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28. Dezember 2021 Bernhard Sander: Ökonomie und Politik in den Niederlanden

Regierungsbildung, Virus-Krise und Wirtschaftsdogmatik

Foto: dpa

Marc Rutte kam in den Niederlanden mit der Bildung einer neuen Koalition nicht voran. Wegen eines Skandals schon drei Monate vor Ende der Legislaturperiode zurückgetreten, dann durch die Spaltung der Christdemokraten, Skandale und Zögern seiner bisherigen Koalitionspartner gelähmt, dauerte es schließlich fast ein Jahr, bis Rutte IV vereidigt werden konnte.

Zwar hat der mit drei Amtszeiten dienstälteste EU-Regierungschef die nationale Parlamentswahl im März mit leichten Zugewinnen für sich entscheiden können, aber die heterogenen Kräfte gegen ein »Weiter so« der VVD bilden die Mehrheit in der Wählerschaft.[1] Die wirtschaftliche Erholung kommt voran und die Wahrscheinlichkeit eines neuerlichen Einbruchs durch die verhängten pandemiebedingten Restriktionen steigt, so zeigt es jedenfalls die Projektion des niederländischen Planungsbüros.

Rutte hatte sich in der Vergangenheit als Häuptling der »Sparsamen Fünf« in der EU erst gegen ein Stärkungsprogramm und später gegen die Modalitäten dieses Programms gewehrt, musste aber im Wahlkampf durchaus expansive Akzente setzen, die eine moderate Erhöhung der Staatsverschuldung nach sich ziehen würden. Aber eine Vertiefung der sozialen Spaltung gerade in der für seine Partei VVD wahlentscheidenden Mittelschicht konnte sich selbst Rutte nicht leisten, auch wenn er dabei auf das abgehängte Fünftel keine Rücksicht nehmen wollte.

Das EU-Recovery-Programm von 750 Mrd. Euro, das Zwei-Billionen-US-Dollar-Programm des US-Präsidenten Rebuild America und der neue Fünfjahresplan der VR China haben vor allem binnenwirtschaftliche Schwerpunkte. Aber sie könnten auch für die Handelsnation Niederlande einen belebenden Sog für Exporte bewirken. Es bleibt aber zwischen den politischen Kräften umstritten, wie die Akzente gesetzt werden sollen.

Da war der Skandal um Ruttes erneutes politisches Fehlverhalten ein willkommener Anlass, den eigentlichen Wahlsiegern der Partei D66 mehr Einfluss zu verschaffen. Rutte favorisiert die alte Koalition aus seiner rechtsliberalen VVD, der linksliberalen D66, der christdemokratischen CDA und der calvinistischen Christenunie.

Vordergründig dreht sich die Sache darum, dass Rutte offenbar mit allen Mitteln zu verhindern trachtete, dass der CDA-Politiker Pieter Omzigt den im Lande üblichen Sondierungsauftrag des Königs zur Sondierung einer Koalition bekam. Gemeinsam mit der PS-Sozialistin Remnske Leijten hatte Omtzigt dafür gesorgt, dass der Skandal um die zu Unrecht zurückgeforderten Beihilfen für die Kinderbetreuung ans Licht kam. Zehntausende Familien waren durch die Rückzahlungen angeblich falsch gewährter Steuergutschriften in finanzielle Not geraten. Der Skandal führte Anfang des Jahres zum Rücktritt der Regierung Rutte III, die seitdem nur noch kommissarisch im Amt ist.

Zunächst bestritt der Ministerpräsident, dass Omtzigt überhaupt Thema gewesen sei und weigerte sich, Akten an das Parlament herauszugeben. Nun gibt er es zu, kann sich aber angeblich nicht mehr daran erinnern, worum es genau ging. Dieses Lavieren missbilligte das Parlament scharf. »Rutte hat gelogen, das ist keine Kleinigkeit«, empörte sich die Fraktionschefin der Sozialistischen Partei, Lilian Marijnissen. »Deshalb mögen die Menschen Politik nicht.«

Der Missbilligungsantrag von Sigrid Kaag (D66) und Wopke Hoekstra (CDA) – ehemaligen und neuen Koalitionspartner von Rutte – wurde von allen Parteien außer der VVD unterstützt. In dem Antrag heißt es, dass Rutte dem Sondierungsprozess und dem Verhältnis zwischen der Regierung und den Bürger*innen schweren Schaden zugefügt habe. Der schwerwiegendere Antrag, der Misstrauensantrag von Wilders (PVV) und Baudet (FvD) wurde jedoch abgelehnt – obwohl alle 13 Oppositionsparteien ihn unterstützen.

