16. Oktober 2015 Uli Cremer: Eskalation des Syrienkriegs
Russische Intervention als »Game Changer«
Am 30.9.2015 eskalierte der Syrienkrieg weiter: Nun griff auch noch Russland mit seiner Luftwaffe ein. Die russischen Luftangriffe versetzten den aufkeimenden Hoffnungen auf eine politische Lösung (genährt durch das internationale Atomabkommen mit dem Iran) einen herben Schlag.[1] Das russische Eingreifen ist nichts anderes als ein Beitrag zur militärischen Eskalation. Das Gemetzel geht in die nächste Runde.
Deswegen war der 30.9.2015 vermutlich ein Tag, in dem UN-Vermittler für Syrien de Mistura daran dachte, die Brocken hinzuschmeißen. Auch Vorgänger wie Kofi Annan oder Brahimi hatten schon vergeblich um eine Lösung gekämpft und waren gescheitert.
Warum ist Russlands Intervention Beitrag zur Eskalation?
Die Idee, eine Regierung der Nationalen Einheit bzw. eine entsprechende Übergangsregierung (ohne IS freilich) zustande zu bringen, kann nur am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld erreicht werden. Wenn die Russen nun auch die neben IS und der syrischen Al Qaida-Filiale Al-Nusra verbliebenen Oppositionsmilizen bombardieren, fragt sich, wer nach den Vorstellungen Moskaus außer den ohnehin schon mit Assad kooperierenden Kräften überhaupt noch Platz in einem politischen Lösungsprojekt hätte. Auch einen Waffenstillstand kann man nicht allein mit sich selbst, mit der eigenen Seite vereinbaren.
Ob das russische Kalkül aufgeht, die militärische Lage in Syrien durch die eigene Intervention entscheidend Richtung Assad-Regime zu verändern, ist zweifelhaft. Denn warum sollten die anderen Konfliktbeteiligten klein bei geben? Die Ressourcen der westlichen und arabischen Sponsoren sind keineswegs erschöpft. Die Unterstützung dieser für »ihre« Rebellen dürfte eher gesteigert werden.
Zwar war die US-Strategie, die auf einen Regime Change in Syrien zielte, nicht wirklich erfolgreich, aber weder die USA noch etwa Saudi-Arabien oder Qatar haben bereits alle militärischen Karten ausgespielt: Sie könnten noch mehr und modernere Waffen an »ihre« Rebellenmilizen liefern – bis hin zu solchen zur Luftabwehr, um so die russischen Flugzeuge zu bedrohen. Oder die USA und ihre Verbündeten könnten selbst Luftangriffe auf die Assad-Truppen fliegen. Oder eigene Bodentruppen entsenden – es sei darin erinnert, dass Saudi-Arabien bereits im Jemen genau das tut.
Risiken und Nebenwirkungen der russischen Intervention: Russland wird tief in den syrischen Kriegssumpf hineingezogen. Der Schweizer Tagesanzeiger titelte am 6.10.2015 »Syrische Rebellen drohen Russland« und berichtete: »In einem gemeinsamen Erklärung haben mehr als 40 syrische Rebellengruppen Widerstand gegen Russlands Militärintervention in dem Bürgerkriegsland angekündigt. ›Wir versichern unserem syrischen Volk (...), dass alle Besatzungsmächte für uns legitime Ziele sind‹, heißt es in dem am Montag über das Internet verbreiteten Schreiben. Die ›russische Militäraggression‹ werde als ›offene Besatzung‹ angesehen.«[2] Die Gegenattacken sollen sich offenbar nicht nur auf Syrien beschränken: »Der Anführer der Nusra-Front, Abu Muhammad al Dschaulani, hat Vergeltung gefordert und zu Terrorangriffen auf Russen im Kaukasus aufgerufen.«[3]
Das Ergebnis des russischen Eingreifens könnte insofern die Intensivierung und geografische Ausweitung des Krieges sein. Die letzten Jahre zeigen, dass es in dem Syrienkrieg keine Seite gewinnen kann. Verantwortliche Politik würde genau darin eine Chance auf eine politische Lösung sehen. Durch die russische Intervention rückt diese aber in weite Ferne.
