23. Juni 2020 Otto König/Richard Detje: Diskriminierung und rassistische Gewalt – auch in der deutschen Polizei
Reflexartige Abwehr jeglicher Kritik
Nach dem Mord eines weißen Polizisten an dem Afroamerikaner George Floyd in Minnesota (USA) bekunden auch in Deutschland Tausende ihre Solidarität und protestieren gegen rassistische Diskriminierung. Auch wenn die Verhältnisse in den USA mit denen in Deutschland nicht vergleichbar sind – Vorwürfe hinsichtlich rassistischer Polizeigewalt sind auch hierzulande nicht neu.
Antirassistische Initiativen und Vereine haben in den vergangenen Jahren immer wieder auf dieses Phänomen hingewiesen. Mindestens zehn Todesfälle in Polizeigewahrsam, während Polizeieinsätzen oder in staatlichen Einrichtungen wurden gezählt, bei denen die Opfer Nichtweiße waren und die Umstände es vermuten lassen, dass die Hautfarbe etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.
Als nun die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken forderte, dem »latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte« den Kampf anzusagen, wiesen Innenpolitiker in den Reihen der Union, FDP, AfD und auch der SPD[1] sowie Vertreter der Polizeigewerkschaft (GdP) einen vermeintlichen »Generalverdacht« gegen die Polizei empört zurück. Der GdP-Vize Jörg Radek monierte, wer der Polizei latenten oder strukturellen Rassismus unterstelle, wisse entweder nichts über Polizeiarbeit oder wolle mit falscher Kritik an dem »aus Sicht der GdP verhältnismäßigen Vorgehen der Einsatzkräfte« in populistischer Manier politisches Kapital schlagen. Ein bekannter Reflex: Korpsgeist in der Polizei und im Lager von »Law-and-Order«-Politikern führen zu einer Abwehr jeglicher Kritik und Kontrolle. »Ich möchte nicht sagen, dass wir keinen Rassismus in der Landespolizei Schleswig-Holstein haben…«, erklärte hingegen der stellvertretende GdP-Landesvorsitzende Sven Neumann. »Wir sind Teil der Gesellschaft, in der Gesellschaft ist Rassismus immer wieder ein Thema. Und ich glaube, dass wir auch Fälle in der Landespolizei haben.«[2] Doch dieser Rassismus sei nicht strukturell.
Für Thomas Feltes, von 2002 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, steht fest: Es gibt die üblichen 15 bis 20% mit rechtspopulistischem, rassistischem, islam- und judenfeindlichem Hintergrund – nichts anderes heißt »Polizei als Spiegel der Gesellschaft«. Natürlich gebe es bei der Polizei wie auch in anderen Berufsgruppen latenten Rassismus, erklärt auch der Polizeiforscher Hans-Gerd Jaschke in einem Interview mit der Tageszeitung (10.6.2020). Die besondere Bedeutung der Polizei liege darin, dass sie über das Gewaltmonopol verfügt. »Wenn der Polizeibeamte mit ethnischen Minderheiten zu tun hat und dort seine Überzeugungen auslebt«, drohe Gefahr für die Demokratie. Unterstrichen wird das durch Berichte von Betroffenen und Fälle wie den Tod von Oury Jalloh. Die verkohlte Leiche des Asylbewerbers aus Sierra Leone wurde 2005 in einer Gewahrsamszelle einer Polizeiwache in Dessau gefunden. Der 37-jährige hatte sich trotz Fesselung in seiner Zelle in Dessau angeblich selbst angezündet. Obwohl Brandgutachten dies infrage stellten, führten mehrere Gerichtsverfahren lediglich zu einer Geldstrafe für den Dienstgruppenleiter. Ein rechtsmedizinisches Gutachten, das die Gedenkinitiative für Jalloh in Auftrag gab, stellte 2019 fest, dass er vor seinem Tod massiv misshandelt worden war.
