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21. September 2021 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Skandal Kinderarmut

Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Das heißt, ihre Familien verfügen über weniger als 60% des mittleren Nettoeinkommens der Bevölkerung. Die Sozialleistung Hartz IV verbessert die Lage der Kinder nicht.

Durch die Corona-Pandemie wurden diese Verhältnisse weiter verschlechtert. Kinder und Jugendliche mit schwierigen Startbedingungen bleiben fast zwangsläufig ihr Leben lang benachteiligt, auch wenn die über fünf Millionen Erwachsene und Kinder in der Hartz-IV-Grundsicherung im kommenden Jahr minimal höhere Sozialleistungen erhalten.

Laut Beschluss der Bundesregierung wird alleinstehenden Bezieher:innen der Arbeitslosengrundsicherung (Hartz IV) ab Jahresanfang 2022 zur Deckung ihrer Lebenshaltungskosten monatlich 449 Euro und damit drei Euro mehr als derzeit überwiesen. Auch die Beträge für volljährige Partner:innen sowie Kinder werden jeweils um zwei bis drei Euro angehoben. Diese skandalös geringe Anpassung wirkt sich auch auf gut eine halbe Million Menschen in der Grundsicherung für Ältere und auf das Asylbewerberleistungsgesetz aus.


Kritik von Sozialverbänden

Der Hartz-IV-Regelsatz soll die Lebenshaltungskosten abdecken. Miet- und Heizkosten übernehmen die Jobcenter zusätzlich. Sozialverbände kritisieren schon bisher regelmäßig, dass die monatlichen Zahlungen zu gering seien. Das spiegelt sich auch in Forderungen der Parteien zur Bundestagswahl wider: DIE LINKE plädiert für eine »bedarfsgerechte Mindestsicherung von 1.200 Euro«, die Grünen wollen die Zahlungen um 50 Euro erhöhen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Sozialverband VdK haben die neuen Hartz-IV-Regelsätze scharf kritisiert. »Die geplante Erhöhung um nur drei Euro liegt deutlich unterhalb der Preisentwicklung«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel, diese »faktische Kürzung der Hartz-IV-Regelsätze ist völlig inakzeptabel«. Bei der Berechnung sei das Preisniveau der zweiten Jahreshälfte 2020 mit einbezogen worden, das wegen der abgesenkten Mehrwertsteuer außergewöhnlich niedrig gewesen sei.

VdK-Präsidentin Verena Bentele bezeichnete es als »Unverschämtheit, dass die Regierung erneut bei jenen kürzt, die sich am wenigsten wehren können«. Die vorübergehende Steuersenkung, die als Entlastung gedacht gewesen sei, werde durch die Einbeziehung in die Berechnung der Hartz-IV-Sätze für die Betroffenen »zum großen finanziellen Verlust«. »Und das in einer Zeit, da die Inflation gestiegen ist und diese Menschen ohnehin schon für Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel tiefer in die Tasche greifen müssen.« Bentele forderte, den inflationsbedingten Preisanstieg auszugleichen und die Hartz-IV-Sätze generell anzuheben.

Von dieser faktischen Kürzung der Sozialleistungen sind auch und vor allem Kinder und Jugendliche betroffen. Deren Armut ist in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl in den Fokus gerückt, und hat die Differenzen der führenden Parteien deutlich werden lassen. »Jedes fünfte Kind lebt in Armut«, argumentiert beispielweise die Grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und begründete damit die Forderung, zugunsten von Kindern aus bedürftigen Familien eine neue, eigenständige »Kindergrundsicherung« anstelle der heutigen Grundsicherung Hartz IV einzuführen. Deutschland sei eines der reichsten Länder der Welt, und trotzdem bekämen manche Kinder zur Einschulung nicht einmal einen Schulranzen.