Wenn allerdings jetzt andere konfliktbeteiligte Mächte aus der NATO und der Arabischen Liga Russland zur Ordnung rufen, ist das pure Heuchelei. Doch nebenbei ergibt sich eine Lerngelegenheit für all jene, die die internationale Einmischung aus den westlichen und arabischen Ländern nicht so genau mitbekommen und abgestritten haben.
Russische Terroristen-Definition
Nach russischer Lesart existieren Oppositionsmilizen jenseits von Al Nusra und IS überhaupt nicht, wie Putin am 7.10.15 verdeutlichte: Er »äußerte sich ... ironisch zu der ›interessanten Idee‹ des französischen Präsidenten Hollande, Kräfte der Freien Syrischen Armee (FSA), also der gemäßigten Opposition gegen Assad, zu unterstützen. Russland sei bereit dazu. Allerdings wisse man nicht, wo diese Armee sei und wer sie anführe.« (FAZ 8.10.2015)
Die Wirklichkeit ist jedoch eine andere und sie widerlegt einmal mehr die Märchengeschichte vom »westlichen Nichtstun« im Syrienkrieg. Nach den ersten russischen Angriffen meldete sich US-Senator McCain zu Wort. Wie der Spiegel berichtet, war er not amused: »›Ich kann bestätigen, dass es Angriffe gegen Rekruten der Freien Syrischen Armee gegeben hat, die von der CIA bewaffnet und trainiert worden sind‹, so McCain. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters bestätigte auch der Kommandeur der Rebellengruppe den russischen Luftangriff. Die Aufständischen dort hätten eine Ausbildung durch die CIA in Katar und Saudi-Arabien erhalten, sagte der Kommandeur demnach.«[4]
Bisher war in westlichen Medien wie der New York Times, Los Angeles Times, tagesschau.de oder Welt nur von entsprechender CIA-Ausbildung in Jordanien berichtet worden,[5] aber dass es weitere Ausbildungsstützpunkte gab bzw. gibt, ist durchaus plausibel. Das Ergebnis fasst die Nachrichtenagentur ap jedenfalls so zusammen: »Die CIA hat in einer verdeckten Operation seit 2013 geschätzt 10.000 Kämpfer der gemäßigten syrischen Opposition gegen Assad bewaffnet, finanziert und ausgebildet. Deren aktuelle Zahl ist nicht bekannt. Dieses Geheimprogramm lief unabhängig von Bemühungen des US-Militärs, die mittlerweile als Fehlschlag gelten.«[6]
Letzteres war im Herbst 2014 von der US-Regierung publikumswirksam angekündigt worden, als die US-Luftangriffe auf den IS starteten. Die Ausbildung erfolgte in diesem Fall in der Türkei. Die Absolventen sollten offenbar zu den erwähnten 10.000 vom CIA ausgebildeten Kämpfern hinzustoßen. Diese hatten nämlich im Frühjahr und Sommer 2015 eine erfolgreiche militärische Offensive gegen die Assad-Truppen im der Provinz Idlib (im Nordwesten) unternommen und bedrängten das alawitische Kerngebiet um Latakia.
Dabei waren sie Teil der sogenannten Armee der Eroberung (Jaish al-Fatah), somit im Bündnis mit dem Al Qaida Ableger Al Nusra. Letzterer rieb die erste vom US-Militär trainierte Absolventenklasse gleich nach Grenzübertritt auf und kassierte deren Waffen ein. Die zweite Absolventenklasse händigte daraufhin im September das militärische Gerät freiwillig der Al Nusra aus.[7] Offenbar waren die CIA-Ausbilder erfolgreicher als die des US-Militärs.
Während die vom Westen und von den arabischen Royaloligarchien unterstützte »Armee der Eroberung« 2015 keineswegs den IS in die Defensive drängte, sondern vielmehr den Krieg gegen das Assad-Regime forcierte und die Provinz Idlib eroberte, wird Russland andersherum dafür kritisiert, dass es weniger den IS bombardiere als vielmehr die »gemäßigten Rebellen«. Nach jeder russischen Angriffswelle geben sich wichtige deutsche Medien und PolitikerInnen erneut »überrascht« und »empört«, dass wieder nicht alle Bomben auf IS-Ziele abgeworfen wurden.