Meist werden solche Skandale als »Einzelfälle« abgetan, obwohl es für Menschen mit dunkler Hautfarbe besonders krasse Momente ihrer Alltagserfahrung sind, wenn sie allein aufgrund ihres Aussehens verdächtigt und von Polizeimaßnahmen häufiger betroffen werden: Stichwort »Racial Profiling«.[3] Bisher hat die afrikanische Community – in Deutschland leben etwa eine Million Menschen afrikanischer Abstammung – noch nicht die Erfahrung gemacht, »dass die Polizei da ist, um sie zu schützen, sondern sie hat eher den Eindruck, dass die Polizei da ist, um sie zu verdächtigen«, kritisiert die CDU-Politikerin und Bundesvorsitzende von TANG (The African Network of Germany), Sylvie Nantcha. Einen Grund dafür sieht die deutsche Historikerin Fatima El-Tayeb darin, dass »antischwarzer Rassismus global ist, gerade weil er so eng verknüpft ist mit dem europäischen Aufklärungsdenken, das immer noch als Modell für moderne, ›zivilisierte‹ Gesellschaften fungiert. Dieses Denken betrachtet die Welt in einem hierarchischen Denkmuster: Weiß über Schwarz, männlich über weiblich, Okzident über Orient«.
Beispiele für latenten Rassismus sind auch aus den Ermittlungen im Kontext der rechtsradikalen NSU-Moden bekannt. Die staatlichen Ermittlungsbehörden hatten die Mordanschläge auf Migranten, die sogenannten »Döner-Morde«, und das Kölner »Nagelbomben«-Attentat lange Zeit vermeintlichen kriminellen türkischen Gruppen zugerechnet: »Türken morden Türken«. Aus Opfern wurden Tatverdächtige. Die Angehörigen wurden mit den ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert, ihre hingerichteten Männer, Söhne und Brüder seien in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen.
Zu den Vorgängen, bei denen Sicherheitsorgane mit fremdenfeindlichen oder rechtsradikalen Handlungen in Verbindung gebracht werden,[4] gehören auch die Aktivitäten der Gruppe »Nordkreuz« in Mecklenburg-Vorpommern, deren Mitglieder meist aus dem Umfeld von Bundeswehr und Polizei stammen. Der rechtsextremistische Verein hatte Angriffe auf politische Gegner geplant. Auf Rechnern der »Nordkreuzler« fanden sich 25.000 Namen und Adressen von Lokalpolitikern von SPD, Linken und CDU und anderen Personen, die als flüchtlings-freundlich gelten. Die Rechtsradikalen hatten schon 200 Leichensäcke und Ätzkalk bestellt und rund 10.000 Schuss Munition sowie eine Maschinenpistole aus Beständen des Landeskriminalamtes beiseitegeschafft.
Nachdem die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die im Münchner NSU-Prozess die Familie des ersten NSU-Mordopfers, Enver Simsek, in der Nebenklage vertrat, Anzeige erstattet hatte, ist eine rechte WhatsApp-Gruppe im Polizeirevier 1 an der Einkaufsstraße Zeil in Frankfurt a.M. aufgeflogen. Die Anwältin hatte ein mit »NSU 2.0« unterzeichnetes Fax erhalten, mit der Aufforderung, das Land zu verlassen: »Verpiss Dich, du miese Türkensau machst Deutschland nicht kaputt«. »Im Schreiben standen der Name meiner Tochter und unsere Privatadresse. Daten, die nicht im Telefonbuch stehen und auch sonst nicht öffentlich sind«, erklärte Basay-Yildiz. Sie kamen aus einem Rechner des Polizeireviers. Daraufhin wurde wegen des Verdachts auf einen rechtsradikalen Hintergrund gegen 40 Polizisten Ermittlungen eingeleitet. Schließlich wurden fünf Beamte aus dem Dienst entlassen.
Auch im Freistaat Sachsen hatte ein ehemaliger Polizeischüler öffentlich gemacht, wie in seinem Umfeld gehetzt wurde: »Wir sind aus Cottbus, und nicht aus Ghana, wir hassen alle Afrikaner«, hieß es dort.
Viele Fälle sind nicht mit letzter Sicherheit geklärt. »Anzeigen gegen Polizisten führen selten zu intensiven Ermittlungen und so gut wie nie zu Verurteilungen«, berichtet die Juristin Eva Maria Andrades vom Antidiskriminierungsverband Deutschland. Oft würden sich die Beamten sogar weigern, Anzeigen wegen rassistischer Beleidigung aufzunehmen. Es sei äußerst selten, dass überhaupt gegen Verantwortliche Anklage erhoben werde, Verurteilungen seien noch seltener und wenn überhaupt, fallen sie in der Regel milde aus. Bei vielen Polizisten, aber auch Staatsanwälten und Richtern fehle ein hinreichendes Bewusstsein für das Problem des Rassismus.