Die Calvinisten stiegen danach vorrübergehend aus der erwarteten Neuauflage der Koalition aus. Ohne Ruttes rechtsliberale VVD sind sieben Parteien für eine Mehrheit nötig. Ein Szenario, das schwer vorstellbar war.

Am Tag nach der Wahl brachte Thierry Baudet, der Parteiführer des rechtsextremen FvD, eine Koalition aus VVD, PVV, FvD und den Neulingen von JA21 ins Spiel. Baudet gehörte selbst zu den großen Gewinnern der Wahl. Obwohl seine Partei im vergangenen Jahr von mehreren Rassismus-Skandalen und der Absplitterung von JA21 erschüttert wurde, konnte die Partei sechs Sitze hinzugewinnen. Wilders rief nach Neuwahlen.


Wirtschaftliche Stützung und Erholung

Der pandemie-induzierte Einbruch des Bruttosozialprodukts traf die Niederlande wie die USA und die EU später als die VR China, dafür aber nicht so heftig wie die EU insgesamt. Die Erholung der VR China verlief wesentlich steiler und rasanter als in der EU und den USA, allerdings lagen auch die Niederlande oberhalb des europäischen Durchschnitts. Die Verschiebung der relativen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse begünstigt unsere westlichen Nachbarn. Das zeigt auch ein europäischer Vergleich zwischen den Wachstumsraten zwischen den letzten Quartalen 2019 und 2020.

Der Umfang staatlicher Unterstützungsprogramme fiel für die Niederlande, Deutschland, Griechenland mit etwa 4,5 bis 5,0% des BIP stärker aus als für Belgien, Frankreich und die südwesteuropäischen Länder. Italien und Österreich liegen mit 5,5% an der Spitze. Obwohl das Land erhebliche Verschuldungsreserven hätte, dominierte in der Regierung Rutte vor der Wahl der Austeritätsgedanke.

Das Planbüro CPB[2] hat im September 2021 seine Projektion für die wirtschaftliche Entwicklung im Jahr nach dem pandemiebedingten Einbruch (-3,7% BIP) offengelegt: Diese Prognose fiel skeptischer aus als die letzte aus dem vergangenen Jahr.

Man ging im September davon aus, dass die Zahl der Infektionen rückläufig sein werde, damit auch die seuchenmedizinisch notwendigen Restriktionen, und die Leute würden ihr Erspartes vermehrt in private Anschaffungen stecken. Die Erholung der Weltmärkte und das Ende der nationalen Stützungsprogramme würden die Konjunktur beleben und die Neuverschuldung senken. Aber erst nach 2023 sei damit zu rechnen, dass der Wachstumspfad, den man vor der Pandemie extrapoliert habe, wieder erreicht werde.

Unter der Annahme, dass keine groß angelegten neuen physischen Kontaktbeschränkungen erforderlich sind, wird in der aktuellsten Projektion vom September 2021 erwartet, dass die Wirtschaft im Jahr 2021 um fast 4% wachsen wird, gefolgt von einem Wachstum von 3,5% im Jahr 2022. Die Arbeitslosigkeit wird 2022 leicht auf 3,5% steigen.

Der Konsum wird stark ansteigen, sobald die Geschäfte und Restaurants wieder vollständig geöffnet sind, und die Angst der Verbraucher*innen vor einer Ansteckung abnimmt, da mehr Menschen geimpft werden. Der starke Anstieg der Ersparnisse während der durch das Coronavirus verursachten Rezession werde ein starkes Wachstum des Konsums ermöglichen. Die Investitionen werden positiv auf den Umsatzanstieg und die günstigeren Ertragserwartungen reagieren, unterstützt durch niedrige Finanzierungskosten. Das Investitionswachstum wird jedoch durch zusätzliche Insolvenzen in bestimmten Sektoren nach Beendigung der Stützungspolitik und als Folge der Bilanzschäden, die Unternehmen während des Virusausbruchs erlitten haben, gedämpft werden.

