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9. Juli 2022 Hinrich Kuhls: Die Zukunft der Brexit-Regierung

Premierminister Johnson zum Rücktritt gezwungen

Foto: www.gov.uk/government

Der britische Premierminister Boris Johnson ist zum Rücktritt gezwungen worden. Nach einem weiteren Lügenskandal ist die Glaubwürdigkeit des rechtspopulistischen Lügenbarons selbst in der Konservativen Partei und deren Wählerschaft zerstört. Die Tory-Parlamentsfraktion und die Mehrheit seines Kabinetts jagen ihn aus dem Amt, räumen ihm aber noch einen Sommeraufenthalt auf dem Regierungssitz in Chequers ein.

Drei Viertel der Tory-Abgeordneten auf den Hinterbänken hatten ihm schon Anfang Juni bei einer anberaumten Vertrauensabstimmung das Misstrauen ausgesprochen und ihn zum Rücktritt aufgefordert. Johnson hatte vorerst weiter machen können – aber nur, weil der Regierungsflügel seiner Partei ihn noch gestützt hatte.

Vier Wochen später hingegen implodiert die von Johnson zusammengestellte Brexit-Regierung. In der Zwischenzeit hatte sich gezeigt, dass die Kombination von programmatischer Konzeptionslosigkeit der Regierung und dem anhaltenden, notorischen Fehlverhalten des Premierministers den Machterhalt der Partei der britischen Bourgeoisie gefährdet. Bei zwei Nachwahlen in sozial vollkommen unterschiedlichen Wahlkreisen hatten die Tories herbe Niederlagen erlitten.

Die Liberaldemokraten eroberten einem Stammwahlkreis der Konservativen im Südwesten Englands mit einem Swing von 30%; zuvor hatten die Tories diesen Wahlkreis nie verloren. Im »roten Städtegürtel« im Norden Englands gewann die Labour Party einen Wahlkreis zurück, der 2019 einen konservativen Mandatsträger ins Unterhaus entsandt hatte. Damit zeichnete sich die Perspektive einer Koalitionsregierung von Labour Party und Liberaldemokraten bei den nächsten Gesamterneuerungswahlen ab.

Die Wahlniederlagen führten jenen Kreisen im Tory-Establishment, die im Unterschied zu Johnson auf eine konzeptionell-strategische Erneuerung konservativer Politik für Wirtschaft, Staat und Militär setzen, vor Augen, dass der Rekurs auf den Brexit als reaison d’être der Regierungspolitik nicht funktionieren kann, wenn das Charisma des populistischen Regierungschefs, der als Personifikation des Brexits agiert, durch den Verlust seiner moralischen Integrität zerstört ist. Im Kabinett repräsentierten diesen Gegenkurs der zurückgetretene Finanzminister Rishi Sunak, der von Johnson am Tag der Kabinettsrevolte wegen »Illoyalität« entlassene Regionalentwicklungsminister Michael Gove und der im Kabinett verbliebene Verteidigungsminister Ben Wallace.

In den Niederlagen der Tories bei den Nachwahlen und auch schon bei den Kommunalwahlen in England Anfang Mai kam kumuliert zum Ausdruck, dass die gesamte Konstruktion der Tory-Regierungspolitik ins Wanken geraten ist. Im Wahlprogramm 2019 war nicht nur die Umsetzung des Brexits, sondern auch die Brexit-Dividende versprochen worden. Die Gewinne bleiben jedoch aus, sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch, was nicht mehr mit einer Anti-EU-Politik kaschiert werden kann. In den vier Wochen nach dem ersten, noch gescheiterten Versuch, Johnson abzuwählen, hat sich die Defensive der Tories in jedem dieser politischen Handlungsbereiche gezeigt.


Ausbleiben der Brexit-Dividende

Innenpolitisch ist der Versuch der Tory-Regierung gescheitert, Arbeitskämpfe zur Korrektur der Verteilung der Primäreinkommen in der Manier der Gewerkschaftsfeindlichkeit à la Thatcher im Kern zu ersticken. Es gelang der konservativen Regierung nicht, den Auftaktstreik der Eisenbahnbeschäftigten zu desavouieren. Er fand in der Bevölkerung positive Resonanz. Der Streik wird als Erfolg gesehen, auch wenn die Tarifauseinandersetzung noch nicht abgeschlossen ist. Die für den öffentlichen Sektor verhängte 3%-Lohnbremse wird die Regierung schwer durchsetzen können. Johnson hat hier in präsidialer Weise keine Position bezogen und die Diskriminierung der Gewerkschaften den zuständigen Kabinettsmitgliedern überlassen.