Hinzu kommt, dass innerhalb der Polizei keine Statistik zu rassistischen Vorfällen in ihren eignen Reihen geführt wird. Das Bundesinnenministerium spricht lediglich von 25 Verdachtsfällen bei der Bundespolizei seit 2012, davon seien 16 aus dem Kreis der Beamt*innen selbst gemeldet worden. In allen Bundesländern sind die Zahlen ähnlich dürftig.[5] Doch Erfahrungsberichte und Studien wie die des Bochumer Kriminologen Tobias Singelnstein zeigen, dass es »mindestens fünfmal mehr Verdachtsfälle von Polizeigewalt gibt, als in der offiziellen Statistik aufgeführt wird«. Sein Team hatte Gewaltbetroffene direkt befragt. Singelnstein plädiert für eine differenzierte Betrachtung des Problems, geht aber davon aus, dass bei rund 15% der Polizist*innen »verfestigte rassistische Einstellungen« vorhanden sein könnten.
Die sogenannte »Cop Culture« reproduziert ständig ein Bild der Polizei als sakrosankte, unparteiische und über dem gewöhnlichen Alltagsgeschäft stehende Ordnungsinstanz. Vor diesem Hintergrund stoßen selbst kleinste Reformen auf Widerstand. Aktuell ist dies an dem Sturmlauf der Entrüstung konservativer Politiker und der GdP gegen das vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossene Antidiskriminierungsgesetz (LADG) zu beobachten. Das Gesetz soll künftig die Menschen in Berlin vor Diskriminierung etwa wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft durch Behörden und Polizei schützen und die Beweislast umkehren sowie Klagen gegen Polizisten und Ansprüche auf Schadenersatz gegen das Land Berlin ermöglichen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will daraufhin bis auf Weiteres keine Bundespolizisten zu Einsätzen in die Hauptstadt entsenden. Er wolle seine Beamten nicht der »Diskriminierung« aussetzen, indem sie »beweisen sollen, dass sie nicht diskriminiert haben«. Das erinnert fatal an seine Verteidigungsstrategie für den geschassten Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen.
Zurecht fordert Céline Barry, Leiterin der »Each One Antidiskriminierungsstelle« bei EOTO e.V., eine Stärkung der Rechte der Betroffenen und wirksame Konsequenzen gegen Rassismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Der Staat müsse Aufklärung, Rechenschaft und effektive Schutzmechanismen gewährleisten. Politiker und zivilgesellschaftliche Kräfte dürfen es nicht zulassen, dass Sicherheitsbehörden ein politisches Eigenleben entwickeln, das sich im schlimmsten Fall – da sie das Gewaltmonopol innehaben – gegen die Demokratie richten kann.
[1] Die aufgeregte Reaktion mancher SPD-Landesinnenminister spiegelt eher parteiinterne Kämpfe und ein Nachtreten für die SPD-Vorsitzenden-Wahl wider als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Polizeigewalt
[2] www.deutschlandfunk.de/polizei-und-gewalt-erste-erfahrungen-mit-polizeibeauftragten.862.de.html?dram:article_id=478914
[3] Als »Racial Profiling« wird das Handeln von Polizei, Sicherheits- oder auch Einwanderungsbehörden bezeichnet, wenn dieses auf Kriterien wie dem physischen Erscheinungsbild basiert, also etwa Hautfarbe oder Gesichtszügen, sowie auf ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder nationaler Herkunft. Das Grundgesetz verbietet solche Benachteiligungen oder Diskriminierungen in jeglicher Form.
[4] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Rechtsextreme Netzwerke in Polizei und Bundeswehr. »NSU 2.0«, Sozialismus.Aktuell.de 27.12.2018.
[5] Die Bundesregierung plant neuerdings eine wissenschaftliche Untersuchung zu möglichen rassistischen Tendenzen in der Polizei. Die Bundesministerien für Inneres und Justiz seien »derzeit in der konzeptionellen Entwicklung für eine Studie zu »Racial Profiling in der Polizei«, sagte ein Sprecher des Innenressorts der Welt.