Der russische Präsident Putin hat jedoch im September in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung eine klare Linie entwickelt, die seine Luftwaffe nun exekutiert: »Und jetzt füllen auch Mitglieder der vom Westen unterstützten sogenannten gemäßigten syrischen Opposition Syriens die Reihen der Radikalen auf... Es ist immer dasselbe: Erst werden sie bewaffnet und ausgebildet, und dann gehen sie auf die Seite des IS über. Überhaupt ist auch der IS nicht aus dem Nichts entstanden. Er wurde anfangs als Instrument gegen unerwünschte weltliche Regimes geschaffen. (...)
Meine Herren, Sie haben es natürlich mit äußerst grausamen Leuten zu tun, aber sie sind weder dumm noch primitiv. Sie sind nicht dümmer als Sie selbst, und es ist noch nicht ausgemacht, wer hier wen manipuliert und für seine Zwecke ausnutzt. Die jüngsten Meldungen darüber, wie Waffen, mit denen die sogenannte gemäßigte Opposition ausgestattet wurde, an die Terroristen weitergegeben wurden, sind die beste Bestätigung dieser These. Wir halten alle Versuche, Terroristen zu instrumentalisieren oder sie gar zu bewaffnen, nicht nur für äußerst kurzsichtig, sondern vor allem für brandgefährlich. (...) Es muss endlich anerkannt werden, dass niemand außer der Regierungsarmee von Präsident (...) Assad und den kurdischen Volksmilizen in Syrien ernsthaft gegen den IS und andere terroristische Gruppen kämpft.«[8]
In Putins Sichtweise sind also alle Kämpfer außer der kurdischen YPG und den Assad-Truppen Terroristen oder angehende Terroristen – und werden entsprechend bombardiert. Diese Sichtweise deckt sich zu 100% mit der Auffassung des Assad-Regimes.
Natürlich ist auch den westlichen Regierungen bewusst, dass nicht nur »gemäßigte Rebellen« gegen Assad kämpfen. Deswegen griffen die EU-AußenministerInnen am 12.10.2015 zu der Formulierung »other UN-designated terrorist groups«.[9] Diese dürften die Russen genauso wie den IS bombardieren – aber bitte nicht die »moderate Opposition«. Wenn die von der UNO als Terrororganisation eingestufte Al Nusra militärisch gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee vorgeht (wie in der Provinz Idlib) wird die militärische Zielzuordnung natürlich kompliziert. Zwar reden die Militärs seit Jahren von »intelligenten« Waffen, aber solche, die nach politischer Gesinnung unterscheiden haben vermutlich weder die USA (als Militärmacht Nr. 1) noch Russland im Arsenal. Insofern treffen die abgeworfenen Bomben wahllos und mitunter natürlich auch die Zivilbevölkerung. Das wird dann als »Kollateralschaden« abgetan.
Motive für die russische Intervention
Aber was hat die russische Regierung bewogen, in den Syrienkrieg direkt einzugreifen und ihn nicht mehr (wie in den letzten Jahren) als Stellvertreterkrieg aus der zweiten Reihe zu führen? Warum setzt sie statt Waffenlieferungen und Militärberatern eigenes Personal ein?
Laut FAZ-Redakteur Klaus-Dieter Frankenberger hat »die russische Intervention ... einzig den Zweck ..., das Regime Assad zu stabilisieren – und Russlands Anspruch auf Weltmachtstatus zu bekräftigen«.[10]
Die ZEIT gibt für das russische Eingreifen wenigstens doppelt so viele, also vier Gründe an: »Erstens ist Syrien der älteste Verbündete Russlands in der Region. Zweitens möchte Putin Einfluss nehmen auf die Zeit nach Assad... ›Er will die Nachkriegsordnung mitgestalten.‹ Über Syrien kehrt Russland auf die Weltbühne zurück, (...) Drittens geht es dem russischen Präsidenten darum, dem Westen zuvorzukommen: Bloß keine westlich-türkisch-arabische Flugverbotszone zum Nachteil Assads; und auf keinen Fall weitere Gebietsverluste für das syrische Regime. Und viertens sorgt sich auch Russland wegen des IS... Dschihadisten im Kaukasus..., von denen Tausende heute in Syrien kämpfen.«[11]
Dass sogar russisches Kerngebiet, konkret die russische Hauptstadt, vom IS bedroht wird, belegt die Meldung vom 12.10.2015, dass ein entsprechender Terroranschlag in Moskau von den Sicherheitskräften vereitelt wurde.[12] Terroranschläge auf die Moskauer Metro und den Flughafen Moskau-Domodedowo wurden 2010 bzw. 2011 verübt. Die Täter stammten aus dem Kaukasus, waren jedoch nicht mit dem IS verbunden.