Mit ihrem Modell der Kindergrundsicherung, für das in ähnlicher Form auch Sozialverbände werben, wollen die Grünen für jedes Kind in einem Arbeitslosen-Haushalt monatlich 547 Euro überweisen – bestehend aus einem monatlichen »Garantiebetrag« von 290 Euro, der auch für Kinder wohlhabender Eltern gezahlt würde, und einem Geringverdiener:innenzuschlag von bis zu 257 Euro. Für Kinder, die den »Garantiebetrag« erhalten, gäbe es zudem weiter Zuschüsse für Schulbedarf von jährlich 150 Euro.

Im Hartz-IV-System ist der monatliche Regelsatz derzeit altersabhängig gestaffelt und reicht von 283 Euro für Vorschulkinder bis zu 373 Euro für Jugendliche. Die Kindergeldansprüche der Hartz-IV-Haushalte werden damit verrechnet. Für Vorschulkinder würde sich die monatliche Geldleistung mit den 547 Euro also fast verdoppeln.

Kindergeld soll es dann aber im Grünen-Modell gar nicht mehr geben. Dieses würde zusammen mit dem bestehenden Kinderzuschlag für Geringverdiener entfallen – und obendrein würde der steuerliche Kinderfreibetrag abgeschafft. Für Familien, in denen der Freibetrag die Steuerlast bisher um mehr als 290 Euro je Kind mindert, käme damit neben der Fortführung des »Soli« noch eine höhere Steuerbelastung an dieser Stelle hinzu.

Baerbock plädiert dafür, dass der Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer nicht abgeschafft wird, weil der Staat das Geld benötigt, um die Sozialleistungen für Kinder in Hartz-IV-Haushalten zu erhöhen. »Den Soli für die Spitzenverdiener, den Sie, Herr Laschet, abschaffen wollen, diese 10 Milliarden Euro will ich nutzen, um Kinder endlich aus der Armut zu holen in unserem reichen Land«, sagte sie in der Debatte der Spitzenkandidaten für das Bundeskanzleramt im TV-Sender RTL.

Der Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet wandte sich gegen die Einschätzung, dass höhere Sozialleistungen der Schlüssel seien, um arbeitslosen Eltern und ihren Kindern einen Weg aus der Bedürftigkeit zu eröffnen. »Den Kindern hilft man, indem man ihnen und besonders ihren Eltern hilft, aus Hartz IV herauszukommen«, sagte er. »Die Wirtschaft in Gang setzen, mehr Arbeit und mehr Möglichkeiten schaffen – dann bekämpfen wir am besten Armut.« Demgegenüber schloss sich SPD-Kandidat Olaf Scholz Annalena Baerbock an und ergänzte, dass zur Armutsbekämpfung auch stärkere Rentenerhöhungen nötig seien.


Die Fakten:
Kinderarmut steigt weiter bei stagnierender SGB II-Quote

Die von Grünen, SPD und LINKEN geforderte Kindergrundsicherung ist, betrachtet man die skandalöse Entwicklung der Kinderarmut in der Berliner Republik,[1] mehr als gerechtfertigt. So hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Expertise[2] die wichtigsten Daten zusammengestellt. Die dabei herausgearbeiteten Befunde sind bedrückend.

Die Anzahl von Kindern und Jugendlichen in der Grundsicherung nimmt in den letzten Jahren ab. Daraus wird teilweise abgeleitet und als Erfolg verkündet, dass die Kinderarmut abnehme. Sinkende Grundsicherungszahlen von Kindern und Jugendlichen bedeuten aber nicht eine Abnahme von Kinderarmut. Der Befund lautet stattdessen: Obwohl weniger Kinder und Jugendliche Hartz-IV-Leistungen bekommen, steigt die Einkommensarmut.

Kinder und Jugendliche sind nach wie vor häufiger von Armut in der einen oder anderen Form betroffen als der Durchschnitt. Die allgemeine Armutsquote[3] lag 2010 bei 14,5%; bei den bis 18-Jährigen lag sie zu dem Zeitpunkt bei 18,2% – mithin 3,7% höher. Bis 2019 stieg die Einkommensarmut generell auf 15,9% und bei den jungen Armen auf 20,5%. Die Differenz der beiden Armutswerte vergrößerte sich auf 4,6%. Sowohl die Zahl als auch die Quote der Kinder und Jugendlichen in Einkommensarmut nimmt deutlich zu. Lag die Anzahl 2010 noch deutlich unter 2,5 Mio. so stieg sie bis 2019 auf fast 2,8 Mio. – ein Zuwachs von mehr als 250.000.

