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ISBN 978-3-96488-121-2

26. Januar 2016 Joachim Bischoff / Björn Radke: UNHCR muss finanziell gestärkt werden

Restriktive Grenzregime verringern die Zahl von Zufluchtsuchenden nicht

Ungeachtet der Verschärfung der Asylbestimmungen in Deutschland und Österreich sind auf der Balkanroute weiterhin Tausende von Flüchtlingen unterwegs. Im Januar 2016 werden gut 50.000 Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gefunden haben. Es kommen trotz widrigem Wetter immer noch 2.000 bis 3.000 Zufluchtsuchende pro Tag an.

Im Vorjahrsmonat waren es knapp 1.700. Im letzten Jahr reisten über eine Million Menschen nach Europa. Für das ganze Jahr rechnet das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR mit ähnlichen Flüchtlingszahlen wie im Vorjahr. Die Ankunft weiterer Hunderttausender Asylsuchender ist eine Tatsache, die sich kurzfristig kaum verringern lässt.

Die EU habe nur noch sechs bis acht Wochen Zeit, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, sagte der niederländische Premierminister Mark Rutte. Wenn der Frühling komme, dürfte die Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika nach Europa deutlich steigen.

Die Flüchtlingskrise gefährdet zunehmend das Schengen-Abkommen, also den freien Verkehr von Personen in Europa. Immer mehr Staaten errichten Grenzkontrollen. Rutte geht davon aus, dass das Schengen-Abkommen gerettet werden kann. Allerdings müsse es zunächst eine Reform des gescheiterten Dublin-Verfahrens geben. Dieses besagt, dass der europäische Staat, in den ein Asylbewerber als ersten eingereist ist, für das Asylverfahren zuständig ist.

Das UNHCR sieht allein im Kriegs- und Konfliktgebiet Syriens einen wachsenden Anstieg von Hilfebedürftigen.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sieht weder für Syrien noch für die anderen Krisenregionen (naher und ferner Osten sowie Afrika) einen Anlass zur Entwarnung vor der großen Aufgabe. »Erst 10% der in Syrien und Irak ausgelösten Fluchtwelle ist bei uns angekommen.« Gestützt auf Schätzungen der UN-Flüchtlingsorganisationen geht er von weiteren acht bis zehn Millionen Menschen, d.h. displaced persons, aus, die nach Europa unterwegs sind.

»Die, die jetzt zu uns kommen, saßen bereits seit mehreren Jahren in Zeltstädten, Kellern und Ziegenställen ohne Wasser und Strom.« Die Überlebensbedingungen für die Vertriebenen und Flüchtlinge hätten sich in den letzten Monaten wegen unzureichender Maßnahmen in den Krisengebieten deutlich verschlechtert: »Es ist beschämend, dass die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, das Überleben vor Ort zu sichern.«

Die Zunahme des Stroms von Zufluchtsuchenden und damit der Asylanträge in Europa (Schwerpunkte Schweden, Österreich und Deutschland) hängt an dem massiven Anstieg der »deplaced persons« weltweit auf über 60 Millionen und der wachenden Abschottungspolitik der Aufnahmeländer. Der seit den letzten Jahrzehnten zu registrierende  Umbruch in der Weltordnung schafft in vielen Länder der früheren dritten Welt eine Mixtur von Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit, Konflikten um gesellschaftlich-religiöse Minderheiten, die sich vielfach in Kriegen und Bürgerkriegen entladen.

Aktuell ist der wichtigste Push-Faktor für die Fluchtbewegung die Vertreibung in Folge von Krieg und Bürgerkrieg. Aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Irak, Mali Somalia, Eritrea und Nigeria kommt der Löwenanteil der Asylanträge in den Mitgliedsstaaten der EU. Die bittere Wahrheit ist, dass die durch militärische Interventionen des kapitalistischen Westens verschärfte Konstellation der Unterentwicklung und gesellschaftlichen Destabilisierung sowie die massive Zunahme von zerfallenden Staatsordnungen die Fluchtbewegung mehr und mehr in Richtung Europa lenken.

Selbstverständlich gibt es einen Komplex von Pull-Faktoren, unter denen die Hoffnung auf existentielles Auskommen, (schlecht bezahlte) Lohnarbeit und persönliche Weiterentwicklung herausragen. Im Ernst kann keine politische Strömung davon ausgehen, dass in überschaubarer Zeit die Fluchtursachen Krieg, Unterentwicklung und Staatszerfall zu beseitigen wären. Sicher sind diplomatisch erwirkte Waffenstillstände und Friedensabkommen möglich und stellen einen enormen Fortschritt dar. Dieser kann durch Intensivierung von Entwicklungspolitik verstetigt werden.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble setzt sich zu Recht dafür ein, zur Bewältigung der Flüchtlingskrise einen europäischen Marshallplan zum Wiederaufbau der Krisenländer im Nahen Osten aufzulegen: »Wir werden Milliarden in die Regionen der Flüchtlinge investieren müssen, um den Wanderungsdruck zu reduzieren.« Deutschland sei in der Lage, mehr Geld auszugeben. »Wir haben mehr finanziellen Spielraum als die anderen, das ist wahr.« Abschreckung dagegen sei nicht der richtige Weg: »Europa als Festung ist keine Lösung. Das ist eine Schande.« Zudem brauche es »Solidarität mit denjenigen Ländern, die Außengrenzen haben«.