Besonders betroffen von der konservativen Lohnbremse sind die Beschäftigten des Nationalen Gesundheitsdiensts, der wegen der Post-Brexit-Restriktionen gegenüber Arbeitsmigrant*innen permanent personell unterbesetzt ist. Zudem haben zwölf Jahre Austeritätspolitik, Outsourcing von Aufgaben an Privatunternehmen und die Anspannungen während der Corona-Pandemie das öffentliche Gesundheitssystem in die Knie gezwungen. Nirgendwo in Europa sind die Wartezeiten in den Notaufnahmestationen länger als im NHS England. Als eine der größten Lügen Johnsons hat sich das Wahlversprechen erwiesen, innerhalb dieser Legislaturperiode »40 neue Krankenhäuser« zu bauen. So überrascht es nicht, dass es Gesundheitsminister Sajid Javid war, der die Kabinettsrevolte mit seinem Rücktritt in Gang setzte.

Die Hilfspakete zur Abfederung der explodierenden Lebensmittel- und Energiepreise sind unzureichend, sie halten die weitere Verarmung von Millionen in sozial benachteiligten Haushalten nicht auf. Der Streit zwischen Johnson und seinem Finanzminister Sunak über Ausmaß und Finanzierung der weiteren Hilfspakete und der überambitionierten Wahlversprechen wurde im Detail nicht öffentlich ausgetragen, blieb aber Medien und Wählerschaft nicht verborgen. Sunak widersetzte sich der Forderung Johnsons, die austeritätspolitische Haushaltsdisziplin zu verlassen.

Sunaks zeitgleich mit Javid erfolgter Rücktritt eröffnete ihm sogleich das Tor, als Kandidat der Londoner City um den Tory-Vorsitz auf die offene Bühne zu treten. Der Multimillionär hatte sein Wahlbüro in einem Hotel in Westlondon längst angemietet, sein statutenmäßig erforderlicher Wahlverein war schon am 23. Dezember letzten Jahres ins Vereinsregister eingetragen worden.


Kein außenpolitischer Aufbruch

Außenpolitisch hat sich gezeigt, dass das Vexierbild eines »Globalen Britanniens« ein Propagandakonstrukt ist. Johnson hatte diese Parole von seiner Vorgängerin Theresa May übernommen und als Gebilde bilateraler Handelsverträge präsentiert, in dessen Zentrum das Vereinigte Königreich wie einst das Britische Empire als Nutznießer zu neuem Glanz aufsteigt und überlegen auf supranationale und multilaterale Kooperationen herabblickt.

Schon im letzten Jahr hatte sich gezeigt, dass Johnson als Gastgeber des G7-Gipfels und die britische Regierung als Gastgeber der COP26-Klimakonferenz keine Impulse setzen konnten. Die Politik der »Stärkung der Demokratien gegenüber den Autokratien« war von der Biden-Administration auf den Weg gebracht worden. Die Fortschritte in den Vereinbarungen zur Abwendung des Klimanotstands wurden ohne den britischen Umweltminister gefunden.

Der außenpolitische Bedeutungsverlust des Vereinigten Königreichs offenbarte sich schlagartig Ende Juni bei den drei internationalen Zusammenkünften, die für das UK in diesem Jahr die höchste Priorität hatten: das Treffen der 46 Commonwealth-Staaten in Ruanda, die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschef beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau und die NATO-Jahreskonferenz in Madrid.

Johnsons Position bei dem Commonwealth-Meeting war durch die Kritik des britischen Thronfolgers an der menschenverachtenden Asyl- und Deportationspolitik der Tory-Regierung desavouiert. Beim G7-Gipfel war Johnson die Randfigur. Er sei bei keinem der internationalen Gipfeltreffen auf Vertragsverletzungen internationaler Verträge durch die aktuellen Gesetzesentwürfe seiner Regierung angesprochen worden, antwortete er auf Befragung. Das war nicht gelogen, aber auch nicht Gegenstand der Agenda.