Denn diese Organisation existierte damals noch nicht. Jedenfalls sollte man die Gefährdung Russlands durch islamistische Terrororganisationen durchaus als ernsthaftes Motiv betrachten. Russische Bomben werden jetzt nicht wie in der Vergangenheit über tschetschenischen, sondern über syrischem Territorium auf tschetschenische Kämpfer geworfen, die dort massenhaft kämpfen.[13]
Vielleicht hatte die russische Regierung eine ähnliche Lageeinschätzung wie ZEIT-Korrespondent Michael Thumann: »Im Spätsommer war das Ende des Diktators Baschar al-Assad absehbar. Er war belagert in Damaskus, eingekesselt in Aleppo und bedrängt in der Mittelmeerregion um Latakia. Seine Milizen waren demoralisiert und geschwächt. Russland rettet mit seiner Militärintervention am Boden, zu Wasser und in der Luft den alawitischen Diktator...«[14]
Mit der Niederlage des Assad-Regimes im Krieg wäre der Militärstützpunkt in Tartus für Russland verloren. Eine Regierung aus den Reihen der »Armee der Eroberung«, also politisch von Al Qaida bis zu der verbliebenen Freien Syrischen Armee, würde wohl kaum irgendwelche russischen Interessen berücksichtigen wollen, zumal tschetschenische Kämpfer nicht nur beim IS, sondern auch bei Al Nusra eine wichtige Rolle spielen.[15] Insofern sind selbstverständlich russische Großmachtambitionen berührt.
Auf ein weiteres Motiv für das russische Eingreifen hat NATO-Generalsekretär Stoltenberg aufmerksam gemacht. Er »erinnerte ... daran, dass die Nato sehr genau verfolge, dass Russland in Syrien ›einige seiner modernsten Waffen‹ erprobe.«[16] Ein Beispiel dafür ist der Einsatz von Cruise Missiles, die vom Kaspischen Meer über iranisches und irakisches Gebiet Ziele in Syrien angriffen. Zwar wurde im Westen sogleich behauptet, die Technik würde nicht funktionieren und viele der Raketen seien im Iran abgestürzt. Das konnte jedoch von Teheran nicht bestätigt werden. Beweise in Form von Satellitenbildern sind der Öffentlichkeit ebenfalls noch nicht bekannt geworden.
Gleichzeitig war der Cruise Missiles Einsatz eine hervorragende Gelegenheit, Russland die Gefährdung des zivilen Luftverkehrs in der Region vorzuwerfen. Die WELT berichtet: »Internationale Luftfahrtorganisationen sind wegen Russlands Einsatz von Marschflugkörpern im Syrien-Konflikt alarmiert. Die Europäische Agentur für Luftfahrtsicherheit (EASA) veröffentlichte deshalb jetzt eine entsprechende Sicherheitsinformation für Fluggesellschaften, die den Luftraum über dem Kaspischen Meer, dem Iran und dem Irak nutzen.«
Gleichzeitig räumt die Zeitung ein: »Die gängige Reiseflughöhe von Passagiermaschinen beträgt ... 9.000 bis 12.000 Meter. Sollen Marschflugkörper nicht vom Radar erkannt werden, fliegen sie in sehr niedrigen Höhen von unter 200 Metern, also deutlich niedriger als Passagierflugzeuge.«[17] Eine entsprechende Warnung vor dem Überfliegen von Gebieten, in denen US-Drohneneinsätze stattfinden, hat es andererseits bisher nicht gegeben.
