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5. Oktober 2017 Hinrich Kuhls: Nach den Jahreskonferenzen der britischen Parteien

Sozialistische Reformpolitik als Mainstream?

Mit dem Abschluss der Jahreskonferenzen der Labour Party und der Konservativen Partei geht die diesjährige Saison der ordentlichen Parteitage in Britannien ihrem Ende entgegen. Schon im dritten Jahr nacheinander hatten die WählerInnen jeweils wenige Monate zuvor in landesweiten Abstimmungen über die Entwicklungsrichtung des Vereinigten Königreichs zu entscheiden, und innerhalb von nur zwei Jahren haben sich die politischen Kräfteverhältnisse grundlegend verändert.

Zum Auftakt hatten die Liberaldemokraten (110.000 Mitglieder) die Europapolitik in den Mittelpunkt ihres Parteitags gestellt. Ziel ist die Durchführung eines weiteren EU-Referendums nach Abschluss der Brexit-Verhandlungen, um so den Austritt aus der EU verhindern zu können. Als Mindestziel hat der neue Parteivorsitzende, Vince Cable, die Beibehaltung der Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt benannt, die Strukturen der EU werden hingegen keiner Kritik unterzogen.

Den Liberaldemokraten hängt zudem immer noch der Makel der gemeinsamen Austeritätspolitik mit den Tories in der Koalitionsregierung 2010-2015 an. Bei der Wahl zum Unterhaus im Juni 2017 sind sie zwar der Stimmenzahl nach – wenn auch mit weitem Abstand – drittstärkste Partei geworden und haben damit wieder die Rechtspopulisten überholt, sind im Parlament aber weiterhin nur mit einer kleinen Fraktion von 12 Abgeordneten vertreten.

SNP und Grüne beschließen den Konferenzreigen Mitte Oktober. Die sozialdemokratisch ausgerichtete Schottische Nationalpartei (SNP – 120.000 Mitglieder) war am vehementesten für den Verbleib in der EU eingetreten. Bei der Wahl zum Schottischen Parlament und bei der Unterhauswahl im Juni hatte sie Stimmen- und Mandatsverluste hinnehmen müssen. Ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum, das nach dem Brexit-Votum die Debatte bestimmte, wird zurzeit nicht weiterverfolgt.

Dennoch können die autoritative parlamentarische Behandlung des Brexit-Gesetzes, die Weigerung der Tory-Regierung, mit den Regionalregierungen Brexit-Verhandlungen und deren Folgen für die Teilautonomie abzustimmen, sowie die weitere Entwicklung der katalanischen und anderer Separations-Bestrebungen den Ruf zur Zerschlagung der britischen Union wieder bestärken.

Die Grünen (45.000 Mitglieder) haben ihren – geringen – Einfluss im britischen Parteiensystem behaupten und bei der Wahl im Juni das einzige Unterhausmandat ihrer Abgeordneten und Ko-Vorsitzenden Caroline Lucas verteidigen können. Sie hatten die Weigerung der Liberaldemokraten und vor allem der Labour Party beklagt, bei Wahlen formelle Bündnisse zur Unterstützung der jeweils aussichtsreichsten KandidatInnen einzugehen. Berechnungen von Wahlforschern hatten jedoch ergeben, dass derartige formelle Absprachen trotz des britischen Mehrheitswahlrechts die Gesamtzahl der Mandate für das progressive Lager kaum erhöht hätten. Die Themenzusammenhänge Brexit, Ökonomie und deren ökologische und soziale Folgen werden mit einer linksprogressiven Perspektive debattiert.

Die UK Independence Party (UKIP – 30.000 Mitglieder) war 2014 aus den Wahlen zum Europäischen Parlament als stärkste britische Partei hervorgegangen. Zusammen mit dem nationalkonservativ-populistischen Flügel der Tories war die rechtspopulistische UKIP mit ihrem damaligen Vorsitzenden Farage die stärkste Komponente der Leave-Kampagnen im Vorfeld des EU-Referendums 2016.

