7. November 2014 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Das Beispiel Hamburg
Lawine der Altersarmut
Der Paritätische Wohlfahrtsverband schlägt Alarm: Der Anstieg der Zahl der BezieherInnen von Altersgrundsicherung bundesweit um 7,4% weist auf eine gravierende gesellschaftliche Fehlentwicklung. Der Verband übt scharfe Kritik an der bisherigen Rentenpolitik der großen Koalition und mahnt die Bundesregierung, umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersarmut in Deutschland zu ergreifen. Der Verband fordert eine durchgreifende Reform der Altersgrundsicherung und eine deutliche Erhöhung des Leistungsniveaus.
Die Zahl der Altersgrundsicherungsbezieher hat sich seit der Einführung dieser Leistung im Jahr 2003 auf aktuell rund 499.000 praktisch verdoppelt. Diese Entwicklung werde unaufhaltsam weitergehen, wenn nicht politisch gegengesteuert werde. »Die neuerlichen Rekordzahlen sind lediglich Vorboten einer auf uns zurollenden Lawine der Altersarmut. Ab Mitte des nächsten Jahrzehnts droht ein Heer von ehemals Langzeit- und Mehrfacharbeitslosen sukzessive und unaufhaltsam in die Altersarmut zu fallen«, warnt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider.
Auch Hamburg macht in Bezug auf die ältere Generation in den letzten Jahren bundesweit Schlagzeilen als »Hauptstadt der Altersarmut«. Dies bezieht sich auf den Umstand, dass nirgendwo in Deutschland prozentual so viele alte Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind wie in Hamburg. Auch 2013 hat Hamburg wieder die unrühmliche Rolle als Spitzenreiter in Sachen Altersarmut eingenommen. So bezogen am Jahresende 2013 68 von 1.000 HamburgerInnen über 65 Jahre Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII »Sozialhilfe«).
Insgesamt zeigen die Zahlen, dass Armut im Alter gerade in den Stadtstaaten verbreitet ist. »Am Jahresende 2013 erhielten im früheren Bundesgebiet 32 von 1.000 Einwohnern ab 65 Jahren und in den neuen Ländern einschließlich Berlin 21 von 1.000 Einwohnern dieses Alters Leistungen der Grundsicherung. Spitzenreiter unter den Bundesländern waren die Stadtstaaten Hamburg (68 je 1.000 Einwohner), Bremen (59 je 1.000 Einwohner) und Berlin (58 je 1.000 Einwohner). Mit jeweils 11 Empfängerinnen und Empfängern je 1 000 Einwohnern ab 65 Jahren nahm die Bevölkerung in Sachsen und Thüringen diese Leistungen am seltensten in Anspruch.«
Insgesamt bezogen laut Statistischem Bundesamt am Jahresende 2013 in Deutschland rund 499.000 Personen ab 65 Jahren Leistungen der Grundsicherung. . Auf Grundsicherung sind in der Altersgruppe ab 65 Jahren insbesondere westdeutsche Frauen angewiesen: Am Jahresende 2013 bezogen in Westdeutschland 36 von 1.000 Frauen und 27 von 1.000 Männern dieses Alters Leistungen der Grundsicherung. In den neuen Ländern einschließlich Berlin waren es 22 von 1.000 Frauen und 20 von 1.000 Männern.
Sozialsenator Scheele bestreitet das von Hamburg gezeichnete Bild glatt: »Hamburg ist nicht die Hauptstadt der Altersarmut.« Er tut dies allerdings unter Bezug auf eine andere Datenquelle, die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesene Armutsgefährdungsquote (basierend auf dem Mikrozensus), die angibt, wie hoch der Anteil der Menschen der jeweiligen Bevölkerungsgruppe ist, der über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügt. »Die Armutsgefährdungsquote der jeweiligen Hamburger Seniorengeneration ist von 9 Prozent im Jahr 2000 auf 8 Prozent im Jahr 2010 gesunken und liegt unter dem Bundesdurchschnitt.«
Daraus lernen wir zunächst erstens, dass wesentlich mehr ältere BürgerInnen von Armut betroffen sind als die, die Sozialleistungen beziehen, denn der Anteil der GrundsicherungsbezieherInnen bei den über 64-Jährigen lag 2010 bei 5,5%, die der von Armut betroffenen aber bei 8,1%. Wenn deshalb im Sozialbericht steht: »Ca. 94% der Seniorinnen und Senioren können ihren Lebensunterhalt aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten«, muss sich ein Teil der armen SeniorInnen ziemlich veräppelt fühlen.
