2. März 2016 Bernhard Sander: Hollande will auch Sozialstandards aufkündigen
Radikalumbau des Arbeitnehmerstatus
Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat nach dem Ausstieg der Justizministerin die Regierungsmannschaft um Premier Valls für die vermutlich letzte entscheidende Auseinandersetzung vor dem Wahlkampf 2017 umbilden lassen. Sogar einige Grüne ließen sich als ministrables Feigenblatt einbeziehen; ihre Partei ist tief zerstritten.
Das Parlament hat den Notstand in der Verfassung um den Ausnahmezustand erweitert und für drei Monate verlängert. Gleichzeitig hat die Regierung nach dem verlorenen Kräftemessen mit der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierung in der Frage der Fiskaldisziplin und einer aktiven europäischen Wirtschaftspolitik die Reform des Arbeitsmarktes als »Pakt der Verantwortung« in die Wege geleitet.
Sollte sich gegen die Aufkündigung der Sozialstandards im Lohnarbeitsverhältnis größere Widerstände entwickeln, die sich nicht mehr mit dem verfassungsmäßig vorgesehenen Notverordnungsparagrafen 49,3 beherrschen lassen, steht das Arsenal der Nationalgendarmerie im vollen Umfang bereit.
Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den letzten drei Jahren mit vierteljährlichen Wachstumsraten zwischen -0,2 und +0,4% nur noch dahindümpelte, verspricht sich die Regierung Valls nun entscheidende Beschäftigungsimpulse von einer Reform des Arbeitsrechts: Verlängerung der Wochenarbeitszeit, Erleichterung von Entlassungen, Zurückdrängen des Gewerkschaftseinflusses lauten die direkt vom Unternehmerverband MEDEF inspirierten Stichworte.
- Gnadenschuss für die 35-Std.-Woche: Formal soll sie nicht aufgehoben werden; aber bis zu 16 Wochen im Jahr soll bis zu 46 Stunden gearbeitet werden, mit Genehmigung der Gewerbeaufsicht auch bis zu 60 Stunden. Bisher galten 44 Stunden in maximal zwölf Wochen als Höchstgrenze. Die elf Stunden obligatorische Ruhezeit zwischen zwei Schichten wird ebenfalls abgeschafft. Mit Steigerung der extensiven Ausbeutung soll der deutsche Produktivitätsvorsprung kompensiert werden. Überstundenzuschläge (10-25%) sollen die Akzeptanz erhöhen. In Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten können die individuellen Arbeitsverträge abweichende Arbeitszeiten festlegen.
- Der »Absicherung der betriebsbedingten Kündigung« wird die Absicherung des Loihnabhängigen geopfert: Entlassungen sollen künftig nicht nur bei akuten »wirtschaftlichen Schwierigkeiten« möglich sein, sondern auch bei »technologischen Veränderungen, die zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit nötig sind«, erleichtert werden. Die Abfindungen bei Massenentlassungen sollen bei maximal 16 Monatsgehältern (bisher 25) für 20 Jahre Betriebszugehörigkeit gedeckelt werden. Persönlicher Widerspruch gegen Betriebsvereinbarungen auf Basis bestehender arbeitsvertraglicher Vereinbarungen ist nicht mehr möglich und führt zur Entlassung ohne Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, was ebenfalls einer MEDEF-Forderung aus dem Jahre 2012 entspricht.
- Die Belegschaften sollen durch Abstimmungen entscheiden können, wenn es Differenzen zwischen den betrieblichen Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften in Tariffragen gibt. Bei Smart hatten die Gewerkschaften CGT und FO eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 39 Stunden ohne Lohnausgleich gegen den Willen der Mehrheit der Beschäftigten monatelang blockiert. Künftig soll das Veto der stärksten Gewerkschaft im Unternehmen ersetzt werden durch die Zustimmung von Arbeitnehmer-Organisationen, die 50% der Belegschaft repräsentieren. Dieses Vorhaben entspricht einem Gesetzentwurf der Sarkozy-Partei von 2014. Den Laien-Arbeitsrichtern, die bisher die »wirtschaftlichen Gründe« bei Massenentlassungen zu beurteilen hatten, wird die Aufwandsentschädigung gekürzt, was die Bereitschaft für dieses Ehrenamt noch weiter sinken und die juristischen Freiheitsgrade der Arbeitgeber steigen lässt.
Neben der Enteignung der Staatsbürgerrechte für straffällige MigrantInnen ist dies eine viel weitergehende Enteignung der Staatsbürgerrechte als Lohnarbeiter, die zum Teil seit der Volksfront nach Kämpfen in Kompromissen festgeschrieben werden konnten.
Die Gewerkschaften sind konsterniert: »unausgewogen« (Gewerkschaft der Führungskräfte CGC), »von liberalen Technokraten ohne Kenntnis der betrieblichen Wirklichkeit« (FO) geschrieben, »um die Gewerkschaften zu umgehen« (CGT) und »den Lohnempfänger zur abhängigen Variable im Anpassungsprozess zu machen« (christliche CFTC). Die einflussreiche reformistische CFDT bemängelt, dass »der Arbeitgeber im Falle eines Scheiterns von Verhandlungen nun in zu vielen Fällen einseitig entscheiden« könne, signalisiert aber bereits Verhandlungsbereitschaft über das Gesetzesvorhaben.
