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17. Dezember 2017 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Rote Linie: Mindestlohn in 2018 = 8,84 Euro

Trotz eines beträchtlichen Wirtschaftswachstums bleiben die Lohneinkommen zurück. Die Auftragsbücher in der Industrie, den Dienstleistungen und vor allem am Bau sind gegenwärtig voller als in normalen Zeiten. Gleichwohl steigen die Löhne nur moderat.

Wichtige Gründe sind der stark angewachsene Niedriglohnsektor, ein hoher Anteil von BürgerInnen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen und die geschwächte Macht der Gewerkschaften. Politisch zentrale Streitpunkte in der Berliner Republik sind zu Recht die sachgrundlosen Befristungen bei Arbeitsverträgen, der Umfang der Leiharbeit, die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns und die Möglichkeit durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu Tarifverträgen zu kommen.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren hat nicht zu einer Stärkung der Macht der Lohnarbeit geführt, Armutslöhne und Armutsrenten sind nach wie vor brennende Alltagsprobleme. Insgesamt hat die Aufwärtsmobilität von Geringverdienern abgenommen. Der große Niedriglohnsektor in Deutschland bleibt das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs- und spätere Altersarmut.

Der Vorschlag des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, Olaf Scholz, den Mindestlohn zügig auf 12 Euro anzuheben, traf in der Tat in das Zentrum der Verteilungsauseinandersetzungen. Die Realisierungschance einer deutlichen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes ist gering, obwohl dieser Vorschlag von einem rechten Flügelmann der Sozialdemokratie kommt.

In die Kontroverse um die Höhe des Mindestlohnes hat sich erwartbar zügig das Institut der deutschen Wirtschaft eingeschaltet, mit der Behauptung, dass selbst bei den BezieherInnen niedriger Einkommen eine Mehrheit (53%) zufrieden mit ihrem Einkommen sei und ihren Lohn als »gerecht« einstuft. Das sei zwar deutlich weniger als bei »Normalverdienern« (63%), für eine weiterreichende Arbeitsmarktreform bestehe aber kein Anlass.

Gegenüber dieser interessengeleiteten politischen Intervention, bleibt festzuhalten, dass der zum 1. Januar 2015 von Schwarz-Rot eingeführte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zwar die Lebenssituation vieler im Niedriglohnbereich Beschäftigter verbessert hat, aber weder eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch eine auskömmliche Rente im Alter sicherstellt. In einer aktuellen Zwischenbilanz der Entwicklung seit Einführung des Mindestlohns stellt das DIW[1] sogar fest, dass immer noch 2,6 Mio. Lohnabhängige nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn erhalten.

Absehbar war, dass die Einführung des Mindestlohns zu positiven Verteilungseffekten vor allem für die unteren Einkommen führt. Denn die Lohnentwicklung im unteren Segment war in den Jahren vor Einführung des Mindestlohns besonders schwach. Dies zeigt die nominale Entwicklung der vertraglichen Stundenlöhne für die anspruchsberechtigen Beschäftigten über die Dezile der Lohnverteilung und über einen Zeitraum von jeweils zwei Jahren, also zum Beispiel zwischen 2012 und 2014 oder zwischen 2014 und 2016.

»Die Dezil-spezifische Lohnentwicklung zwischen 2014 und 2016 unterscheidet sich deutlich vom Zeitraum vor der Reform: Bis 2014 lagen die zweijährigen Wachstumsraten im langjährigen Mittel in den Dezilen sechs bis zehn bei ungefähr 3,5%. In den unteren drei Dezilen lagen sie bei unter 2%. Zwischen 2014 und 2016 lag das zweijährige Lohnwachstum in den unteren drei Dezilen deutlich höher als in den Vorperioden. So sind die Löhne im untersten Dezil um fast 15% angestiegen. Bei den tatsächlichen Stundenlöhnen zeigt sich eine ähnliche Trendumkehr.«[2]