Auf dem NATO-Treffen ist dem »Globalen Britannien« mit der neuen NATO-Strategie seitens der Globalmacht USA der Platz in der Welt zugewiesen worden. Der Beginn der jahrelangen Vorbereitung des NATO-Beitritts von Schweden und Finnland durch die Militärkooperation des UK mit allen skandinavischen und baltischen Staaten sowie der Beginn der Kooperation der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste in der Ukraine liegen jeweils vor Johnsons Amtszeit als Premierminister und auch vor seiner Amtszeit als Außenminister von 2016 bis 2018. Die Federführung des »Integrated Reviews«, der im letzten Jahr aktualisierten britischen Militärdoktrin, lag bei Verteidigungsminister Wallace.

Über die Teilnahme an den drei internationalen Konferenzen erstattete Johnson nach Rückkehr Bericht. Die Regierungserklärung war substanzlos, sie wurde von den eigenen Reihen überwiegend mit Schweigen quittiert. Zeitgleich bereitete die Mehrheit seines Kabinetts die Revolte vor; nur 24 Stunden später erreichten ihn die ersten Rücktrittsschreiben.


Zuspitzung der Post-Brexit-Politik

Die Brexit-Politik der Konservativen Regierung ist innenpolitisch wie außenpolitisch gescheitert. Die langanhaltende Produktivitätskrise der britischen Industrie sowie die Leistungsschwäche der öffentlichen Infrastruktur und der Sozialsysteme ist nicht nur durch die Folgen der Corona-Pandemie, sondern vor allem wegen der Folgen des Brexits offengelegt worden. Den bürokratisch erschwerten und von Unsicherheit geprägten Handelsbeziehungen zur EU steht keine Kompensation in Form einer Verbesserung der Position des Globalen Britanniens in anderen Regionen des Weltmarkts gegenüber. So sind etwa die Exporte der britischen Landwirtschaft 2021 um 19% gegenüber dem Vorjahr gesunken.

Allein in der militärischen Kooperation verbucht das Vereinigte Königreich international ein Plus, vor allem wegen der frühzeitigen und umfangreichen militärischen Ausrüstung der ukrainischen Armee auch schon vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die anhaltende Erosion seiner Zustimmungswerte konnte der jetzt scheidende Premier aber auch mit den offen zur Schau gestellten außenpolitischen Aktivitäten nicht mehr aufhalten, auch nicht mit mehrmaligen Besuchen in Kiew.

Dem Scheitern ihrer Brexit-Politik versucht die rechtspopulistisch dominierte Tory-Regierung mit einer Reprise des EU-Bashings zu begegnen. Doch die völkerrechtswidrigen Gesetzentwürfe zum Nordirland-Protokoll [1] und zum Unterlaufen der Europäischen Menschrechtrechtskonvention finden nicht mehr den starken Resonanzboden wie im Wahljahr 2019 der Slogan »Get Brexit Done«. Die Gesetzesinitiativen beschleunigen vielmehr den Verfall der britischen Union. Die schottische Regierung hat ein erneutes Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands auf den 19. Oktober 2023 terminiert, die irische Partei Sinn Féin orientiert auf ein Referendum zur Wiederherstellung der irischen Einheit innerhalb der nächsten Jahre.

Der fragile Frieden in Nordirland wird im konstitutionellen Rahmen des Belfaster Karfreitagsabkommens von den disparaten nordirischen Gemeinschaften austariert. Eine zentrale Institution des Irisch-Britischen Vertrags, mit dem das Belfaster Abkommen 1998 implementiert worden ist, ist die »West-Ost-Kommission« zur Klärung irisch-britischer Angelegenheiten.
Die Geringschätzung des Karfreitagsabkommens seitens der Brexit-Regierung bei aller gegenteiligen Rhetorik zeigt sich darin, dass trotz der drängenden Probleme in Nordirland der britische Premierminister lange im Voraus von einer Teilnahme am 7. britisch-irischen Ratsgipfel am 8. Juli Abstand genommen hatte.

Ihn hätte der für Regionalentwicklungspolitik zuständige Minister Gove vertreten sollen, der von Johnson aber unehrenhaft entlassen worden war. Nun sitzt den Ministerpräsidenten aus Irland, Schottland und Wales seitens der britischen Regierung ein Staatssekretär gegenüber, während Nordirland nicht vertreten ist, weil die Bildung der nordirischen Regionalregierung wegen des Streits von nordirischen Unionisten und englischen Konservativen über das Nordirland-Protokoll blockiert wird.