Die Exporte werden zunehmen, da die Beschränkungen in anderen europäischen Ländern aufgehoben werden. Anlaufschwierigkeiten in den neuen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien werden sich negativ auf die niederländischen Exporte auswirken, während das US-Stützungsprogramm in Höhe von 1.900 Mrd. US-Dollar einen positiven Einfluss auf diese Exporte hat.

Die Ausbreitung des Coronavirus bleibt eine Quelle der Unsicherheit, die das Tempo der wirtschaftlichen Erholung bestimmt. In einem Szenario, in dem ein neuer Lockdown notwendig ist und wie er im Dezember 2021 dann verhängt wurde, wäre das BIP-Wachstum in den Jahren 2021 und 2022 kumulativ um etwa 2 Prozentpunkte niedriger. Auch weil davon ausgegangen wird, dass in einem solchen Szenario wieder staatliche Unterstützung geleistet wird, würde die Arbeitslosigkeit auf 3,6% im Jahr 2022 steigen.

Die Zahlen zum Wirtschaftswachstum in den Basisprojektionen der CPB sind etwas höher als in den im August veröffentlichten Projektionsentwürfen. Die Differenz ist auf die Entscheidungen im Haushaltsmemorandum zurückzuführen, einschließlich der zusätzlichen Ausgaben für Gesundheit und Sicherheit, die in die aktuellen Projektionen aufgenommen wurden. Infolgedessen wird das öffentliche Defizit im Jahr 2022 mit -2,3 % des BIP um rund vier Mrd. EUR höher ausfallen.

CPB-Direktor Pieter Hasekamp: »Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie sind anderthalb Jahre vergangen, und jetzt ist klar, dass die wirtschaftlichen Worst-Case-Szenarien nicht eingetreten sind. Die niederländische Wirtschaft erwies sich als sehr widerstandsfähig. Die Politik der finanziellen Unterstützung hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, wie gut der Arbeitsmarkt die Krise überstanden hat. Zwar werden einige Branchen noch länger unter den negativen Folgen des Coronavirus leiden, doch der vor Ausbruch der Krise bestehende Arbeitskräftemangel ist in vielen Branchen bereits zurückgekehrt.«


Öffentlicher Schuldenstand unter EU-Grenzwert

Die Staatsfinanzen haben einen großen Teil des wirtschaftlichen Rückschlags absorbiert. Trotz der hohen Haushaltsdefizite der Jahre 2020 und 2021 ist der öffentliche Schuldenstand unter dem europäischen Grenzwert von 60% des BIP geblieben. Aufgrund der starken wirtschaftlichen Erholung wird der Schuldenstand, ausgedrückt als Prozentsatz des BIP, im nächsten Jahr nach den Basisprojektionen wieder sinken. Im Szenario eines neuen Lockdowns wird die Schuldenquote 2022 allerdings weiter leicht ansteigen – aber auch in diesem Szenario werden Ausgabenkürzungen nicht notwendig sein.

In den EU-Auseinandersetzungen wird das Omicron-Virus bzw. die seuchenmedizinische Reaktion und ihre neuerlichen wirtschaftlichen Wirkungen eine Rolle spielen. Ruttes Rolle als Häuptling der »sparsamen Fünf« ist ja bereits durch die österreichischen Regierungsturbulenzen geschwächt. Ein Anstieg der niederländischen Staatsverschuldung brächte zusätzliche Argumentationsschwierigkeiten. Die Presse und der Chef des staatlichen Planungsbüros vertreten die alte Dogmatik, dass es klug wäre, zu den Haushaltsregeln der Austerität zurückzukehren, die während der Krise aufgegeben wurden.

Haushaltsvorschriften stellten sicher, dass die politischen Ziele ganzheitlich berücksichtigt und die Steuereinnahmen effizient ausgegeben werden. Die mittelfristige Prognose zeigt, dass das Haushaltsdefizit für diesen Fall im Zeitraum bis 2025 schrittweise auf rund -1% des BIP sinken wird. Die Schuldenquote wird auf fast 54% des BIP sinken. Aufgrund der starken wirtschaftlichen Erholung bestehe keine Notwendigkeit für eine umfassende Konjunkturpolitik.