Russische Intervention als »Game Changer«
Die EU-Außenbeauftragte Mogherini bezeichnete das Eingreifen Russlands als Game Changer. Doch worin besteht die Veränderung der Regeln? Das russische Kalkül, durch eigene Luftangriffe das militärische Blatt zugunsten Assads zu wenden, funktioniert nur, wenn am Boden die syrischen Regierungstruppen plus die mit ihnen kämpfenden Hisbollah-Milizen und iranischen Soldaten erfolgreich sind. Dazu verstärkt der Iran seine Unterstützung: Die libanesische Zeitung Al-Akhbar meldete, dass am 12.10.2015 »erste neue iranische Revolutionsgardisten in Syrien eintrafen, die sich bei Hama der Assad-Armee und der libanesischen Hisbollah anschließen sollen. Auch der Chef der Al-Quds-Brigaden, Qassem Suleimani, sei bereits vor Ort.«[18] Die taz gab als Größenordnung »tausende iranische Soldaten« an.[19]
Allerdings geben die »Freunde Syriens« aus dem Westen und den arabischen Royaloligarchien und ihre syrische Klientel nicht klein bei, sondern die Kriegsspirale macht eine neue Umdrehung: »The increased levels of support have raised morale on both sides of the conflict, broadening war aims and hardening political positions, making a diplomatic settlement all the more unlikely«, schreibt die New York Times.[20] Ganz offensichtlich ist man in Washington und Riad nicht gewillt, einen militärischen Sieg des Assad-Regimes hinzunehmen. Denn angestachelt vom russischen Eingreifen verstärkt die gegnerische Seite nun ihrerseits das Engagement.
Syrische Milizenführer berichten, »sie bekämen seit der russischen Intervention zum ersten Mal großzügige Unterstützung in Form von in den USA hergestellten Panzerabwehrraketen. An die Front geliefert würden die Waffen von US-Verbündeten in Syrien - wohl mit Billigung der USA. Saudi-Arabien hat demnach 2013 13.000 in den USA hergestellte Panzerabwehrraketen vom Typ TOW bestellt. ›Wir bekommen in sehr kurzer Zeit das, wonach wir fragen‹, zitiert die New York Times einen Kommandeur. Innerhalb von zwei Tagen habe seine Einheit sieben gepanzerte Fahrzeuge mit sieben TOW-Panzerabwehrraketen zerstört. Der Anführer einer anderen Rebellengruppe gab demnach zu Protokoll: ›Wir können so viel kriegen, wie wir wollen und wann wir es brauchen.‹ Auch er sagt, Russlands Eintritt in den Konflikt habe den Unterschied gemacht.«[21]
Die nächste Eskalationsstufe wäre »die Lieferung von Flugzeugabwehrraketen« (auf die die Rebellen seit Längerem drängen), »um sich gegen die Luftangriffe der Regimetruppen zu wehren - nun haben sie laut New York Times diese Forderung erneuert, um auch gegen russische Jets vorzugehen.«[22] Alle weiteren militärischen Optionen (saudische Bodentruppen, US-Luftangriffe auf syrische Regierungstruppen oder die Einrichtung einer vom Westen kontrollierten Flugverbotszone) liefen auf eine direkte militärische Konfrontation mit Russland hinaus.
Zunächst sind also die Regeln bei den Waffenlieferungen an die eigene Klientel geändert worden. Dass hochmoderne Waffen kurze Zeit später bei der Al Qaida-Filiale Al Nusra landen, wird offenbar jetzt in Kauf genommen. Im Grunde kann man von einem De-Facto-Bündnis mit der Al Qaida sprechen. Eine verblüffende Entwicklung, wenn man sich daran erinnert, dass die US-Streitkräfte die Taliban in Afghanistan 2001 angriffen und von der Macht vertrieben, weil sie die Al Qaida beherbergt hatten!