Im Gegensatz zur Einkommensarmut entwickelte sich die SGB II-Quote im Laufe des letzten Jahrzehnts relativ günstig. Sie sank um 1,6 Prozentpunkte auf 8,3% im Jahr 2020. Bei den Kindern und Jugendlichen blieb die Quote im Laufe des Jahrzehnts dagegen nur stabil. So lebten Ende 2010 noch annähernd zwei Mio. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre in einer SGB II-Bedarfsgemeinschaft. Zehn Jahre später lag die entsprechende Zahl bei etwa 1,85 Mio. Dies entspricht immerhin einem Rückgang von deutlich über 100.000.

»Diese Bewertung wird aber bereits relativiert, wenn demografische Faktoren berücksichtigt werden. Der Rückgang der Kinder und Jugendlichen im SGB II folgt einer demografischen Verschiebung, es gibt schlicht weniger Kinder und Jugendliche.« Im Ergebnis liegt die SGB II-Quote Ende 2020 bei 12,9% – annähernd dieselbe Quote wie bereits 2010. Die positive Entwicklung bei der SGB II-Quote findet sich also bei den jungen Leistungsbeziehenden gegenüber 2010 nicht. Erst ab 2017 lässt sich aber auch bei dieser Altersgruppe eine rückläufige Entwicklung konstatieren.


Grundsicherungsleistungen schützen nicht vor Armut

Die Leistungen der Grundsicherung schützen Familien und Kinder nicht effektiv vor Armut. Die Grundsicherungsleistungen erreichen mit dem politisch gesetzten Leistungsniveau in fast allen Haushaltskonstellationen die Armutsschwelle nicht. Die Armutslücke, d.h. die Abstände der durchschnittlichen Leistungen zur Armutsschwelle, reicht dabei bis zu 285 Euro bei Alleinstehenden.

»Auch bei den Haushaltskonstellation von Familien sind erhebliche Armutslücken zu erkennen: Bei einem Paar mit zwei Kindern sind es etwa 214 Euro. Die Armutslücken fallen bei Alleinerziehenden geringer aus – insbesondere aufgrund des einschlägigen Mehrbedarfs. Bei einer Alleinerziehenden mit zwei Kindern wird – je nach Alter der Kinder – die Armutsschwelle auch überschritten. Der Blick auf die zeitliche Entwicklung offenbart, dass die Grundsicherungsleistungen hinter der allgemeinen Wohlstandsentwicklung zurückgeblieben sind. Im Ergebnis ist daher die Armutslücke systematisch größer geworden.«


Alleinerziehende und kinderreiche Familien besonders von Armut betroffen

Unter den Familien sind nach wie vor die Kinder von Alleinerziehenden[4] und die kinderreichen Familien besonders von Armut betroffen. So sind von den Alleinerziehenden 2019 43% einkommensarm. Obwohl gegenüber 2010 die SGB II-Quote deutlich rückläufig ist (minus 6 Prozentpunkte), ist etwa ein Drittel aller Alleinerziehenden-Familien (34%) weiterhin auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen.

In diesen Hauptrisikogruppen für Kinderarmut – wie auch bei den Single-Haushalten – weisen die Indikatoren SGB II-Bezug und Einkommensarmut in gegenläufige Richtungen. Während die SGB II-Quote rückläufig ist, steigt die Einkommensarmut an. »Wenn man die Einkommensarmut als den zentralen Maßstab für die Verweigerung der gleichberechtigten Teilhabe an dem wirtschaftlichen Fortschritt der Gesellschaft anerkennt, so nehmen insbesondere Alleinerziehende, kinderreiche Familien, aber auch Alleinstehende an dem Fortschritt zunehmend nicht teil.«


Ursachen der Diskrepanz zwischen Einkommensarmut und ALG II-Quote

Die durchschnittlichen SGB II-Leistungen liegen in der Summe unterhalb der Armutsschwelle. Es überrascht daher nicht, dass die Quoten für die Einkommensarmut höher ausfallen als die SGB II-Quote. Ein Faktor dafür ist schlicht, dass eine gewisse Anzahl der Haushalte über ein Nettoeinkommen unterhalb der Armutsschwelle, aber jenseits der SGB II-Bedürftigkeit verfügt.