Die Konversion der Konservativen zum Rechtspopulismus

Es ist nicht die Person Boris Johnson, sondern die Konservative und Unionistische Partei, so der volle Name der Tory-Partei, die mit ihrem nationalistischen Großprojekt der Wiedergeburt eines von supranationaler Zusammenarbeit befreiten Königreichs gescheitert ist.

  • Der Brexit setzt entgegen den Lügen während der Austrittskampagne keine zusätzlichen Ressourcen für die Erneuerung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat frei, im Gegenteil: er verschärft die sozialen und regionalen Ungleichheiten.
  • Der Brexit verbessert nicht die Position des Vereinigten Königreichs auf dem Weltmarkt, im Gegenteil: Die neuen bilateralen Handelsverträge kompensieren nicht die Einschränkungen im Handel mit der EU.
  • Der Brexit dient den Tories zur Unterminierung der Autonomie in Schottland, Wales und Nordirland, indem vormals in der EU liegende Verantwortlichkeiten nicht entsprechend den Teilautonomiegesetzen auf die Regionen übertragen werden, sondern bei der Zentralregierung in London verbleiben. Der Brexit löst nicht die regionalen Ungleichheiten, im Gegenteil: er verschärft die nationalistischen Ressentiments innerhalb der britischen Union. Die Union des Vereinigten Königreichs steht zur Disposition.

In einer zwei Jahrzehnte dauernden Auseinandersetzung hat der rechtspopulistisch-nationale Flügel in der Konservativen Partei die Überhand gewonnen. Das Plebiszit zum Austritt aus der EU konnte rechtsstaatlich nur in den Bahnen der repräsentativen Demokratie umgesetzt werden, indem die Verfassung gedehnt wurde. Die Partei hatte Johnson mit der Umsetzung des Brexits beauftragt, weil seine EU-Feindlichkeit, sein Populismus und seine Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Rechtsstaat bekannt waren.

Daher das große Erstaunen Johnsons in seiner Rücktrittsrede darüber, dass ihm die Führung bei der Vollendung des Brexit-Feldzugs entzogen worden ist; man wechsle weder Pferde noch Kutscher, wenn man viel erreicht und das Ziel vor Augen habe. Ganz Rechtspopulist, hat er den Wahlsieg 2019 nicht als Stärkung einer politischen Partei im Rahmen der repräsentativen Demokratie gesehen, sondern in Fortsetzung des Brexit-Plebiszits als persönlichen Auftrag als Leader der Partei und als Leader der Nation.


Der Showdown

In Fraktion, Partei und Wählerschaft war aber auch bekannt, dass Alexander Boris de Pfeffel Johnson Probleme mit seiner moralischen Integrität hatte. Korruptionsvorwürfe, Übertretungen bürgerlicher Moralvorstellungen, Nachweis vorsätzlicher Lügen, Strafbefehle wegen Verletzung der Corona-Distanzvorschriften – all das führte dazu, dass seine Zustimmungswerte abgesehen von der kurzen Zeit vor und nach dem Wahlsieg 2019 beständig im negativen Bereich waren.

Nach dem überstandenen Misstrauensvotum vergrößerte sich der Abstand zwischen der Labour Party und Konservativer Partei in den Meinungsumfragen. Johnsons Nimbus als Wahlgewinner war dahin. Während seiner Auslandstour wurde ein weiterer Fall sexualisierter Gewalt aus den Reihen der Tory-Abgeordneten bekannt. Der stellvertretende Fraktionsgeschäftsführer der Regierungsfraktion Chris Pincher – entsprechend den Usancen im Westminster-Parlament vom Regierungschef berufen – musste zurücktreten.

Entgegen der Wahrheit wies Johnson durch sein Büro die Kabinettsmitglieder an, gegenüber Medien zu behaupten, ihm seien frühere sexuelle Übergriffe Pinchers nicht bekannt gewesen. Die erneute Lüge des Lügenbarons entlarvte das jetzige Oberhausmitglied Lord McDonald, ehemals Behördenchef des Außenministeriums. Diese Brüskierung brachte das Fass in Fraktion und Kabinett zum Überlaufen. Dennoch widersetzte sich Johnson den privat und öffentlich vorgetragenen Rücktrittsforderungen.