Diese positive Entwicklung zeigt sich auch bei den Stundenlöhnen. Lag der vertragliche Stundenlohn im Jahr 2014 im unteren Dezil im Durchschnitt bei 6,63 Euro, stieg er im Jahr 2016 auf 7,58 Euro an. Für die unteren zwei Dezile betragen die entsprechenden Werte ungefähr 7,90 Euro und 8,70 Euro. Und: »Bei den tatsächlichen Stundenlöhnen zeigt sich ein ähnliches Bild. Hier sind in den beiden unteren Dezilen die Löhne von ca. 7,40 Euro im Jahr 2014 auf 8,20 Euro im Jahr 2016 angestiegen. Betrachtet man den Bereich der Lohnverteilung, der im Jahr 2014 unterhalb des Schwellenwerts von 8,50 Euro lag, findet sich für beide Lohnkonzepte ebenfalls eine positive Entwicklung. Beim vertraglichen Mindestlohn zum Beispiel stieg der Wert von ca. 6,80 Euro auf ca. 7,60 Euro.«

Aber trotz dieses überproportionalen Lohnanstiegs im untersten Lohndezil ist es nicht gelungen, für alle anspruchsberechtigten Beschäftigten einen Bruttolohn von mindestens 8,50 Euro pro Stunde durchzusetzen. So lag der vertragliche Stundenlohn von rund 1,8 Mio. Lohnabhängigen im 1. Halbjahr 2016 noch immer unter der gesetzlichen Grenze. 2015 waren das noch ungefähr 2,1 Mio. und im Jahr vor der Einführung knapp 2,8 Mio. Bezogen auf alle Lohnabhängigen entspricht dies einem Anteil von ungefähr 7%. Damit ist die Quote im Vergleich zu 2015 zwar nochmals um mehr als einen Prozentpunkt gesunken, verharrt aber immer noch auf einem sehr hohen Niveau. Und bezieht man auch Erwerbstätige ohne Anspruch auf den Mindestlohn, wie Selbständige, in die Betrachtung ein, verdienten im Jahr 2016 sogar etwa 4,4 Mio. Menschen weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde.

Betrachtet man nicht nur die vertraglich vereinbarte, sondern die tatsächliche Arbeitszeit, liegt die geschätzte Zahl an anspruchsberechtigten Lohnabhängigen mit einem Lohn von weniger als 8,50 Euro bei ungefähr 2,6 Mio. im Jahr 2016 – nach ungefähr 2,8 Mio. im Jahr 2015 (Quote 2016: rund 10%; Quote 2015: rund 11%). Berücksichtigt man die Lohnabhängigen in Branchen, in denen branchenspezifische Mindestlöhne gelten, ergibt sich eine Zahl von 2,2 Mio. (rund 7%) Lohnabhängigen, beim vertraglichen beziehungsweise 3,3 Mio. (rund 10%) beim tatsächlichen Stundenlohn.

Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Beschäftigungs- und Berufsgruppen:

  • So wiesen laut SOEP im Jahr 2014 lediglich etwa 9% der Männer Stundenlöhne unter dem Mindestlohn auf, bei den Frauen traf dies auf etwa 20% zu. »Für beide Geschlechter verringerte sich der Anteil derjenigen, die 2016 unter 8,50 Euro verdienten, auf etwa 7% beziehungsweise 13%, sodass der Anteil der gering bezahlten Frauen noch immer rund doppelt so hoch ist wie der von Männern.«[3]
  • Die geringfügig beschäftigten Lohnabhängigen waren mit rund 62% im Jahr 2014 besonders häufig schlecht bezahlt. Dies hat sich zwar 2016 deutlich reduziert, der Anteil lag jedoch noch immer bei über 40%. Geringfügig Beschäftigte verdienen zudem mit ungefähr 8,70 Euro im Jahr 2014 und 9,50 Euro in 2016 deutlich weniger verdienen als Teilzeit- (16,80 Euro bzw. 17,20 Euro) oder Vollzeitbeschäftigte (ungefähr 19 Euro beziehungsweise 20 Euro).
  • In Ostdeutschland lagen und liegen die Löhne sehr viel häufiger unter 8,50 Euro. Im Jahr 2014 lag hier der Anteil bei etwa 22%, während er in Westdeutschland nur 12% betrug. Auch hier sank der Anteil in beiden Regionen: im Jahr 2016 in Westdeutschland auf rund 9% und in Ostdeutschland auf 15%.