Die forcierten US-Waffenlieferungen signalisieren einen Strategiewechsel der US-Regierung: »So the US strategy in Syria is shifting once again, initially focused on regime change, then focused on destroying ISIS, and now, having given up more or less on both of those, they just want to see Russia fail, and the administration seems comfortable with the possibility that US-made weapons will be destroying Russian tanks and helicopters.«[23]
Entsprechend ist die US-Regierung an einer militärischen Zusammenarbeit mit Russland im Syrienkrieg bzw. im Krieg gegen den IS oder wenigstens an Teilabsprachen im Moment nicht weiter interessiert. Zwar gibt es zwischen den US-Militär und russischen Streitkräften Kontakte, um unbeabsichtigte Zwischenfälle zu vermeiden, da ja beide Luftwaffen im gleichen Luftraum operieren. Putin beklagte jedoch, »Russland habe die USA zunächst um eine Liste von Angriffszielen gebeten. Dies hätten die USA abgelehnt. ›Dann haben wir noch mal nachgedacht und eine andere Frage gestellt: Dann sagt uns, wo wir nicht angreifen sollen.‹ Auch darauf habe Moskau keine Antwort aus Washington erhalten.«[24] Es kocht also jede Großmacht ihre eigene Suppe und versucht der anderen Seite Ungemach zu bereiten. Insofern hält die ZEIT fest: »Zur Wahrheit gehört auch: Der IS steht auf niemandes Prioritätenliste g0anz oben.«[25]
Die Rolle der Türkei
Zum Glück mischt sich in alles militärische Abenteurertum rund um Syrien wenigstens zeitweise ein Rest Besonnenheit. Die türkische Luftabwehr hat russische Kampfjets, die in mutmaßlich versehentlich in den türkischen Luftraum eindrangen nicht gleich abgeschossen – so wie es umgekehrt die syrische Luftabwehr im Juni 2012 mit einem türkischen Kampfjet gemacht hatte.[26] Auch das anhaltende Gezeter der NATO-Staaten um die Luftraumverletzungen muss man vermutlich militärisch nicht so ernst nehmen. Denn bisher sind die Abzugspläne für die deutschen Patriot-Raketen aus der Türkei nicht gestoppt worden. Beschlüsse zur Stationierung neuer NATO-Verbände in der Türkei (z.B. Verlegung der NATO Response Force) haben die NATO-Verteidigungsminister auf ihrer Sondertagung am 8.10.15 nicht gefasst. Stoltenberg verwies lediglich auf die »zu 100 Prozent bestehenden und felsenfesten Sicherheitsgarantien«.[27]
Insgesamt bleibt die Syrien-Strategie der türkischen Regierung inkompatibel mit den Ansätzen der anderen Mächte. Auch auf ihrer Prioritätenliste steht der Kampf gegen den IS nicht besonders weit oben. Als Hauptfeind auf dem syrischen Schlachtfeld gilt weiter die kurdische YPG. Nachdem die USA am 11.10.2015 im Norden Syriens für die YPG und mir ihr verbündete syrische Milizen per Fallschirm Tonnen Munition und Kleinwaffen abgeworfen hatten, hat Ankara »die Botschafter Russlands und der USA einbestellt und vor einer Unterstützung syrischer Kurden im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz ›Islamischer Staat‹ (IS) gewarnt.«[28]
Die Warnung an Russland war nach bisherigen Erkenntnissen rein präventiv, denn bisher sind keine russischen Waffenlieferungen an die Kurden bekannt geworden. Allerdings hatte Putin in seiner UN-Rede im September die kurdischen Volksmilizen positiv erwähnt, weil sie den IS ernsthaft bekämpfen würden.
Fazit
Das direkte russische Eingreifen in den Syrienkrieg hat zu einer Lösung des Konflikts nicht beitragen. Vielmehr ist der Krieg weiter angeheizt worden. Vor ein paar Wochen, als wichtige europäische Akteure (wie Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier) vor dem Hintergrund der Einigung im Atomdeal mit dem Iran über ihren Schatten sprangen und Gespräche mit dem Assad-Regime für sinnvoll erachteten, schien die Chance zu einer Lösung des Konflikts auf.[29]
UN-Vermittler Staffan de Mistura hatte intensiv an einem Format für eine Syrien-Kontaktgruppe gebastelt, die auch alle regionalen Mächte einschließen sollte. Der UN-Sicherheitsrats hatte sich bereits am 17.8.2015 hinter dessen Vorschläge gestellt, die u.a. die Einrichtung von vier Arbeitsgruppen vorsahen, zu den Themen »Sicherheit und Schutz für alle, politische und rechtliche Fragen, militärische Fragen und Fragen der Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung sowie Kontinuität der öffentlichen Dienste und Wiederaufbau und Entwicklung«.[30]
Gerade nach der militärischen Eskalation in Folge des russischen Eingreifens sind die syrischen Oppositionsgruppen erst recht nicht bereit, an einer politischen Verhandlungslösung mitzuwirken: »Die syrische Opposition sprach sich gegen den jüngsten UN-Vorstoß aus, eine Verhandlungslösung für das Bürgerkriegsland zu finden. Der Plan, den der UN-Sonderbeauftrage Staffan de Mistura entworfen habe, funktioniere in seiner jetzigen Form nicht, erklärten vom Westen unterstützte Oppositionelle und islamistische Rebellen gemeinsam.«[31] Da die westlichen und arabischen Sponsoren dieser Bürgerkriegsseite die Waffenlieferungen forcieren und nicht erkennbar auf eine konstruktive Haltung ihrer Klientel drängen, dürfte sich deren kompromisslose Position kaum verändern.
