-EU-Lagers bestätigt wird, und so für die Referendumskampagne 600.000 Pfund (770.000 Euro) aus öffentlichen Geldern sowie Radio- und Fernsehzeit erhält.

Generell stehen Labour Party, Liberaldemokraten, Grüne und schottische und walisische Nationalisten auf Seiten der EU-Befürworter. Auch unter Labour-WählerInnen gibt es allerdings viele, die Zuwanderung und mögliche Jobverluste fürchten. Wohin sie schwenken, dürfte wesentlich zum Ausgang des Referendums beitragen. Im Augenblick liegen die EU-Befürworter ca. 15 % vorne. Die Rechtspopulisten der Unabhängigkeitspartei UKIP sind zwar nur mit einem einzigen Abgeordneten im Unterhaus vertreten, erhielten bei den jüngsten Parlamentswahlen aber vier Millionen Stimmen. UKIPs eigentliches politisches Ziel ist der britische Austritt aus der EU. Die Rechtspopulisten werden EU-weit aus ihrem Lager in den anderen europäischen Ländern deutliche Unterstützung erhalten.

Schließlich befeuert das Referendum die Frage einer Unabhängigkeit Schottlands. Die Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP), Nicola Sturgeon, verweist auf einen drohenden Konflikt: Die Mehrheit der fünf Millionen SchottInnen trete für einen Verbleib in der EU ein. Sie sagte, wenn England dafür stimme die EU zu verlassen, während Schottland abstimme, zu bleiben, gäbe es eine »unausweichliche« Veränderung der öffentlichen Meinung in Richtung Unabhängigkeit, um dem Land weiterhin die EU-Mitgliedschaft zu gewährleisten. »Wenn, ein paar Jahre später, wir gegen unseren Willen aus der EU herausgenommen würden, denke ich, wird es viele Menschen geben, die die einzige Möglichkeit unsere Mitgliedschaft in der EU zu gewährleisten darin sehen, unabhängig zu sein.« Ein mögliches Votum für einen Brexit hat also nicht nur weitreichende ökonomisch Folgen, sondern tangiert die politische Landschaft entscheidend.

In vielen Ländern drängen rechtspopulistische bis rechtsextreme Kräfte nach vorn. Die Entwicklung in Europa geht nach rechts. Die Ursachen liegen in den großen Herausforderungen: Drohung einer neuen Wirtschaftskrise, Abstiegsängste in wohlausgebauten Sozialstaaten, Angst vor Überfremdung, besonders durch die Muslime. Die politische Kampagne um einen möglichen Austritt Großbritanniens wird in den nächsten Monaten ganz Europa in Atem halten.

Premierminister Cameron hatte vor drei Jahren das EU-Referendum angekündigt. Seinen Landsleuten hatte er – vor allem aber zur Besänftigung der EU-Gegner in der eigenen Partei – viel versprochen: Um eine umfassende Neugestaltung der britischen EU-Mitgliedschaft sollte es gehen. Cameron hat dieses politische Ziel nicht erreicht. Dies trägt ihm seitens der Euroskeptiker den Vorwurf ein, dass es nur um Kosmetik gehe. Es wird für die Allianz der EU-Befürworter nicht einfach werden, den politischen Spagat zu verkaufen: einerseits die wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarktes zu sichern, ohne andererseits die Nachteile einer immer umfassenderen Einordnung durch die europäischen Institutionen zu unterliegen.

Die politische Auseinandersetzung wird nicht nur die politischen Kräfteverhältnisse in Großbritannien durcheinander wirbeln. Auch auf dem Kontinent hat diese Auseinandersetzung die Qualität der Durchmischung von linken und rechtspopulistischen Strömungen. Außerdem wird die Frage nach dem Ausgang des Referendums in einer Zeit großer Unsicherheit an den Wertpapierbörsen und Schwächen der Realökonomie der Spekulation reichlich Nahrung geben. Schon jetzt wird deutlich, dass das britische Pfund aufgrund von Brexit-Ängsten unter Druck gerät.

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