Seit dem Brexit-Votum durchzieht die Partei ein harter Richtungskampf mit mehreren Wechseln im Parteivorsitz. Jetzt wurde auf der Konferenz Henry Bolton, ein ehemaliger Armeeoffizier und Vertreter des rechtspopulistischen Farage-Flügels, als Vorsitzender ausgerufen. Er hatte sich in einer Urwahl, an der sich etwa 12.000 Mitglieder beteiligten, gegen zwei rechtsextrem-islamophobe Mitbewerber durchgesetzt, darunter einer Vertreterin der rechtsextremen English Defence League.

Gegenüber der Unterhauswahl 2015 hat die Partei bei der Juni-Wahl von ihren vier Millionen WählerInnen nur noch gut eine halbe Million binden können. Der Rest war überwiegend zu den Tories und zu einem kleineren Teil zu Labour gewandert. Dieser Trend hatte sich bei Kommunalwahlen abgezeichnet, bei denen in vielen Wahlkreisen keine UKIP-Kandidaten mehr angetreten waren. Das Ende der britischen Repräsentanz im Europäischen Parlament ab 2019 wird nicht notgedrungen das Ende der parlamentarischen Sichtbarkeit dieser Partei markieren. Sowohl das zerstrittene Agieren der Konservativen in der Brexit-Frage als auch die ökonomischen und sozialen Rückwirkungen des EU-Austritts bleiben ein latenter Anlass für ein erneutes parteipolitisches Erstarken des britischen Rechtspopulismus.

Mit dem Wechsel der Parteienpräferenz vormaliger UKIP-WählerInnen sind weder die sozialen und ökonomischen Probleme dieser Wählergruppen verschwunden, noch ihre fremdenfeindlichen Ressentiments. Schon unmittelbar nach der Parlamentswahl 2015 war die Rückgewinnung der zur UKIP (und zu den Konservativen) abgewanderten WechselwählerInnen neben der Mobilisierung der NichtwählerInnen als das wichtigste Problem für das gesamte progressive Lager und insbesondere für die Labour Party identifiziert worden. Zugleich ging aus Meinungsumfragen hervor, dass mit einer inklusiven Politik auf allen Politikfeldern als entscheidender Dimension eines neuen Gesellschaftsprojekts diese politische Aufgabe gelöst werden könnte.[1]

Die Jahreskonferenz der Konservativen Partei (laut Schätzungen zwischen 100.000 und 150.000 Mitglieder) war vom anhaltenden innerparteilichen Streit über die Ausgestaltung des Brexits begleitet.[2] Damit war die Parteitagsstrategie der Parteivorsitzenden und Premierministerin May, zuvor mit einer Positionsbestimmung (»Florentiner Rede«) die EU-Austrittsfrage vom Parteitag fernzuhalten, nur eingeschränkt aufgegangen. Die Auseinandersetzung wird in ideologischen Kostümen ausgetragen, denn die ökonomischen und sozialen Folgen des Brexit, gleich wie der Übergang zurück zur nationalen Kontrolle der Außenwirtschaftsbeziehungen gestaltet wird, werden nicht offengelegt oder verdrängt.[3]

May wiederholte den Versuch von vor einem Jahr, eine Abschwächung der konservativen Austeritätspolitik durch einige kleinere Sozialreformen und eine industriepolitische Offensive in den Vordergrund zu rücken – dieses Mal ergänzt durch die Ankündigung eines zwei Mrd. Pfund umfassenden kommunalen Wohnungsbauprogramms. Unmittelbar vor dem Parteitag war die Premierministerin von Mark Carney, Chef der Bank of England, zu einer engagierteren Wirtschaftspolitik aufgefordert worden.

Doch gerade die bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Wahlprogramm und in der Wahlkampfführung aufgetretenen Fehler haben entscheidend zum Verlust der parlamentarischen Mehrheit beigetragen. Zudem steht der wirtschaftsliberale Flügel um Finanzminister Hammond diesen Kurskorrekturen skeptisch gegenüber, obwohl Hammond auf das Kernproblem konservativer Wirtschaftspolitik zu sprechen kam: Die neoliberale Hegemonie ist brüchig geworden und der Konsens, eine unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik führe zu Wohlstand, sei verschwunden.

