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8. Mai 2023 Phil Burton-Cartledge: König im Ornat, Tories im Matt und Labour im Patt

Schachzüge vor und nach den Kommunalwahlen in England

Bei den Kommunalwahlen in England haben die Konservativen viele Mandate verloren, während die Oppositionsparteien zulegen konnten. Die Liberaldemokraten und die Grünen haben im Verhältnis zu ihrer Vertretung im Unterhaus besser abgeschnitten als die Labour Party, was Spekulationen über den Ausgang der nächsten Parlamentswahlen nährt.

Als Greg Hands, der Generalsekretär (Chairman) der Konservativen Partei, vor einigen Wochen im Fernsehstudio verkündete, die Tories würden 1.000 Kommunalmandate verlieren, glaubte er es wahrscheinlich selbst nicht. Er zog einfach eine unwahrscheinlich hohe Zahl aus dem Äther, untermauerte sie mit »unabhängigen Beweisen« und nutzte sie so für sein Erwartungsmanagement.

Jedes Ergebnis, bei dem die Verluste der Tories die Tausendergrenze nicht überschritten, hätte als Misserfolg der Labour Party und gleichzeitig als Beweis für den wieder aufkeimenden Optimismus auf Seiten der Tories dargestellt werden können. Und nun das: 1.061 Tory-Ratsmitglieder weniger und eine Labour Party, die zum ersten Mal seit 21 Jahren wieder stärkste Partei in den Kommunen ist – ein desaströses Wahlergebnis für die konservative Regierung.

Kurz vor Ende der Auszählung bei nur noch drei ausstehenden Ergebnissen stand fest: Die Kandidat*innen der Labour Party haben 527 Kommunalmandate hinzugewonnen, die Liberaldemokraten 416 und die Grünen 240. Damit hat die Labour Party in 22 weiteren Kommunalparlamenten (darunter Stoke-on-Trent) die Mehrheit errungen, die Liberaldemokraten haben zwölf weitere hinzugewonnen und die Grünen haben in Mid-Suffolk erstmals die Mehrheit in einem nordenglischen Kommunalparlament erreicht.[1]

Und doch gibt es einen Wermutstropfen, zumindest wenn man den Analysen des allseits geschätzten Wahlforschers John Curtice folgt.[2] Das Ergebnis sei kein Triumph für die Labour Party, sondern deute eher auf ein «hung parliament« – ein Patt bei den nächsten Unterhauswahlen – hin. Angesichts der starken Zugewinne der Liberaldemokraten und der Grünen sowie einiger Ergebnisse, bei denen ehemalige Labour-Mandatsträger*innen als Unabhängige oder Grüne wiedergewählt wurden – vor allem in Merseyside mit Liverpool als Zentrum –, sei der Labour-Vorsitzende Keir Starmer auf keinem guten Weg, die Mehrheit der Parlamentssitze im Unterhaus zu gewinnen.

Laut Curtice’ Hochrechnung der Kommunalwahlergebnisse in Stimmenanteile auf nationaler Ebene hätte Labour 35%, die Tories 26% erreicht. Das ist besser als bei den letzten vergleichbaren Kommunalwahlen vor vier Jahren, aber kein großer Fortschritt gegenüber den Kommunalwahlen (in anderen Gebietskörperschaften) im letzten Jahr.[3]

Auch wenn es mir fern liegt, der Antwort der politischen Wissenschaft auf die Frage nach des Pudels Kern zu widersprechen: Diese Analyse greift zu kurz. Denn sie berücksichtigt nicht, wer bei den Kommunalwahlen gewählt hat. Aber da die Analyse von Curtice stammt, wird sie von jenen Linken, die glauben wollen, dass Starmer die Labour Party schnurstracks in eine Wahlniederlage führt, als »Copium« benutzt, als Droge zur Bewältigung von Fehlleistungen.

Wähler*innen können jedoch für analytische Zwecke segmentiert werden. Manchmal ist das nützlich, manchmal völlig selbstbezogen. Wenn wir darüber nachdenken wollen, was diese Ergebnisse für die nächsten Parlamentswahlen bedeuten könnten, müssen wir uns genauer ansehen, wer gewählt hat.

Wir wissen, dass bei jeder Wahl mehr ältere Menschen, insbesondere Rentner*innen, von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen als jede andere Wählergruppe. Trotz vieler miserabler Kommentare zu einem miserablen Resultat: Auch 2019 war Labour immer noch die stärkste Partei unter den Menschen im erwerbsfähigen Alter. Es waren die Oldies, die Boris Johnson zu einem Sieg verhalfen, der den Tories ein Jahrzehnt lang den Weg ebnen sollte. Wegen des Eigentums und wegen der Erfahrung des Ruhestands sind sie für die Tories prädisponiert. Natürlich gilt das nicht für alle Rentner*innen, aber die hartnäckige und überproportionale Unterstützung der Tories durch diese Schicht im letzten Jahrzehnt ist eine unausweichliche soziale Tatsache.

Hinzu kommt, dass die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen niedriger ist als bei Parlamentswahlen und die überproportionale Wahlbeteiligung älterer Menschen noch ausgeprägter ist. Daher haben die Tories bei Kommunalwahlen seit fast zwei Jahrzehnten, als sie stärkste Partei auf kommunaler Ebene wurden, einen systemischen demografischen Vorteil. Wenn die Unterstützung für die Tories bei Kommunalwahlen einbricht, ist das ein Zeichen dafür, dass diese Kernwählerschaft nicht mehr so verlässlich ist wie früher. Dies ist ein weiterer Indikator dafür, dass die Tories mit einer Krise der politischen Reproduktion ihrer Basis konfrontiert sind.