Die Leistungen der Grundsicherung halten zudem nicht mit den allgemeinen Wohlstandszuwächsen Schritt. »Damit wächst die Lücke zwischen den durchschnittlichen Leistungen in der Grundsicherung und der Armutsschwelle im Verlauf der 2010er Jahre weiter an und der Einkommensbereich zwischen Armutsschwelle und SGB II-Bedürftigkeit wird größer.« Mehr Haushalte fallen mit ihrem äquivalenzgewichteten Nettoeinkommen genau in diesen Bereich. Folge: Die Anzahl und Quote der einkommensarmen Kinder wächst, während sich der SGB II-Bezug in die gegenläufige Richtung entwickelt. Ein weiterer Faktor, der systematisch einen analogen Effekt hat, ist die Zunahme von verdeckter Armut in diesem Zeitraum.


Politik in der Pandemie

»Ein weiterer Faktor für die wachsende Diskrepanz der Indikatoren sind politische Maßnahmen der vergangenen Jahre, die bewusst das Ziel verfolgt haben, Familien und hier insbesondere alleinerziehende Familien aus dem SGB II-Bezug herauszuholen.« Zentrales Ziel der Politik war damit weniger die Verbesserung der Lebenslage innerhalb der Grundsicherung, sondern der Ausbau von vorrangigen Sicherungssystemen. So gab es Leistungsverbesserungen beim Steuerrecht (Entlastungsbetrag für Alleinerziehende), beim Kindergeld, im Wohngeld (Wohngeldreformen 2016 und 2020) und insbesondere beim Kinderzuschlag. Sinn und Zweck des im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung eingeführten Kinderzuschlags ist die Vermeidung von Hilfebedürftigkeit, nur weil Kinder im Haushalt leben. Die jüngsten Reformen beim Kinderzuschlag haben den Zugang zu ihm verbessert und die Leistungen ausgeweitet. 2020 wurde der Zugang zur Eindämmung der sozialen Folgen der Corona-Pandemie noch einmal angepasst (»Notfall-KiZ«) und in der Folge fungierte der Kinderzuschlag für Familien als bevorzugtes Instrument zur Abfederung von Einkommensverlusten in der Corona-Pandemie.

»Besonders zu erwähnen ist darüber hinaus die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende im Jahr 2015. Bis zu der Reform war der Unterhaltsvorschuss zeitlich befristet und wurde nur bis zu einem bestimmten Alter des Kindes bezahlt. Seit Juli 2017 sind nunmehr Kinder auch ab dem 12. Lebensjahr und ohne zeitliche Befristung leistungsberechtigt. In der Folge sind die Beziehendenzahlen von etwa 640.000 Haushalten 2017 auf knapp oberhalb von 820.000 Haushalten 2019 angestiegen. Die Leistungen betragen je nach Alter des Kindes bis zu 309 Euro (bei 12-17-Jährigen).«

Diese Reformen verbessern die Einkommenslage der begünstigten Familien. »Die Leistungen reichen – das legen die ausgeführten empirischen Daten zumindest nahe –, um seit etwa 2017 insbesondere erwerbstätige Alleinerziehende mit ihren Kindern aus dem SGB II-Bezug herauszuführen. Dieses vorrangige Ziel der Politik ist in der jüngeren Vergangenheit durchaus erreicht worden.«