 

Dass nach wie vor viele Lohnabhängige nicht den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, hat vor allem mit drei Faktoren zu tun. Erstens gibt es zu viele Ausnahmeregelungen. Zweitens gibt es bei vielen Unternehmen immer noch Widerstände bei der Dokumentationspflicht. Drittens haben viele Beschäftigte zwar einen Vertrag, laut dem sie nach Mindestlohn beschäftigt werden, effektiv arbeiten sie jedoch länger. So werden beispielsweise Vorbereitungs-, Warte- und Bereitschaftszeiten nicht mehr oder nur noch geringer bezahlt oder mitunter auch auf den Stücklohn zurückgegriffen. Zudem ist die Zollfahndung, die die Einhaltung des Mindestlohnes kontrollieren soll, personell völlig unterbesetzt. So musste die damalige schwarz-rote Bundesregierung im August 2015 selbst Probleme bei der Personalausstattung der Zollfahndung und bei der Dokumentation seitens der Arbeitgeber einräumen. Eine systematische und umfassende Prüfung, ob das Mindestlohngesetz auch tatsächlich angewendet wird, findet deshalb bis heute nicht statt.

Die Einführung des Mindestlohns zum Jahresbeginn 2015 war sicherlich eine Zäsur am deutschen Arbeitsmarkt, aber diese Reform war nicht nur wegen der Ausnahmen und des Unterlaufens in vielen Unternehmen unzureichend, sondern auch und vor allem, weil der Mindestlohn zu niedrig ist. Er reicht schlichtweg nicht aus, um aus der Armutszone herauszukommen.

Daran hat auch die durch die Mindestlohnkommission beschlossene Anhebung des Mindestlohns auf 8,84 Euro zum 1. Januar 2018 nichts geändert. Wer 40 Jahre in Vollzeit für den Mindestlohn arbeiten musste, wird am Ende auf staatliche Grundsicherung im Alter angewiesen sein und kann seinen Lebensstandard, der ohnehin niedrig war, noch nicht einmal halten. Der gesetzliche Mindestlohn ist schlichtweg zu niedrig, um damit auf eine gesetzliche Rente über dem Grundsicherungsniveau zu kommen – selbst bei ununterbrochener, 45jähriger Vollzeittätigkeit.

So müsste eine Person, die zum gesetzlichen Mindestlohn beschäftigt wird, dafür beim heutigen Rentenniveau (48%) gut 60 Jahre arbeiten. Mit dem geplanten abgesenkten Rentenniveau des Jahres 2045 (42%) wären sogar mehr als 69 Beitragsjahre nötig. Wer den Branchenmindestlohn für Pflegerinnen und Pfleger erhält, braucht beim aktuellen Rentenniveau 55 Jahre. Mit dem Niveau des Jahres 2045 wären mehr als 62 Beitragsjahre erforderlich.


Rentenniveau und Altersarmut

Wenn das Rentenniveau wie vorgesehen weiter gesenkt wird, wird es auch für qualifizierte Beschäftigte mit mittlerem Einkommen schwieriger, sich eine Rente deutlich oberhalb der Grundsicherungs- oder der Armutsgefährdungsschwelle zu erarbeiten. Das gilt insbesondere, wenn man statt des traditionellen Konzepts des »Eckrentners« mit 45 Beitragsjahren mit Durchschnittsverdienst kürzere Versicherungsverläufe zugrunde legt, die heute und wahrscheinlich auch in Zukunft realistischer sind – insbesondere bei Frauen.