Auch für die IWF-Chefin Christine Lagarde ist es »Zeit für eine große internationale Initiative«. Jordanien und Libanon bräuchten finanzielle Hilfe der internationalen Gemeinschaft. In Europa selbst sei zudem »ein viel breiterer und kollektiver Ansatz« vonnöten, um die Flüchtlingskrise zu meistern. Ähnlich die Überlegungen von Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU), der mit einem »Bündnis für Arbeit« im Nahen Osten eine Bleibeperspektive für Syrien-Flüchtlinge schaffen will. »Wir wollen 500.000 Arbeitsplätze für Flüchtlinge in Jordanien, dem Libanon und der Türkei schaffen.« Bis zur internationalen Syrien-Konferenz am 4. Februar in London will er möglichst viele internationale Geber für das Programm gewinnen.

Die Umsetzung solcher Pläne wird derzeit aber noch innerhalb der EU blockiert. Im Oktober 2015 hat die EU-Kommission einen Nothilfe-Fonds von 1,8 Mrd. Euro für Afrika aus dem EU-Budget eingerichtet. Noch einmal die gleiche Summe sollen die EU-Staaten beisteuern – allerdings fehlen immer noch 1,75 Mrd. Euro. Der Fonds soll dazu dienen, Fluchtursachen wie etwa die Armut zu bekämpfen. Schwerpunkt sind die Sahelzone, die Tschadsee-Region, das Horn von Afrika und Nordafrika. Von dort oder über diese Staaten machen sich zahlreiche MigrantInnen auf den Weg in Richtung Europa. »1,8 Milliarden reichen nicht aus«, mahnte EU-Kommissionspräsident Juncker. Bisher hätten 25 der 28 EU-Staaten geringe Beträge für den Topf angeboten.

In der Tat: Einer der wichtigsten Fluchtgründe ist die unzureichende Versorgung in den syrischen Flüchtlingslagern und Notstandsgebieten. Schon im Dezember 2014 schlug das UN-Welternährungsprogramm Alarm: Es fehle an Lebensmitteln, weil die Geberländer ihre Zusagen nicht eingehalten hätten. In den nachfolgenden Monaten mussten die Unterstützungsprogramme erheblich zurückgefahren werden, was dazu führte, dass viele Betroffene nach Europa aufbrachen.

Das Ausmaß der erforderlichen finanziellen Unterstützung für 2016 ist äußerst bescheiden, wie ein UN-Bericht vom Dezember 2015 zeigt. Es geht nur um 3,18 Mrd. US-Dollar, um 13,5 Millionen Personen in Syrien mit dem Nötigsten zu versorgen. Aber nur ein Teil der Summe sei gesichert, schreibt die UNO.

Die fehlende Zahlungsbereitschaft betrifft nicht nur Syrien. In einem anderen Bericht, der vor ein paar Tagen publiziert worden ist, schreibt die UNO: »Die Konflikte und Naturkatastrophen der letzten Jahre haben zu einer schnell wachsenden Zahl von Menschen in Not und zu einer Finanzierungslücke für die humanitären Maßnahmen von schätzungsweise 15 Mrd. US $ geführt.«

Auch diese Summe ist keine unlösbare Aufgabe. Mit 3,2 Mrd. Dollar für Syrien und einer Aufstockung der Unterstützungsfonds für 2016 von 15 Mrd. Dollar könnte die Fluchtbewegung deutlich reduziert werden. Allerdings hat sich die Zurückhaltung der Staaten zu einer überzeugenden und ausreichenden Unterstützung der UN-Hilfsoperationen für die weltweit 60 Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge über die letzten Jahre aufgebaut. Die Kritik hat keinen Mentalitätswandel bewirkt.

Allein das UNHCR rechnet für sich – neben den anderen Hilfsorganisationen – mit einem Unterstützungsetat für 2016 von 5,6 Mrd. Euro. Dafür errichtet es auf der ganzen Welt Flüchtlingslager für die derzeit rund 60 Millionen Flüchtlinge, ernährt diese und vermittelt ihnen, wenn nötig, Asylplätze in verschiedenen Ländern.