Der Vorsitzende der CGT, Martinez, sprach von einer Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Die Hierarchie der Normen (Betriebsvereinbarung – Branchenvertrag – Gesetz) werde auf den Kopf gestellt, das Arbeitsgesetz sei nur noch »ein kleines Buch, zu dem man greift, wenn man nicht mehr weiß, was man sonst tun soll«. Aber er rechnet auch damit, dass die Mobilisierung schwer werde, da die Gefängnisstrafen gegen die Besetzer von Goodyear und von Air France ihre abschreckende Wirkung täten.
Die Empörung reicht bis hinein in die Regierungspartei, die angetreten war, »den sozialen Dialog zu erneuern«. »Zuviel ist zuviel« heißt es in dem Aufruf, den die frühere Arbeitsministerin Martine Aubry initiiert hat und den auch Daniel Cohn-Bendit und andere Grüne, »Aufrührer« der PS-Linken und Ökonomen unterschrieben haben. Der Aufruf kritisiert nicht nur die neuen Arbeitsgesetze und das Staatsbürgerrecht, sondern auch die Deckelung der Zahl von Asylsuchenden und die 41 Mrd. Steuergeschenke an Unternehmen und Vermögensbesitzer.
»Hier geht es um Werte, Gerechtigkeit, soziale Errungenschaften, universelle Menschenrechte. Was bleibt von den sozialistischen Idealen, wenn Tag für Tag die Prinzipien und Grundlagen zersetzt werden?«, fragt der Kreis um Aubry empört. Der Aufruf greift die Themen auf, mit der Intellektuelle vor einigen Wochen zu einem Vorwahlverfahren aufgerufen hatten.
Aubry, »Mutter der 35-Stunden-Woche«, sieht eine dauerhafte Schwächung Frankreichs und der Linken. »Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, brauchen wir echte Reformen, die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt voranbringen… Schlicht gesagt – nach Links«, gibt Aubry die Marschrichtung an.
Die Sprecherin der traditionellen Sozialdemokraten im PS trat nun aus dem Parteivorstand zurück. Ihre Strömung war es vor allem, die Valls eine Mehrheit auf dem letzten Parteitag verschafft hatte. Der Wirtschaftsminister hat bereits angekündigt: »Man kann nicht die berufliche Sicherheit in derselben Art organisieren wie 1945; sie muss vor allem individualisiert werden.« Er kündigt damit den Gründungskonsens der französischen Republik in der Vereinbarung der Sozialparteien und Resistancebewegungen auf.
Hinter der Empörung steht auch die Furcht, bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr für einen solchen Text das Mandat zu verlieren. Zum Spiel gehört ebenso, dass die Regierung den Gesetzesentwurf kurz vor der ersten Lesung erst einmal wieder zurückgezogen hat, um die Hoffnung auf Konzessionen zu wecken. Das Fehlen eines definitiven Textes erschwert wiederum die Abstimmung unter den Gewerkschaftsbünden. Doch ist mit dem Aufruf Aubrys das Thema bereits jenseits der üblichen Spielchen der politischen Klasse angelangt.
In der Zivilgesellschaft macht sich ebenfalls Unruhe breit, in nur drei Tagen zeichneten 360.000 Menschen eine Petition »Neues Arbeitsrecht – nein danke!« gegen den Gesetzesentwurf, den Frauen- und Jugendverbänden als »Alarm« auf den Weg gebracht haben. In diesen Tagen jährt sich zum zehnten Mal die Bewegung gegen den CPE –Ersteinstellungsvertrag, der den Status junger ArbeitnehmerInnen flächendeckend endgültig prekarisiert hätte.
Der Riss innerhalb der Regierungspartei ist nicht mehr zu übersehen, doch noch kann aus dem »Ende der Regentschaft«, der »Selbstzerfleischung« oder dem »Suizid«, wie die Republikaner höhnen, eine Chance werden. Die Mehrheit des PS-Parteitages für den Kurs von Premier Valls entspricht nicht einer Mehrheit in der »Familie der Linken« innerhalb und außerhalb der Partei. Doch nur durch ein einheitliches Agieren aller linken Strömungen kann der neoliberale Regierungsflügel im PS so in die Defensive gedrängt werden, dass im kommenden Jahr die beiden Rechtsparteien geschlagen werden könnten.
Der selbsternannte Chef der Linken der Linken, Jean-Luc Mélenchon, hat seine Präsidentschaftskandidatur bereits angekündigt und eine Teilnahme an einer Vorwahl ausgeschlossen. Martine Aubry, die Hollande 2011 bei einem solchen Verfahren unterlag, hat ihre Bereitschaft zu einer Kandidatur noch nicht erklärt. Die von ihr geforderte Linkswende setzt allerdings mehr voraus als die Auswechslung eines Präsidentschaftsbewerbers. Ob es zu einer Neuformierung der Linken jenseits der Regierung kommt, hängt nun auch von den Kommunisten, der Linkspartei und anderen ab.