Dass die Veränderungen erheblich sein werden, illustrieren neue Modellrechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung:[4]

  • Beim aktuellen Rentenniveau (rund 48%, gemessen am Durchschnittsentgelt) erhält eine Person, die als Alten- oder Krankenpfleger/in nach dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes bezahlt wird, nach gut 25 Beitragsjahren eine Rente, die höher ist als die Grundsicherung im Alter. Würde heute dagegen bereits das für das Jahr 2045 prognostizierte Rentenniveau von knapp unter 42% gelten, hätte die Pflegerin / der Pfleger erst nach rund 29 Beitragsjahren einen Rentenanspruch oberhalb der Grundsicherung, die 2015 bei durchschnittlich 747 Euro im Monat lag.
  • Ein Rentner mit 45 Beitragsjahren in Vollzeit muss beim aktuellen Rentenniveau im Durchschnitt 11,42 Euro pro Stunde brutto verdienen, um die Grundsicherungsschwelle zu überschreiten. Gälte schon das für 2045 prognostizierte Rentenniveau, wären dafür mindestens 13,06 Euro nötig. Bei 35 Beitragsjahren in Vollzeit stiege der notwendige Stundenlohn von aktuell 14,68 Euro auf 16,79 Euro.
  • Soll die gesetzliche Rente über der Armutsgefährdungsschwelle liegen, die nach den neuesten vorliegenden Daten von 2015 bei 942 Euro Monatseinkommen für einen Alleinstehenden liegt, fallen die notwendigen Stundenlöhne noch deutlich höher aus: Nach heutigem Stand und bei 45 Beitragsjahren in Vollzeit müssen im Durchschnitt 14,40 Euro verdient werden. Beim Rentenniveau des Jahres 2045 wären es 16,47 Euro. Rechnet man mit 40 Beitragsjahren in Vollzeit, betragen die nötigen Stundenlöhne sogar 16,20 bzw. 18,53 Euro.

Deshalb geht es neben der zügigen, deutlichen Anhebung des Mindestlohns auf mindestens 12 Euro, um der Altersarmut bei Niedrigverdienern gegenzusteuern, auch um eine Stabilisierung und schrittweise Anhebung des Rentenniveaus, um für alle Einkommensgruppen die Lohnersatzfunktion der Renten sicherzustellen. Eine solche Reform würde verhindern, dass sich immer mehr Menschen um ihren Lebensstandard im Alter Sorgen machen müssen.

Mit diesen beiden Stellschrauben ließe sich das Leben und die Lebensperspektiven vieler Millionen BürgerInnen dieses Landes deutlich verbessern, und die soziale Spaltung ein Stück weit einhegen. Hinzukommen müssten allerdings weitere Änderungen in der Arbeitsmarktpolitik, wie das Verbot der Mini-Jobs und die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen. Dies würde zu einer Stärkung der Position der Gewerkschaften führen, und damit die Chance vergrößern auch in der Primärverteilung die Kräfteverhältnisse zugunsten der Lohnabhängigen zu verbessern.

Ob die Sozialdemokratie in den anstehenden Verhandlungen über eine neue große Koalition allerdings Reformen an einigen dieser Stellschrauben in den Vordergrund rückt und auch durchsetzen kann, muss offenbleiben.

[1] Patrick Burauel, Marco Caliendo, Alexandra Fedorets, Markus M. Grabka, Carsten Schröder, Jürgen Schupp und Linda Wittbrodt, Mindestlohn noch längst nicht für alle –
Zur Entlohnung anspruchsberechtigter Erwerbstätiger vor und nach der Mindestlohnreform aus der Perspektive Beschäftigter
, DIW Wochenbericht Nr. 49.2017.
[2] ebd.
[3] Ebd.
[4] Florian Blank, das Rentenniveau in der Diskussion, Nr.13 · Policy Brief WSI · 08/2017.

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