Die Netto-Einkommen liegen aber auch mit diesen vorrangigen Leistungen nur geringfügig – wenn überhaupt – oberhalb des Grundsicherungsniveaus. Die Leistungen reichen nicht aus, um die Armutsschwelle für den Haushalt zu überschreiten. Die Familien sind in ein anderes Sicherungssystem gewechselt, bleiben aber (einkommens-)arm. »Zudem erklärt insbesondere die Entwicklung beim Kinderzuschlag, warum die Einkommensverluste während der Corona-Pandemie nicht zu höheren Zahlen und Quoten beim SGB II geführt haben: Mit dem Kinderzuschlag stand – in Kombination mit anderen politischen Maßnahmen wie insbesondere dem Kurzarbeitergeld – ein funktionales Äquivalent für die Familien zur Verfügung.«


Familienpolitik reduziert soziale Ungleichheit nicht

Die Familienpolitik ist nicht darauf ausgerichtet, die soziale Ungleichheit zwischen armen und reichen Familien zu reduzieren, z.T. verstärkt das bestehende System die Einkommensunterschiede sogar. »Ein anschauliches Beispiel für die ungleichheitsverstärkende Wirkung der Familienpolitik ist der Freibetrag für Kinder im Steuerrecht. Diese führt bei den einkommensstärksten Familien mit bis zu 330 Euro zu einem deutlich höheren Nettozuwachs beim Einkommen als das Kindergeld bei den anderen – weniger einkommensreichen – Familien (2021: 218 Euro für das erste und zweite Kind, 225 Euro für das dritte Kind sowie 250 Euro für jedes weitere Kind). Bei Familien in der Grundsicherung wird das Kindergeld zu 100% auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet. Im Ergebnis kommen daher Kindergelderhöhungen – eine zentrale und teure familienpolitische Maßnahme der letzten Regierung Merkel: 25 Euro in dieser Legislaturperiode – nicht bei den ärmsten Familien an.«


Umfassendes Maßnahmepaket gegen soziale Ungleichheit

Kinderarmut ist im Kern finanzielle Armut der Eltern und damit ein Ausdruck der Ungleichheit in der Gesellschaft. Wenn Kinderarmut aber eine Folge gesamtgesellschaftlicher sozialer Ungleichheit ist, so müssen Aktivitäten gegen Kinderarmut in ein umfassendes Maßnahmenpaket gegen soziale Ungleichheit eingebettet sein.

»Alle Maßnahmen, die geeignet sind, die Kluft zwischen arm und reich zu schließen, kommen auch Familien und damit den Kindern zugute. Elemente eines solchen umfassenden Programms können hier nur angedeutet werden. Zentral sind Maßnahmen zur Erhöhung des Erwerbseinkommens – etwa durch die Erhöhung des Mindestlohns oder die Stärkung von flächendeckenden Tarifverträgen, aber auch die Etablierung einer familienkompatiblen Arbeitswelt –, Maßnahmen der Umverteilung über Steuer- und Sozialtransfers und schließlich der Ausbau von flächendeckender und möglichst kostengünstiger sozialer Infrastruktur. Auch die Anhebung der Regelbedarfe für Erwachsene ist in diesem Zusammenhang eine notwendige Maßnahme.«

Die Anhebung der Regelbedarfe auf ein armutsvermeidendes Niveau kommt den Eltern in den Familien zugute und nutzt zugleich den in hohem Maße von Armut betroffenen Single-Haushalten. Für die Ermöglichung von existenzsichernder Erwerbstätigkeit und die (früh)kindliche Bildung sind insbesondere der weitere Ausbau von qualitativ hochwertigen Kita-Plätzen und der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder relevant. Entscheidend für die weitere Entwicklung der sozialen Ungleichheit wird sein, wer am Ende für die zur Bekämpfung der (auch sozialen) Folgen der Pandemie notwendige Staatverschuldung aufkommen wird.


Kindergrundsicherung – zentrales Element einer progressiven Agenda

Ein zentrales Element einer progressiven Agenda für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die Bekämpfung von Kinderarmut ist eine grundlegende Reform der finanziellen Absicherung von Kindern. Hier gibt es angesichts wachsender Armutszahlen unverändert offenkundige Defizite.