Daher wurden Mays programmatische Ankündigungen nicht als genuiner Vorschlag, sondern nur noch als ein verspätetes Echo auf das Wahlmanifest der Labour Party wahrgenommen. In den Wirtschaftsverbänden fanden Hammonds und Mays Ausführungen nur verhaltenen Zuspruch.

Die Konservative Partei befindet sich in den derzeit drei zentralen politischen Fragen – Brexit, Überwindung der neoliberalen Austeritätspolitik sowie Stärkung von Industrie und Infrastruktur – in der Defensive. Das wurde durch die den Parteitag begleitenden Massenproteste illustriert. Ein breites proeuropäisches Bündnis protestierte für einen Verbleib des UK in der EU und für die Rechte der MigrantInnen. Und die 50.000 Demonstranten, die die People’s Assembly Against Austerity auf die Straße brachte, konfrontierten die Tory-Delegierten außerparlamentarisch mit der Forderung einer grundlegenden Wende der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die als Gesamtkonzept im Wahlprogramm der Labour Party skizziert ist.

So bleibt dann als Gesamteindruck der diesjährigen Parteikonferenzen, dass die politische Offensive im Vereinigten Königreich eindeutig bei der Labour Party als dominierender Oppositionspartei liegt. Die Perspektive eines politischen Wechsels schien vor zwei Jahren noch vollkommen außer Reichweite zu liegen.


Der Parteitag der Labour Party

Die Labour Party hat sich innerhalb von nur zwei Jahren zur stabilsten und mitgliederstärksten sozialdemokratischen Partei entwickelt. Mit 600.000 Mitgliedern ist sie inzwischen die größte politische Partei Westeuropas. Sie übertrifft die Mitgliederzahlen aller im britischen Unterhaus vertretenen Parteien zusammengenommen fast um das Doppelte. Darüber hinaus gehören ihr drei Millionen Mitglieder über Gewerkschaften als Kollektivmitglieder an.

Zum Zeitpunkt der Wahlniederlage 2015 zählte die Partei gerade noch 200.000 Mitglieder. Und noch vor einem Jahr stellte sich die Partei als eine tief zerstrittene politische Organisation dar, in der wegen des Misstrauensvotums des überwiegenden Teils der Labour-Parlamentsfraktion gegen ihren Parteivorsitzenden und Oppositionsführer, und trotz des noch verbesserten eindeutigen Ergebnisses bei der Wiederwahl Jeremy Corbyns, ein erfolgreicher Ausstieg aus der Abwärtsspirale sozialdemokratischer Parteien kaum möglich schien.

»Zwei Stars« habe der letzte Wahlkampf hervorgebracht: das Labour-Wahlmanifest »For the Many, not the Few« und die ParteiaktivistInnen. So fasste Corbyn in seiner Parteitagsrede die Trendwende zusammen. Ergänzt werden kann, dass der dritte »Star« der Parteivorsitzende selbst ist. Denn die von ihm gegebenen Anstöße zur Veränderung der Organisationsstruktur und Debattenkultur sowie sein – trotz der massiven Angriffe aus dem Lager der New Labour verhafteten Mitglieder und Parlamentarier – unbeirrtes Festhalten am Erneuerungskurs der Partei, der nur mit Vorschlägen für einen neuen gesellschaftlichen Konsens erfolgreich umgesetzt werden kann, haben entscheidend zum Aufwärtstrend von Labour beigetragen.

Die programmatische Debatte hatte zwar im April bei der Ankündigung von Neuwahlen gerade erst begonnen, sie war aber durch die Ausrichtung auf eine breite Beteilung der Mitglieder eine effektive Vorbereitung auf den Wahlkampf. Das Wahlprogramm wurde nicht nur vom Spitzenkandidaten vor Ort und in den Medien in seinen Einzelheiten und als überzeugender Gesamtentwurf eines neuen Gesellschaftsmodells erläutert, sondern war Zentrum des Agierens der vielen ParteiaktivistInnen. Mit dem Wahlprogramm war auch eine Basis gefunden, auf der die Parlamentsfraktion und das Schattenkabinett zu einer nicht mehr konfrontativen Zusammenarbeit zurückkehren konnten.

