Hajo Funke
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
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Heiner Dribbusch
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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

2. April 2019 Redaktion Sozialismus

Politische Ohrfeige für den türkischen Präsidenten und seine Führungsclique

Präsident Erdogan. Foto: ©Paul Morigi Photography (CC BY-NC-ND 2.0)

Die türkische Opposition hat bei den Lokalwahlen in der Türkei einen spektakulären Sieg errungen. Vor allem in den großen Städten konnte sie der AKP viele Stimmen abjagen.

Das Bündnis aus den beiden großen kemalistischen Parteien des Landes, der sozialdemokratischen CHP und der nationalkonservativen IYI-Partei, hat laut vorläufigen Ergebnissen mit Ankara, Antalya und Adana in mindestens drei der größten Städte das Bürgermeisteramt vom Regierungsbündnis aus AKP und ihrem ultranationalistischen Partner MHP erobert. In der Wirtschaftsmetropole Istanbul liegt die Opposition knapp vorne, hier wird allerdings nachgezählt, sodass das Endergebnis noch nicht feststeht. Auch die säkulare Hochburg Izmir bleibt in der Hand der CHP.

Spektakulär sind diese Ergebnisse, weil die Wahlen in einem autoritären Regime stattfanden: Die Kommunalwahlen in der Türkei sind nach Einschätzung des Europarats weitgehend geordnet verlaufen. Rund 57 Mio. Türk*innen waren landesweit aufgerufen, Bürgermeister*innen, Gemeinderäte und andere Kommunalpolitiker*innen zu wählen. Die Abstimmung fand in allen 81 Provinzen gleichzeitig statt. Kritisiert wurden vom Europarat die Rahmenbedingungen, unter denen die Wahl stattgefunden hat. Für eine wahrhaft demokratische Wahl sei mehr nötig, u.a. Meinungs- und Pressefreiheit. Denn die Oppositionsparteien hatten im autoritären Regime der AKP nur begrenzte Möglichkeiten, für eine Alternative zu werben. Alle staatliche Ressourcen, einschließlich des massiven parteilichen Einsatzes von Staatspräsident Erdoğan, wurden für die Regierungspartei oder Kandidaten für die Regierungspartei bereitgestellt, und 80% der Medienlandschaft von der Regierung gesteuert.

In dieser Situation kann man von freien demokratischen Wahlen nicht sprechen. Das Ende des Ausnahmezustands in der Türkei hat nichts an der repressiven Regierungsführung von Präsident Erdoğan geändert. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) kontrolliert in einer Koalition weiterhin das geschwächte Parlament und beherrscht die staatlichen Apparate. Mittlerweile war die Hoffnung stark zurückgegangen, dass die Türkei zu einer Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Strukturen zurückkehren könnte. Das Wahlergebnis ist ein starkes Signal für den demokratischen Widerstandswillen.

Die Wahlbeteiligung lag bei 84% und in den letzten Wochen tobte ein äußerst heftiger Wahlkampf. Denn obwohl es vorderhand um die Bestellung von Lokalregierungen ging, drehte sich der Urnengang vor allem um eine Person, die gar nicht zur Wahl stand: Präsident Erdoğan. Die erste Wahl seit dem Inkrafttreten des neuen Präsidialsystems, das dem Staatsoberhaupt weitgehende Vollmachten verleiht und die Kompetenzen des Parlaments stark beschneidet, wurde als Referendum über die neue Staatsordnung und über Erdoğans Leistung wahrgenommen.

Es ist zunächst ein symbolischer Sieg der Opposition und auch der türkischen Demokratie. Denn an den Machtverhältnissen auf nationaler Ebene ändert sich zunächst kaum etwas. Unter dem Blickwinkel eines einseitigen Wahlkampfes zur Bestätigung eines autoritären Regimes kann festgehalten werden: Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat bei der Kommunalwahl eine empfindliche Niederlage erlitten. Seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP blieb zwar mit landesweit rund 44% aller Stimmen stärkste Kraft – sie hat jedoch Gebiete im AKP-Herzland Anatolien sowie wichtige Großstädte an die Opposition verloren. Die Allianz aus AKP und Milliyetçi Hareket Partisi (MHP– »Partei der Nationalistischen Bewegung«) hat landesweit erneut mehr als 50% aller Stimmen erhalten und somit nicht nennenswert an Rückhalt eingebüßt. Mit 44% der Stimmen ist die AKP weiterhin mit Abstand größte politische Kraft des Landes. Die zweitstärkste Kraft, die CHP, kommt auf 30%.