Die Autorität des Premierministers war jedoch untergraben, nachdem innerhalb von 36 Stunden über 60 von Johnson mit politisch-administrativen Aufgaben beauftragte Tories ihren Rücktritt eingereicht hatten, darunter fünf Minister*innen mit Kabinettsrang, 25 Staatssekretäre und über 30 weitere Fraktionsmitglieder, die im Auftrag der Regierung als parlamentarische Referenten für Kabinettsmitglieder oder als Außenhandelsbeauftragte tätig waren.

Den politischen Sargnagel schlug der am Tag zuvor von Johnson ernannte Finanzminister Nadhim Zahawi ein. Nachdem Johnson Zahawis Forderung nach Rücktritt im Privatgespräch nicht nachkam, machte er seine Forderung publik mit der Begründung, die Regierung verfüge mit Johnson nicht über die notwendige Integrität. Als Verdienste hob er hervor: »Niemand wird Ihre Verdienste vergessen bei der Durchsetzung des Brexits, bei der Verhinderung der Regierungsübernahme durch einen gefährlichen Antisemiten, bei unserer Handhabung der Coronakrise und bei unserer Unterstützung der Ukraine.«

Nun, in der Coronakrise weist das UK trotz des ambitionierten Impfprogramms wegen der anfangs verfolgten Politik der Herdenimmunität eine der weltweit höchsten Übersterblichkeitsraten auf; inwieweit die rein militärische Unterstützung der Ukraine zu einer Friedenslösung beitragen kann, ist umstritten; und die Diffamierung des zweimaligen Spitzenkandidaten der Labour Party, zuletzt als Widerpart des jetzt aus dem Amt gejagten Premierministers, war in der Tat historisch ohne Beispiel und ist, wie Jeremy Corbyn jüngst in einem ausführlichen Interview erläuterte, noch längst nicht in allen Aspekten ausgeleuchtet, vor allem nicht, inwieweit von den Tories kontrollierte staatliche Stellen in die Diffamierungskampagne involviert waren.


Der Brexit als Korsett konservativer Politik

Doch in einem hat Zadhawi recht: Indem er die über fast 50 Jahre dauernde Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union beendet hat, »wird Boris Johnson in die Geschichtsbücher als ein Premierminister eingehen, der wirklich behaupten kann, die Richtung des Vereinigten Königreichs grundlegend verändert zu haben«, so der Politologe Matthew Goodwin von der Universität Kent in seiner Analyse.

»Ob positiv oder negativ, die Folgen seiner Amtszeit werden noch jahrzehntelang, wenn nicht gar jahrhundertelang, zu spüren sein. Auf dem Weg dorthin hat er auch seine Partei, ihre Wählerschaft und die gesamte politische Landschaft verändert. Es trifft zu, dass die Neuausrichtung Großbritanniens schon lange vor Johnsons Amtsantritt im Gange war. Die Invasion der Konservativen Partei in die Kerngebiete der Labour Party war nicht erst unter Theresa May zu beobachten, sondern lässt sich schon auf die zunehmende Apathie in der britischen Arbeiterschaft und anderen nicht-akademischen Schichten in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren zurückführen, von denen sich viele von New Labour wegen ihrer Unterstützung der massenhaften Arbeitsmigration und der EU-Mitgliedschaft abgewandt hatten. Aber es war Johnson, der durch die schiere Kraft seines Charismas in den turbulenten Monaten des Jahres 2019 eine größere Anzahl von ihnen für die Konservative Partei gewinnen konnte.«

Wie Goodwins Analyse der Daten der britischen Wahlstudie zeigt, »war die positive Einstellung zu Boris Johnson nicht nur einer der wichtigsten Faktoren für das Brexit-Votum, sondern auch einer der wichtigsten Faktoren dafür, ob jemand 2019 von Labour zu den Konservativen wechselte. ›Meine Wähler haben nicht für die Konservative Partei gestimmt‹, fasste ein Abgeordneter zusammen. ›Sie stimmten für Boris.‹ Letztlich war es Johnson, der die Neuausrichtung vorantrieb und seiner Partei eine Wählerschaft bescherte, die sich demografisch und ideologisch von der unterschied, die sich nur vier Jahre zuvor um David Cameron geschart hatte. Der Post-Brexit-Konservatismus ist viel stärker von Arbeiter*innen, Nicht-Akademiker*innen, Älteren, Weißen geprägt und weniger von Städtern und kulturell Konservativen, als es der Konservatismus vor dem Brexit je war.«