»Die Leistungen – etwa bei der Grundsicherung oder insbesondere beim Kinderzuschlag – erreichen zu einem erheblichen Anteil nicht die Adressat:innen. Die Leistungshöhe ist insbesondere bei den Familien mit kleinen Einkommen nicht ausreichend, um eine Deckung der existenziellen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, geschweige denn, um ein gleichberechtigtes Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen.«

Das Leistungssystem ist unverändert komplex und unzureichend aufeinander abgestimmt – was sich insbesondere an den nicht koordinierten Regelungen im Steuer-, Unterhalts- und Sozialrecht für Kinder und Jugendliche zeigt. »Schließlich ist die Familienförderung beim Thema Ausgleich zwischen arm und reich weitgehend blind und verstärkt durch einzelne Maßnahmen die soziale Ungleichheit sogar noch.«

Deshalb ist eine grundlegende Neuaufstellung durch die Einführung einer Kindergrundsicherung notwendig. »Der Paritätische Gesamtverband und zahlreiche weitere Verbände fordern mit Nachdruck die Einführung einer Kindergrundsicherung (Bündnis Kindergrundsicherung 2021). Kernanliegen der Kindergrundsicherung sind die Armutsbekämpfung durch eine ausreichende und eigenständige Existenzsicherung der Kinder und Jugendlichen jenseits von Hartz IV und die Realisierung des Prinzips ›jedes Kind ist gleich viel wert‹.

Das Bündnis Kindergrundsicherung benennt folgende vier zentrale Baustellen, die mit der Einführung einer Kindergrundsicherung umgesetzt werden müssen:

  • Realisierung eines einheitlichen und realistisch berechneten Existenzminium in allen Rechtsgebieten (Unterhalts-, Steuer- und Sozialrecht)
  • Sozial gerechte Ausgestaltung: einkommensabhängige Leistungen – wer mehr Einkommen hat, braucht weniger Unterstützung
  • Unbürokratische und möglichst direkte Auszahlung: Ziel ist eine Inanspruchnahme von allen Berechtigten, sprich: 100%
  • Vertikale Gerechtigkeit stärken: Armutsvermeidung für Kinder und Jugendliche.«

Der politische Rückhalt für eine derartige grundlegende Reform ist in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Mit Rot-Grün-Rot könnte die Einführung einer Kindergrundsicherung ein Kernanliegen der neuen Regierung werden.

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu auch Caroline und Christoph Butterwegge, Kinder der Ungleichheit, Frankfurt a.M. 2021.
[2] Der Paritätische Wohlfahrtsverband, Kein Kind zurücklassen. Warum es wirksame Maßnahmen gegen Kinderarmut braucht, Berlin Juli 2021. Wir stützen uns im Folgenden vor allem auf diesen Text. Die Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, aus der Expertise.
[3] Der Paritätische orientiert sich bei diesen Armutsquoten an der gängigen Konvention, nach der Armut oder Armutsrisiko ein Einkommensniveau unterhalb von 60% des Medianeinkommens aller Haushalte bezeichnet. Da die Haushalte unterschiedlich viele Personen beinhalten, müssen die verschiedenen Haushaltstypen durch eine Äquivalenzgewichtung miteinander vergleichbar gemacht werden. In der Regel wird hierzu auf die neue OECD-Skala zurückgegriffen. Danach wird eine erste erwachsene Person mit dem Faktor 1 versehen, weitere Personen in einem Alter ab 14 Jahren mit dem Faktor 0,5 und Kinder bis 14 Jahre mit dem Faktor 0,3. Diese Äquivalenzgewichtung entspricht ebenfalls einer mittlerweile etablierten wissenschaftlichen Konvention.
[4] Zur Situation der Alleinerziehenden siehe auch Anne Lenze, Alleinerziehende unter Druck. Bedarfe, rechtliche Regelungen und Reformansätze, Bertelsmann-Stiftung, Juli 2021.

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