Die Entscheidung der Opposition, mit geeinten Kräften anzutreten, hat sich ausgezahlt. İyi Parti (IYI) (»Gute Partei«)und CHP haben sich in den großen Städten auf jeweils einen Kandidaten geeinigt. Trotz beträchtlichen inhaltlichen Differenzen zu den kemalistischen Parteien zog auch die prokurdische HDP mit, indem sie außerhalb ihres Kerngebiets in Südostanatolien keine eigenen Kandidat*innen aufstellte, sondern das Oppositionsbündnis unterstützte.



Erdoğan hatte die Wahl zu einem Referendum über seine Regierung und dem Umbau der Republik hochstilisiert. Obwohl er gar nicht zur Wahl stand, hat er fast jeden Tag gleich mehrere Wahlkampfauftritte hingelegt und war durchs halbe Land gereist. Die Wahl hat er mit äußerst aggressiver Rhetorik gegen die Opposition bestritten und zu einem Kampf um Fortbestand oder Niedergang der Nation erklärt. Die Wähler*innen waren wohl weniger besorgt über den drohenden Untergang der Türkei als über die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie die eingeschränkten bürgerlichen Freiheiten. Der Stimmungstest ist umso bedeutender, als die Türkei zurzeit eine schwere Wirtschaftskrise durchläuft. Seit dem dramatischen Kursverlust der Lira im vergangenen Sommer ist die Inflation auf 20% gestiegen, und die Arbeitslosigkeit hat hohe 13,5% erreicht. Für die AKP, deren seit 2002 andauernde Regierungszeit lange mit einem imposanten Wirtschaftsaufschwung einherging, war das eine ungewohnte Ausgangslage.

Wirtschaftlicher Erfolg war seit 2002 die Grundlage für die Wahlerfolge der AKP. Mit einem wirtschaftsliberalen Programm trat Erdoğan einst seinen Siegeszug an. Die Tatsache, dass sich in den vergangenen 18 Jahren Mio. von Türk*innen den Aufstieg aus der Armut in eine neue, konservative Mittelschicht erarbeiten konnten, sicherte Erdoğan immer wieder die Wiederwahl. In den letzten Jahren hat diese Konzeption, durch massive Kreditexpansion und öffentliche Investitionen die Modernisierung der türkischen Gesellschaft zu forcieren, immer weniger gegriffen. Die Korruption sowie einseitige Investitionsentscheidungen zugunsten von Prestigeobjekten unterminierte die Transformation.

Lange Jahre war die Wirtschaftspolitik das Aushängeschild der Erdoğan-Regierung: beeindruckende Wachstumsraten, ein Bauboom, riesige Infrastrukturprojekte wie Brücken und Flughäfen sowie ein neues Wohlstandsniveau für Millionen, die sich plötzlich eine eigene Wohnung und ein Auto leisten konnten. Doch Ankara finanzierte den Aufschwung in den Jahren der weltweit niedrigen Zinsen mit billigen Krediten, und regierungsnahe Konzerne sackten milliardenschwere Staatsaufträge ein. Steigende Zinsen, versuchte Eingriffe der Regierung in die Arbeit der Zentralbank und innenpolitische Konflikte haben zur Folge, dass sich viele Investoren von der Türkei abwenden. Spannungen mit den USA beschleunigten den Sturz der Lira. Die Regierung war bemüht, im Vorfeld der Wahlen die Folgen der ökonomischen Krise abzufedern. Allein in den vergangenen Wochen wurden mehrere Milliarden an Währungsreserven aufgewendet, um den Kurs der Lira zu stützen.