Die Regierung kann jedoch die wirtschaftliche Entwicklung fördern, indem sie mehr Sicherheit für eine Reihe dringender langfristiger Herausforderungen bietet, wie Klima und Energie, physische Umwelt, Ungleichheit in Bezug auf Bildung und auf dem Arbeitsmarkt sowie die Erschwinglichkeit und Organisation der Gesundheitsversorgung. Zusätzliche öffentliche Investitionen werden oft befürwortet, aber auch andere politische Instrumente wie Änderungen der Regulierung und Besteuerung sind wichtig. Kurzfristig sind angesichts der Engpässe auf dem Arbeitsmarkt Großinvestitionen schwer zu realisieren und hätten möglicherweise einen preissteigernden Effekt.

In der Analyse stellt das CPB fest, dass der jüngste Anstieg der Verbraucherpreisinflation in Europa und den Vereinigten Staaten wahrscheinlich vorübergehend ist. Der längerfristige Trend steigender Preise für selbstgenutztes Wohneigentum und andere Kapitalanlagen gibt jedoch Anlass zur Sorge, da er zu einer wachsenden Vermögensungleichheit führt und die Finanzstabilität gefährdet. Der Anstieg ist zum Teil auf die Geldpolitik zurückzuführen, aber es gibt auch innenpolitische Optionen in Form von Raumplanung und Besteuerung, um problematischen Hauspreissteigerungen entgegenzuwirken.

Der Unternehmerverband sorgt sich über eine gewachsene negative Stimmung gegenüber den Unternehmen »fast wie in den 70er Jahren« und konstatiert selbstkritisch: »Das Wachstum ist nicht bei allen angekommen.« Mit der Ankündigung eines »neuen rheinischen Modells« antwortet der Unternehmerverband auf den Zeitgeist und Rutte, der im Wahlkampf ähnliches formuliert hat.

Die nun in eine neue Koalition eingetretenen Parteien haben sehr unterschiedliche Wirtschaftsprogramme im Wahlkampf vorgelegt und vom CPB durchrechnen lassen. Obwohl die Schwerpunkte unterschiedlich sind, besteht Übereinstimmung in einer expansiveren Gangart staatlicher Politik, meist finanziert durch höhere Steuern (außer beim Wahlsieger D66).

Die traditionell freihandelsfreundlichen und liberalen Niederlande treten nun auch für eine »offene strategische Autonomie« und eine »intelligente Industriepolitik« ein – eine Entwicklung, die in Europa schon seit einiger Zeit zu beobachten ist. Auch die Niederlande unterstützen die ehrgeizigen europäischen Klimapläne mit größerer Entschlossenheit und die Tür für eine robustere gemeinsame europäische Außenpolitik wird geöffnet.

Statt eine Reform der europäischen Haushaltsregeln radikal abzulehnen, will das neue Kabinett deren Modernisierung »konstruktiv angehen« – auch wenn die »Schuldentragfähigkeit« oberstes Gebot bleibt. Das neue Kabinett spricht sich auch für eine ganze Reihe neuer europäischer Abgaben und Steuern aus: auf Flugreisen, digitale Dienstleistungen und CO2. Diese werden »im Prinzip auf nationaler Ebene erhoben«, ob diese Formulierung eine Öffnung für die seit langem geforderten gemeinsamen europäischen Steuern ermöglicht, bleibt zu beobachten. Über die Zukunft des umfangreichen Corona-Recovery-Programms, das die Niederlande bisher ablehnen, ist nichts bekannt. In den kommenden Jahren wird eine Fortführung dieses gemeinsamen Investitionsfonds in Brüssel ganz oben auf der Tagesordnung stehen.