Zweitens endet für den Sozialsenator die Welt offensichtlich im Jahr 2010.1 Hätte er sich die neusten Daten zur Entwicklung der Armut bei RenterInnen und PensionärInnen in Hamburg angesehen, hätte er festgestellt, dass die Armutsquote auch für diesen Teil der Bevölkerung in 2011 und 2012 deutlich angestiegen ist – auf 11,7% in 2012. Gemessen am Landesmedian, der die Lebenshaltungskosten im teuren Hamburg berücksichtigt, liegt die Armutsquote bei den älteren MitbürgerInnen in 2012 sogar bei 14,8%.
Drittens ist Scheeles Hinweis, dass die Hamburger Armutsquote bei den SeniorInnen niedriger ist als im Bundesdurchschnitt, zwar richtig. Unter den Tisch fällt dabei allerdings, dass die Altersarmut in Hamburg in den letzten Jahren deutlich stärker zugenommen hat als im Bund, der Abstand zwischen Bund und Hamburg also deutlich geringer geworden ist. Betrug er 2006 noch 4,4%, waren es im Jahr 2012 nur mehr 2,6%.
Diese Dynamik beim Anstieg der Altersarmut, programmiert durch die enorme Zunahme prekärer Beschäftigung und die Absenkung des Rentenniveaus durch die diversen Bundesregierungen der letzten 20 Jahre, die durch die letzten Rentenreformen nur ein wenig abgemildert wird, zeigt sich auch und gerade im Zuwachs der Zahl der Menschen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Waren das 2006 noch 4,7% der BürgerInnen in Hamburg, die älter als 64 Jahre sind, sind es 2012 schon 6,2% (bei einer Armutsquote von 11,7%). In keinem anderen Bundesland hat die Altersarmut so stark zugenommen wie in Hamburg.
Diese Dynamik wird vor allem auch auf Bezirks- und Stadtteilebene sichtbar (die den Senator offensichtlich gar nicht interessiert). Denn die (kontinuierlich Jahr für Jahr) wachsende Zahl der von Altersarmut betroffenen BürgerInnen ist in die für Hamburg charakteristische sozial-räumliche Polarisierung eingebunden. So finden sich die HamburgerInnen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, vor allem in den armen Quartieren. So waren im Bezirk Mitte 2012 10,7% (ggb. 2008 + 1,8%) der Menschen, die 65 Jahre und älter sind, auf Grundsicherung angewiesen. Im Hamburger Durchschnitt waren es »nur« 6,2%. Besonders hoch ist der Anteil in den Stadtteilen Neuallermöhe (18,9%), Jenfeld (15,6%), Altona-Altstadt (14,8%), Dulsberg (14,3%) und Harburg (13,0%).
Die Dynamik in der Zunahme der Altersarmut zeigt sich schließlich nicht zuletzt in der wachsenden Zahl von älteren BürgerInnen, die jenseits der Altersgrenze noch einer Beschäftigung nachgehen (müssen). So gab es Ende 2013 gut 25.000 HamburgerInnen im Alter von 65 Jahren und älter, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren (7.100) bzw. mit einem geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnis ihr Einkommen aufgebessert haben.
Es gehört angesichts der politischen Ignoranz auf Bundes- wie Landesebene gegenüber dem Problem der Altersarmut nicht viel Phantasie dazu, vorherzusagen, dass sich die Zahl der GrundsicherungsbezieherInnen wie die der armen Alten insgesamt in den nächsten Jahren weiter kontinuierlich erhöhen wird. Die Schönfärberei und Ignoranz des SPD-Senats und Senator Scheeles ist angesichts dieser eindeutigen Entwicklungstendenz kaum erträglich.
Immerhin – es gibt auch einen positiven Aspekt. Der Bund übernimmt seit 2012 aufwachsend einen Anteil der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§ 46a SGB XII). 2013 waren es 75% und ab 2014 sollen es dann 100% sein.
Dass der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter schrittweise von den Kommunen übernimmt, war im Rahmen des Bund-Länder-Kompromisses zur Hartz-IV-Reform vereinbart worden. Bei den Fiskalpaktverhandlungen im Bundesrat ist dieser Konsens dann festgezurrt worden: Der Bund wird die realen Kosten bis 2015 ansteigend übernehmen. Für Hamburg bedeutet dies eine wirksame Entlastung, wobei freilich offen ist, wie dies im Rahmen der Ausgabenentwicklung verteilt wird.
Hamburg hat im Jahr 2012 für die Grundsicherung netto 187,8 Mio. Euro aufbringen müssen – 134 Mio. Euro mehr als noch 2003. Die Übernahme der Kosten durch den Bund entlastet daher den Landeshaushalt in finanziell schwierigen Zeiten in nicht unerheblichem Umfang. Im Jahr 2015 wird die Entlastung immerhin 183,6 Mio. Euro betragen.
Zu befürchten bleibt allerdings, dass der zusätzliche finanzpolitische Spielraum nicht dazu genutzt wird, um Maßnahmen gegen die Altersarmut zu ergreifen.