Nationalistisch-religiöse Themen

Die AKP hat sicherheitspolitische und religiös-nationalistische Themen in den Vordergrund gestellt und wollte die Kernwählerschaft zu einem Votum für die Transformation der Republik motivieren. Erdoğan stilisierte die Wahl zu einer Frage der nationalen Sicherheit, ja des nationalen Überlebens empor. Wie bei früheren Urnengängen, die noch stärker unter dem Eindruck des Putschversuchs von 2016 und der schweren Terroranschläge im Jahr zuvor gestanden hatten, beschrieb der Präsident eine Türkei, die von inneren und äußeren Feinden bedroht sei. Dabei kam es auch zu gezielten Tabubrüchen, wie etwa dem Abspielen der Aufnahmen des Attentäters von Christchurch, und zu heftigsten Attacken auf die politischen Gegner.

Der rücksichtslose Wahlkampf war ein deutliches Indiz für die starke Nervosität der Führungsspitze der AKP, die in den letzten Monaten zudem wichtige Funktionäre verloren hatte. In der AKP gibt es Kräfte, die mit dem autokratischen, isolationistischen und wirtschaftlich abenteuerlichen Kurs Erdoğans unzufrieden sind.

Im kurdischen Südosten legte die AKP auf Kosten der prokurdischen HDP sogar zu. Die prokurdische Partei konnte ihr Ziel nicht erreichen, die gut 100 Bürgermeisterposten zurückzuerobern, die sie im Zuge der Repression nach dem Putschversuch verloren hatte, weil die Regierung Zwangsverwalter einsetzte. Dies gelang der HDP nur in etwa 70 Bezirken. Hinzu kommt, dass die Wahl die effektiven Machtverhältnisse ohnehin nur geringfügig beeinflussen kann. Insbesondere seit Inkrafttreten des Präsidialsystems laufen alle Fäden im Präsidentenpalast zusammen.

Die Wahlen und die Wahlkampagne haben erneut die starke politisch-soziale Spaltung der türkischen Gesellschaft enthüllt. Die urbanen, gut ausgebildeten und wirtschaftlich erfolgreichen Kreise entfernen sich zunehmend von Erdoğan und der AKP. Neben den Großstädten ist auch praktisch die gesamte Mittelmeerküste in der Hand der Opposition, der Regierung bleibt das anatolische Kernland.

Die AKP und der Präsident sitzen geprägt von der Niederlage auf einem sozial-ökonomischen Pulverfass und benötigen massive Finanzhilfen. Die aktuellen Turbulenzen an den Finanzmärkten und die gestiegene Unsicherheit hinsichtlich einer Reaktion der Politik auf die Rezession erhöhen das Risiko einer Kapitalflucht. Nicht alles an der Krise ist auf die autoritäre Politik zurückzuführen.

Einen Teil der Probleme teilt die Türkei mit anderen Schwellenländern. Durch die Kreditexzesse westlicher Zentralbanken nach der Finanzkrise floss Kapital um den Globus auf der Suche nach höheren Renditen. Staaten wie Unternehmen konnten sich so billig verschulden. Die Türkei hat mit 38% des BIP keine Probleme mit der Staatsverschuldung, dafür aber sind türkische Unternehmen mit rund 400 Mrd. US-Dollar verschuldet. Ein weiterer Währungsverfall bringt die Firmen schnell in Zahlungsschwierigkeiten. Es Jahre wird dauern, bis die Verschuldung zurückgeführt ist.

Die Korrektur des privaten und öffentlichen Schuldenbooms wird das Wirtschaftswachstum auf Jahre belasten: Daher wird es ohne eigene Anstrengungen auch nach den Kommunalwahlen keine schnelle Erholung geben. Eine verträgliche Tendenzwende unterstellt also Finanz- und Kredithilfen von außen, Investitionen zur Verbesserung der Produktivität und eine Überwindung der repressiven Strukturen in der Zivilgesellschaft und im politischen System.

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