V
ertrauenskrise bei den Wähler*innen

Die öffentliche Wertschätzung für Politiker*innen und Institutionen nimmt ab, nur kurzfristig sammelte sich das Volk im Angesicht der Virusbedrohung um die Fahne. Im Sommer, mit zunehmender Länge der Regierungskrise und Koalitionsgespräche, sind mehr als die Hälfte der Befragten (52%) nicht mehr mit dem Kabinett zufrieden. Auch das Vertrauen in die Minister (32%), die zweite Kammer (36%) und Regierung (42%) hat sich verschlechtert. Klima ist laut der jährlichen Studie zu Bevölkerungseinstellungen das am stärksten polarisierende Thema. »Befürworter einer eingreifenden Klimapolitik sehen den Klimawandel als eine existenzielle Bedrohung. Gegner sehen aber vor allem eine Beeinträchtigung ihrer Lebensweise.«

Die Gruppe der Bürger*innen, die kein Vertrauen mehr in die Institutionen hat, etwa 15%, radikalisiert sich. Bei den weniger Gebildeten sind es 20% (Zum Jahreswechsel 2020/21 waren es noch 13%). »Die Menschen wenden sich ab. Es gibt echten Hass, und das ist neu. Eine große Gruppe von Wählern, insbesondere in Parteien wie das Forum voor Democatrie (FvD), Partij voor de Vrijheid (PVV), JA21 oder die BoerBurgerBeweging distanziert sich zunehmend von der Regierung.«

Die Wähler*innen von CDA, VVD, D66, Volt und PvdA haben immer noch mehrheitlich Vertrauen in die Regierung, und die Untersuchung zeigt, dass dieses Vertrauen kaum abnimmt. Etwa 15% der Befragten haben jegliches Vertrauen in die Regierung verloren. »Die Regierung ist nicht mehr für uns da. Die Regierung hat begonnen, sich auf die Mehrheit zu konzentrieren und der Rest wird sich selbst überlassen. Das sieht man zum Beispiel an der Art und Weise, wie Gesundheitsminister de Jonge über Ungeimpfte spricht.« Hugo de Jonge hatte gesagt, er könne es nicht fassen, dass die Menschen sich nicht impfen lassen. Eine weitere Atomisierung des Parteiensystems, mit der bisher solche Vertrauensverluste auffangbar erschienen, scheint aber mit den Wahlen im März an ihr Ende gekommen zu sein.

Eine nicht legitimierte Regierung über fast ein Jahr, die rigorose Gesundheitsschutzverordnungen durchsetzte, löste in diesem Umfeld wiederholt nächtelange Krawalle von Rechtsradikalen, vergnügungsorientierten Jugendlichen und Menschen ohne gute Krankenversicherung aus.

Etwa ein Viertel der Wähler*innen (24%) reagiert positiv auf die Nachricht, dass sich diese Parteien auf die Bildung des Kabinetts Rutte IV geeinigt haben. Fast vier von zehn Wählern (40%) reagieren negativ, während ein Drittel (32%) eine Weile wartet, bevor es ein Urteil fällt.

Eine beliebte Lesart des Koalitionsvertrags ist, dass D66 während der Verhandlungen viel erreicht habe. Ein Teil der Mitte-Rechts-Wählerschaft scheint diese Interpretation zu teilen und wechselt von VVD und CDA zu den rechtsextremen Parteien JA21 und FvD, während die bisher stärkste rechtsoppositionelle Kraft der PVV von Geert Wilders zwei Sitze verliert.

Sozial bleibt das Land gespalten. Diskussionen über Ungleichheit konzentrieren sich auf die Höhe des monatlichen Einkommens, aber gemessen am Gehalt haben sich die Unterschiede zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren nicht wesentlich verändert. Der Abstand zwischen einem niedrigen und einem hohen Einkommen ist in etwa gleichgeblieben und auch im Vergleich zu anderen Ländern nicht besonders groß. Die Zahl der Personen, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, ist jedoch in den letzten achtzehn Monaten leicht angestiegen.

Die Ungleichheit in den Niederlanden zeigt sich vor allem beim Vermögen der Bürger*innen, bei der Art des Arbeitsvertrags eines Arbeitnehmers und bei den monatlichen Kosten für ein Haus. Arbeitnehmer*innen mit einer niedrigen Berufsausbildung haben viel häufiger einen flexiblen Vertrag als Arbeitnehmer*innen mit einer höheren Berufsausbildung. Gering Qualifizierte haben in 32% der Fälle einen befristeten Vertrag, bei den höher Qualifizierten sind es nur 13%. Die Menschen mit geringerem Bildungsniveau sind daher mit größerer Unsicherheit über ihre finanzielle Zukunft konfrontiert.