Doch wegen seiner politischen Konzeptionslosigkeit konnte Johnson die geweckten Hoffnungen der neu gewonnenen Wähler*innen nicht erfüllen. »Sie erwarteten eine ernstzunehmende Strategie für den Ausgleich regionaler Ungleichheiten, aber er hat sie nicht geliefert. Sie wünschten sich eine starke Gegenwehr gegen den Illiberalismus des radikalen ›aufgeweckten‹ Progressivismus, aber er schien sich nicht darauf einlassen zu wollen. Während sie glaubten, einen politischen Kämpfer gewählt zu haben, sorgte er sich zu oft darum, wie er von kosmopolitischen Liberalen wahrgenommen wird.

Während sie dachten, er sei auf ihrer Seite, schien er sie mit Verachtung zu behandeln. Und während sie sich eine Wirtschaft und ein System wünschten, das mehr für die einfachen arbeitenden Menschen tut, schien er oft mehr daran interessiert zu sein, in London eine steuerbegünstigte Finanzmetropole, ein Singapur an der Themse zu bauen. Boris Johnsons Konservative Partei hat sich in der Wirtschaft stets mehr nach rechts und in der Kultur mehr nach links orientiert als viele ihrer neuen Wähler*innen.«

Die von Johnson versprochene Umwälzung der sozialen Verhältnisse, bei der der Brexit nicht als Endstation, sondern als Tor zu weitreichenden Reformen des gesamten Systems gesehen wurde, kam nicht zustande. Vielmehr wuchs die Kluft zwischen den liberalen Verfechtern eines gemäßigten Brexits und den Verfechtern eines harten Brexits mit einer kulturkonservativen Vision, die viele konservative Wähler*innen teilen. »Auch heute noch sitzt diese Spannung im Herzen der Partei, wie eine nicht explodierte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg, die darauf wartet, unerwartet im Angesicht von Johnsons Nachfolger*in  zu explodieren.«

Auch wenn viele Konservative in Partei und Fraktion jetzt erleichtert aufatmen, dass das Johnson-Regime zu Ende geht, bleiben sie gezwungen, im Rahmen der von ihm mobilisierten rechtspopulistischen Neuausrichtung zu agieren. Für die Konservativen gibt es keinen anderen Weg, an der Macht zu bleiben. Sie müssen versuchen, die Wähler*innen erneut an sich zu binden, die vor weniger als drei Jahren für Johnson gestimmt haben und die eine Rückkehr zum neoliberalen Konservatismus der 1980er und 2010er Jahre ablehnen. Ob Johnsons Nachfolger*in die gesamte Wählerbasis von Dezember 2019 halten kann, ist eine offene Frage.

Zuvor haben jedoch die Parteimitglieder in der Konservativen Partei das Wort. Über eine grundlegende Veränderung der Sozialstruktur der Mitgliedschaft ist nichts bekannt. Vor drei Jahren hatte Johnson die Wahl mit weitem Vorsprung gewonnen. EU-Feindlichkeit, populistisches Auftreten und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Rechtsstaat werden auch dieses Mal die besten Voraussetzungen sein, um an die Spitze der Tories zu gelangen. Es bedarf nur eines leicht besseren Leumunds als den, der den jetzt unfreiwillig scheidenden Amtsinhaber umgibt.

Anders als bei Johnsons Rücktritt als Außenminister vor vier Jahren ist heute entschieden, dass sich in der Konservativen Partei der rechtspopulistische Flügel gegenüber dem neoliberal-konservativen Flügel durchgesetzt hat. Aber heute wie damals gilt für Johnson als politisches Biest, als zoon politikon: Jegliche politische Formation des Rechtspopulismus benötigt neben ihren programmatischen Kernaussagen als Aushängeschild immer einen klugen und auch bekannten Kopf. Blond ist immer noch eine Haarfarbe, die im Trend liegt.

Anmerkung

[1] Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag des Autors im aktuellen Heft von Sozialismus.de 7/8-2022, S. 51–56: Der Vertragsbruch der Brexit-Regierung. Zum Konflikt um das Irland-Nordirland-Protokoll.

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