Was bedeutet das für die Parlamentswahlen? Es deutet darauf hin, dass die Labour Party bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr noch besser abschneiden wird, da der Tory-Anhängerschaft im höheren Alter eine größere Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter gegenübersteht. Das weiß nicht nur ich, sondern das wissen auch die meisten Politikwissenschaftler*innen und die Leute in Starmers Büro. Deshalb können auch die Mitglieder aus Partei- und Fraktionsvorstand der Labour Party am Wochenende nach diesen Kommunalwahlen durch die Studios touren und voller Zuversicht ihre Überzeugung bekunden, dass Labour auf dem Weg in den Amtssitz des Premierministers in der Downing Street ist.

Was bedeutet das politisch? Wir werden sehen, welchen Akzent Starmer und das Labour-Schattenkabinett als nächstes setzen. Werden sie weiterhin so schöne Sachen wie etwa die Abschaffung der Studiengebühren verpönen und stattdessen mit dem elenden Trott weitermachen, nicht viel zu bieten und große Wahlerfolge zu erwarten? Rein empirisch betrachtet, ist dieser Kurs gerade an der Wahlurne bestätigt worden.

Oder werden wir jetzt, wo sich Labour die Anwartschaft für mehr Aufmerksamkeit verdient hat, einen Wechsel zu konkreteren, positiveren und hoffnungsvolleren Vorschlägen erleben? Mit den angekündigten programmatischen Reden zur Gesundheitsversorgung im NHS und zur sozialen Sicherheit wird diese Frage bald eine Antwort finden.

Die guten Ergebnisse der Liberaldemokraten und der Grünen werden von der Labour-Führung wahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen, obwohl beide Parteien gut positioniert sind, um von der Unzufriedenheit mit einer prospektiven Starmer-Regierung besser zu profitieren als die Tories oder die klägliche UKIP-Nachfolgepartei Reform UK. Schon jetzt wird der Sieg der Labour Party über die Grünen in Brighton als Beweis dafür genommen, dass die Grünen keine Gefahr für Labour darstellen, während die Erfolge der Grünen in anderen Regionen ignoriert werden. Es ist zwar noch ein weiter Weg, bis die Grünen und, in geringerem Maße, die Liberaldemokraten die Labour Party dazu bringen können, sich »ehrlich« zu machen, aber das ist der Weg, auf dem wir uns befinden, und es führt nichts daran vorbei.

Und was ist mit den Tories? Die Medien werden nach dem Ergebnis der Kommunalwahl wieder viele Stories über innerparteiliche Messerstechereien bringen. Die Mühlen der Politik mahlen für niemanden langsam, schon gar nicht für einen König, der sich krönen lässt. Für einen rational denkenden Tory, der zu intellektueller Redlichkeit fähig ist –  und die sind bekanntlich dünn gesät[4] –, sollte das Wahlergebnis den Bankrott zweier politischer Finten von Premierminister Rishi Sunak deutlich gemacht haben: Zum einen der Versuch, mit der Einführung einer Ausweispflicht für Wähler*innen Stimmergebnisse zugunsten der Konservativen zu beeinflussen, und zum anderen die zweigleisige Strategie von Günstlingspolitik und rassistisch konnotierter Anti-Wokeness-Kampagne.

Die Labour Party hat richtig analysiert und hebt darauf ab, dass die Menschen es satt haben, wie die Tories die Grundversorgung ruinieren und kein Interesse daran haben, das Leben der Menschen auch nur minimal zu verbessern. Schon eine kleine Veränderung, ein kleiner Schritt, der den Staat zum Funktionieren bringen oder den Menschen ein besseres Leben ermöglichen würde, könnte Millionen von Wähler*innen zurückbringen. Nicht durch »Ideologie« oder »Dogma«, sondern durch Staatskunst und Klassenpolitik.

Einst waren die Tories berühmt dafür, trotz des mit ihrem Namen verbundenen konservativen Bewahrens die anpassungsfähigste und flexibelste Partei zu sein. Jetzt sind sie schachmatt, weil ihre Wählerschaft schrumpft und weil ihr einer Werbeschrift gleichendes programmatisches Pflichtenheft sie nicht vor der aufziehenden Katastrophe bewahren kann. Und weil sie derzeit nicht in der Lage sind, sich neu zu erfinden, werden sie auch den Gang der weiteren Entwicklung, auf den die Kommunalwahlergebnisse hindeuten, kaum noch ändern können.


Anmerkungen

[1] England local election results 2023, BBC Online, 5.5.2023.
[2] Local election 2023: Prof Sir John Curtice on what the results mean for the parties, BBC Online, 6.5.2023.
[3] Vgl. Hinrich Kuhls: Das Vereinigte Königreich vor Zerreißproben. Nach den Wahlen in Nordirland und Großbritannien, Sozialismus.de Aktuell, 8.5.2022.
[4] Chris Burton-Cartledge: What is National Conservatism?, All That Is Solid…, 1.5.2023.

Phil Burton-Cartledge ist Dozent für Soziologie in Derby. Seine Untersuchung zur Konservativen Partei »Falling Down. Parliamentary Conservatism and the Decline of Tory Britain« (Verso Books 2021) erscheint im Sommer 2023 in einer überarbeiteten Taschenbuchausgabe unter dem Titel: »The Party's Over. The Rise and Fall of the Conservatives from Thatcher to Sunak.« Der hier dokumentierte Beitrag ist zuerst am 5.5.2023 unter dem Titel »Politics After the Local Elections« auf seinem Blog All That Is Solid… erschienen. (Übersetzung: Hinrich Kuhls).

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