Menschen mit geringem Einkommen leben viel häufiger in Mietwohnungen. Mieter*innen geben einen größeren Teil ihres Einkommens für Wohnkosten aus als Hausbesitzer. Die jüngsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2018, aber angesichts der Preisentwicklung dürfte sich dieser Unterschied nur noch vergrößern.

Die Mieten sind in den letzten Jahren stark angestiegen, während Hausbesitzer in den letzten zehn Jahren von niedrigeren Hypothekenzinsen profitiert haben. Sechs von zehn Haushalten besitzen ein Eigenheim und sind damit vergleichsweise bessergestellt.

Dank des starken Anstiegs der Immobilienpreise nimmt auch die Zahl der Millionäre in den Niederlanden zu. Nach den jüngsten Zahlen des Centraal Bureau voor de Statistiek (CBS) sind über 2% der niederländischen Haushalte Millionäre. Das meiste Geld steckt jedoch im Wert des Hauses.

Unter anderen deshalb wird die Kluft zwischen Arm und Reich im Vermögen der Niederländer besonders deutlich. Die reichsten 10% besitzen zusammen eine Bio. (eintausend Mrd.) Euro, eineinhalb Mal so viel wie der Rest der Niederlande. Am unteren Ende der Skala sind die Niederländer verschuldet oder haben überhaupt keine Ersparnisse.

Den neuen/alten Koalitionären sind solche Themen eher fremd. In der SP, die bei den Parlamentswahlen enttäuschte, ist man unterdessen mit sich selbst beschäftigt, was nicht ohne negative Folgen auf die Umfragewerte blieb. Grundlage für den Ausschluss mehrerer Dutzend vor allem jüngerer Mitglieder ist ein schwelender Konflikt zwischen der SP und dem ehemaligen Jugendverband Rood (dt. Rot).

Letztes Jahr wurde vier Mitgliedern von Rood vorgeworfen, sie seien an Verbänden beteiligt, die eine bewaffnete kommunistische Revolution propagieren. Diese Verbände, Communistisch Platform und Marxistisch Forum, werden von der SP als politischen Parteien angesehen. Eine doppelte Parteimitgliedschaft wird bei der SP nicht erlaubt. Der Konflikt zwischen SP und Rood eskalierte im Anschluss: Seit letztem Juni ist die SP endgültig von Rood getrennt. Die Abteilungen in Amsterdam, Rotterdam und Utrecht haben inzwischen angegeben, sie wollten den Beschluss der Parteivorsitz negieren. Das könnte dazu führen, dass der Parteivorsitz auf Dauer komplette Abteilungen auflösen wird.


Regierung Rutte IV

VVD, CDA, D66 und ChristenUnie haben sich im Dezember schließlich doch auf einen Regierungsvertrag geeinigt. Zentrale Elemente der Vereinbarungen sind die Beendigung des bisherigen Systems von Kindergeldzuschlägen in Form von Steuergutschriften. Kinderbetreuung wird auf Dauer kostenlos werden und es wird mehr Geld für die Jugendpflege freigemacht. Auch das Basisstipendium, das 2015 abgeschafft wurde, kommt zurück. Den Mindestlohn will das Kabinett mit 7,5% ansteigen lassen. Zugleich will das Kabinett 4,5 Mrd. Euro vom Budget für Gesundheitspflege sparen. Die PvdA-Vorsitzerin Lilianne Ploumen findet, gerade in einer Pandemie sollte man die Pflegeversorgung nicht kürzen. SP-Parteiführerin Lilian Marijnissen nennt den Plan »ein Messer in den Rücken des Pflegesektors«. Die neue Regierung sei ein »unglaubwürdiger Neuanfang von Rutte III, mit den gleichen Ideen und Menschen«.

Die Koalitionsparteien wollen stark in einen Klimafonds investieren. Es werden 60 Mrd. Euro reserviert, um die Stickstoffkrise anzupacken und klimatechnische Maßnahmen zu unternehmen. Der Fonds soll eine strukturelle Unterstützung zur Erreichung sowie Verschärfung der niederländischen Klimaziele bilden.

Die Parteien beabsichtigen, das benötigte Geld am Anfang der kommenden Kabinettsperiode zu leihen. Weil der gesamte Betrag auf einmal gesammelt wird, könne die Regierung von einem relativ niedrigen Zinssatz profitieren. Eine besondere Konsequenz ist aber, dass die Staatsverschuldung auf einen Schlag um dutzende Milliarden zunimmt.