Die Zahl der – auch nach Deutschland – weiterziehenden Flüchtlinge würde drastisch sinken, wenn Hilfsbedürftige auch nahe ihrer Heimat versorgt werden könnten. Die derzeitigen Flüchtlingslager um Syrien herum, also etwa in der Türkei, dem Libanon und Jordanien, sind mit Millionen Menschen überfüllt und unterversorgt.

Diese Überlegung ignorieren viele westliche Staaten. Sie müssten – gemessen an ihrer Wirtschaftskraft – viel mehr Geld an das UNHCR spenden, das sich fast ausschließlich über Spenden finanziert. Die meisten Gelder kommen von Staaten oder Staatenorganisationen wie der EU. Gegründet wurde das UNHCR übrigens 1950, um die Vertriebenen und Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges zu versorgen – Deutschland profitierte von seiner Arbeit also von Beginn an.

Spitzenreiter in Sachen Spenden waren 2014 die USA. Sie gaben rund 1,1 Mrd. Euro an das UNHCR, allerdings müssten sie gemessen an ihrer Wirtschaftskraft für 2016 noch einmal rund 40 Mio. Euro drauflegen. Deutlich unzureichender – gemessen an der Wirtschaftskraft – sind die Zahlungen der europäischen Staaten.[1] Frankreich zahlte nur rund 61 Mio. Euro und müsste mehr als das Doppelte (135 Mio. Euro) für 2016 drauflegen. Italien gab mit 44 Mio. Euro rund 101 Mio. Euro zu wenig, Deutschland überwies 2014 rund 183 Mio. Euro, 83 Mio. Euro zu wenig.

Die arabischen Staaten nehmen selbst zwar kaum Flüchtlinge auf – wobei sie illegale EinwandererInnen aber meist nicht ausweisen –, spenden dafür aber mehr Geld als andere. Saudi-Arabien etwa gab 2014 rund 123 Mio. Euro, 71 Mio. mehr als nach Wirtschaftskraft vorgesehen gewesen wäre.

Die Aufwendungen für internationale Flüchtlingshilfe müssen zu den nationalstaatlichen Unterstützungskosten in Beziehung gesetzt werden. Das ifo-Institut hat seine Schätzung der Kosten der Flüchtlingshilfe für den deutschen Staat präzisiert. Es geht nun von 21,1 Mrd. Euro allein für 2015 aus, unter der Annahme, dass bis zum Jahresende 1,1 Millionen Menschen nach Deutschland geflüchtet sind. Das schließt Unterbringung, Ernährung, Kitas, Schulen, Deutschkurse, Ausbildung und Verwaltung ein. Diese Schätzung ist keinesfalls Konsens. Unstrittig ist aber, dass die Berliner Republik sich in einem Bereich eines zweistelligen Milliardenbetrags bewegt. Das Missverhältnis zu dem Beitrag für die internationale Hilfe ist offenkundig.

Vorherrschende Meinung ist: Wenn der Frühling komme, dürfte die Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika nach Europa deutlich steigen. Das Schengen-Abkommen scheitert, wenn keine Reform des Dublin-Verfahrens unter den Mitgliedstaaten vereinbart werden kann, denn es ist bereits faktisch außer Kraft, weil die Ankunftsländer mit den Belastungen überfordert sind, und eine europäische Verteilung bislang nicht in Sicht ist.

Sollte der Ansatz über eine massive Verstärkung der humanitären Hilfe für displaced persons in den Konflikt- und Krisenregionen scheitern, wird der Zerfall der Weltordnung auch auf Europa durchschlagen. Es wäre ein weiterer Schritt zur gesellschaftlichen Blockierung und der Selbstzerstörung einer erst ansatzweise entwickelten europäischen Kultur, wenn sich die Rückkehr zu Formen nationalstaatlicher Grenzregime durchsetzt.

Dass rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien sich für eine rückwärtsgewandte Nationalstaatenpolitik einsetzen, ist schlimm genug. Dass jetzt auch innerhalb der politischen Linken Anhänger von Abschottungspolitik, Aushebelung des Asyl- und Flüchtlingsrechts an Einfluss gewinnen und für eine Aufkündigung der europäischen Ordnungs- und Entwicklungspolitik eintreten, ist eine gefährliche Entwicklung. Es gilt in den nächsten Wochen die Argumentation zu stärken, dass es angesichts der Fluchtbewegung keine nationalen Schutzräume und Nischen zur Überwinterung gibt.

[1] Die Zahlen zu den EU-Staaten sind teilweise geschätzt. Sie spenden einmal direkt und einmal anteilig über die EU. Da diese Anteile aber nicht transparent sind, muss davon ausgegangen werden, dass sie den üblichen Zahlungsanteilen etwa für den EU-Haushalt entsprechen.

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