Die russischen Luftangriffe haben die Weichen so gestellt, dass das Gemetzel in Syrien in die nächste Runde geht. Die letzten Jahre zeigen, dass in dem Syrienkrieg keine Seite gewinnen kann. Nicht mehr, sondern weniger militärisches Engagement ist erforderlich. Nur dann wird es eine politische Lösung geben.
Uli Cremer ist einer der Initiatoren der »Grünen Friedensinitiative« und Autor des Buches Neue NATO – die ersten Kriege (VSA: Verlag Hamburg 2009).
[1] Vgl. http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/syrienkrieg-der-neue-interventionsfundamentalismus/
[2] http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Syrische-Rebellen-drohen-Russland/story/15854279
[3] »Rebellen in Syrien rufen zum Krieg gegen Russland auf«, FAZ 13.10.15
[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-russen-sollen-us-verbuendete-angegriffen-haben-a-1055748.html
[5] Details siehe: http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/syrienkrieg-der-neue-interventionsfundamentalismus/
[6] Zitiert nach taz 12.10.2015: »Vorwürfe aus Washington«.
[7] http://www.imi-online.de/2015/09/23/syrien-trainingsdesaster/ – primäre Quelle: http://news.antiwar.com/2015/09/22/new-us-trained-rebels-in-syria-gave-their-weapons-to-al-qaeda/
[8] Wortlaut von Putins Rede 28.9.2015, abrufbar unter: https://www.jungewelt.de/2015/09-30/003.php
[9] https://euobserver.com/foreign/130641
[10] Klaus-Dieter Frankenberger: Assads Patron, in: FAZ 12.10.15, abrufbar: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/klaus-dieter-frankenberger-kommentiert-den-syrien-krieg-13853038.html
[11] DIE ZEIT, 8.10.2015, S. 8
[12] http://de.sputniknews.com/panorama/20151012/304882404/terrorakt-is-moskau.html
[13] Details zum tschetschenischen Einfluss und deren Fraktionen im Syrienkrieg siehe: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2014A40_sgb.pdf
[14] http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-10/syrien-russland-putin-assad
[15] Details siehe: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2014A40_sgb.pdf
[16] »Eine Speerspitze für Ankara«, FAZ 9.10.2015; abrufbar: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/konflikt-in-syrien-eine-speerspitze-fuer-ankara-13846543.html
[17] »Airlines fürchten die russischen Raketen«, WELT 11.10.2015; abrufbar: http://www.welt.de/wirtschaft/article147478425/Airlines-fuerchten-die-russischen-Raketen.html
[18] derstandard.at/2000023872571/Der-Krieg-in-Syrien-geht-in-eine-neue-Phase
[19] »Offenbar Offensive bei Aleppo geplant«, taz 15.10.2015
[20] http://www.nytimes.com/2015/10/13/world/middleeast/syria-russia-airstrikes.html?hp&action=click&pgtype=Homepage&module=first-column-region®ion=top-news&WT.nav=top-news&_r=2 – abgerufen 14.10.2015
[21] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-russlands-einmischung-loest-stellvertreterkrieg-aus-a-1057472.html
[22] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-russlands-einmischung-loest-stellvertreterkrieg-aus-a-1057472.html
[23] http://www.imi-online.de/2015/10/14/syrien-stellvertreterkrieg-2/ – Originaltext abrufbar unter: http://news.antiwar.com/2015/10/13/us-arms-shipments-fuel-proxy-war-with-russia-over-syria/
[24] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-putin-kritisiert-kooperation-der-usa-a-1057634.html
[25] »Ein bisschen Krieg«, ZEIT 8.10.2015, S. 8
[26] »Syrienkrieg: Türkei verliert ersten Kampfjet«, http://blog.gruene-friedensinitiative.de/?p=563
[27] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/konflikt-in-syrien-eine-speerspitze-fuer-ankara-13846543.html
[28] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-bestellt-botschafter-aus-russland-und-den-usa-ein-a-1057755.html
[29] Details siehe: http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/syrienkrieg-der-neue-interventionsfundamentalismus/
[30] http://www.un.org/depts/german/sr/sr_15/sp15-15.pdf
[31] http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEKCN0RY0I720151004 – gefunden 15.10.2015