Letzten Monat berichtete das Planungsbüro für die natürliche Umwelt (PBL), das Zurückdrängen von Treibhausgasen gehe zu langsam – mit diesem Tempo werde die Verringerung von 49% im Jahr 2030 in Vergleich zu 1990 nicht erreicht. Das Koninklijk Nederlands Meteorologisch Instituut teilte mit, dass der Meeresspiegel am Ende dieses Jahrhunderts möglicherweise mit 1,2 oder sogar mit 2 Meter gestiegen ist. Dies bedeutet, dass der erwartete Anstieg des Meeresspiegels nach oben korrigiert wurde.

Der Pensionsfonds voor oberheid en onderwijs (ABP – Pensionsfonds für Staat und Bildung) kündigte an, dass er seine Investitionen in fossile Energie zurückziehen wird. Diese Investitionen belaufen sich auf mehr als 15 Mrd. Euro, was 3% des gesamten investierten Kapitals von ABP entspricht. Diese Entscheidung könnte andere große Pensionsfonds weltweit veranlassen, ähnliche Entscheidungen zu treffen. Der erste große Pensionsfonds, der seine Investitionen in die Öl- und Gasindustrie eingestellt hat, war PME im Monat davor. Mit 62 Mrd. Euro verwaltetem Vermögen ist dieser Fonds für (ehemalige) Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie jedoch deutlich kleiner als ABP, der rund 500 Mrd. Euro verwaltet.

Die neue Regierung reagiert darauf eher behäbig und will nun die Klimaneutralität bis 2050 erreichen, den C02-Ausstoß bis 2030 um 60% und bis 2040 um 80% senken. Das Land wird aus der Gasförderung auf dem Festland aussteigen, Windparks aufbauen, Photovoltaik und Wärmedämmung fördern. Alles in allem ein Fonds von 35 Mrd. Euro und nicht, wie es vorher hieß, 50 Mrd. Euro. Dafür wird der Anteil der Atomenergie, der bisher 3% beträgt, durch den Neubau von zwei neuen AKW hochgefahren und die Laufzeit für den Standort Borssele verlängert. Zweitens wird eine allgemeine Straßennutzungsgebühr durch Berechnung der KFZ-Steuer nach gefahrener Kilometerleistung – auch für E-Autos, die ab 2020 die Norm sein sollen – eingeführt.

Das neue Kabinett will den Ausstoß von Treibhausgasen stärker besteuern. Damit wird vor allem der industrielle Sektor getroffen. Auch der Energiesektor wird dann erheblich mehr Steuer zahlen. Gleichzeitig will das Kabinett die Kosten zur Erreichung der Klimaziele für Betriebe als auch für Bürger*innen mildern.

Der Klimafonds ist nicht der einzige Fonds, dessen Errichtung geplant wird. Die Viehhaltung ist für einen erheblichen Teil des Stickstoffausstoßes verantwortlich. Naturschutzgebiete in der Nähe von Viehhaltungsbetrieben haben unter diesem Ausstoß zu leiden. Deswegen beabsichtigt die Regierung, Viehhalter*innen in der Nähe von Naturschutzgebieten teilweise aufzukaufen. Vor einigen Jahren wurde auch der Nationale Wachstumsfonds ausgebaut, der für Milliardeninvestitionen im Innovationssektor und der Infrastruktur zuständig ist.

Das Planungsbüro wird also die Staatsverschuldung neu berechnen müssen. Die binnenwirtschaftlichen Effekte bleiben überschaubar, da die neuen AKW im Ausland bestellt werden müssen. An der sozialen Kluft wird der Koalitionsvertrag nichts ändern, da es dazu außerparlamentarisch wie in der Opposition wenig Druck gibt. Die politische Spaltung auf der rechtspopulistischen Seite wie unter den linken Parteien erlaubt Rutte das Weiterregieren.

Anmerkungen

[1] Siehe Bernhard Sander, Ergebnisse der Parlamentswahl in den Niederlanden: Weiterer Rechtsruck, in: SozialismusAktuell.de 19. März 2021.
[2] Macro Economische Verkenning (MEV) 2022 | CPB.nl.

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