Der Parteitag war daher vom Umschwung geprägt, der mit dem Wahlkampf angestoßen worden war. Es handelte sich aber um mehr als einen nachgeholten Wahlparteitag. Die Debattenstruktur der etwa 12.000 Delegierten hat sich verändert: weniger Beiträge aus der Parlamentsfraktion und mehr Wortmeldungen aus der Basis der Ortsverbände und der Gewerkschaften. Wie im letzten Jahr veranstaltete die Aktivisten-Bewegung »Momentum« parallel zum Parteitag einen Kongress mit einem umfangreichen Kultur-, Bildungs- und Diskussionsprogramm, wo in diesem Jahr auch im Ansatz eine fraktionsübergreifende Diskussion möglich war.

Anlage, Vortrag und Aufnahme der beiden Hauptreden von Schatten-Finanzminister John McDonnell[4] und Jeremy Corbyn[5] verdeutlichten, dass die Labour Party bei allem Enthusiasmus der Delegierten, die politische Wende könne bei der nächsten entscheidenden Schwäche der Tory-Regierung parlamentarisch durchgesetzt werden, weiter an der Konkretisierung eines wirtschafts- und sozialpolitischen Sofortprogramms arbeitet.

Die wirtschafts- und finanzpolitische Rede McDonnells war entgegen Medienberichten weder eine »Kriegserklärung an das Kapital« noch ein Rückgriff auf Elemente der Wirtschaftspolitik New Labours, und erst recht kein Griff in die Mottenkiste staatssozialistischer Regulierungen. Seine Analyse war eine nüchterne Bestandaufnahme der Ergebnisse 35jähriger Austeritätspolitik in der fünftreichsten Volkswirtschaft des Finanzkapitalismus, und mit seinen programmatischen Vorschlägen umriss er ein mittelfristiges, linkssozialdemokratisches Reformprogramm mit dem Zentrum einer neuen Industrie- und Sozialpolitik.

»Es muss eine Entscheidung getroffen werden: Entweder bleiben wir eine Niedriglohnökonomie, die sich auf Null-Stunden-Verträge spezialisiert. Oder wir können den Staat nutzen, um die Zukunft Großbritanniens in dieser neuen Welt mitzugestalten … Andere Länder nutzen staatliche Rahmensetzungen bei Innovationen und Investitionen, um wichtige Kompetenzfelder herauszufiltern – Robotik, Elektromobilität, Energieeffizienz, intelligente Stadtentwicklung. Die Technologien sind neu – das britische Problem ist alt. Die Finanzmärkte lenken keine Investitionen in hochwertige, hochproduktive Unternehmen. Stattdessen lenken sie Finanzinvestitionen in die Immobilienspekulation.

Wir haben es mit einer Rentierökonomie zu tun, in der der Wohlstand nicht durch das, was man produziert, sondern durch die Höhe der erzielbaren Renten, bestimmt wird. Das werden wir ändern. Wir werden Steuergelder in wichtige Forschungsprojekte stecken, wir werden den Aufbau von Netzwerken und Kompetenzzentren fördern. Um den Finanzsektor wieder mit der Realökonomie von Forschung, Entwicklung und Produktion zu verbinden, werden wir unser Finanzsystem umgestalten.«

Kernpunkte der Investitionspolitik sind: Errichtung eines Ausschusses für Strategische Investitionen, Einbindung der regionalen Entwicklungsbanken, Ausbau und weitere Elektrifizierung des Bahnnetzes, beschleunigter Übergang zu erneuerbaren Energien, Überführung von Bahn, Wasser- und Energieversorgung in öffentliches Eigentum. »Eine Ökonomie für die Vielen werden wir nur dann, wenn wir das Eigentum deutlich ausweiten. Das bedeutet, dass wir Unternehmer, Kleinunternehmen und die Selbständigen unterstützen müssen, ebenso die massive Ausweitung der Arbeiterkontrolle in den Betrieben und den Genossenschaftssektor. Eine Wirtschaft für die Vielen aufzubauen, bedeutet auch, dass Eigentum und Kontrolle der wichtigsten Versorgungsunternehmen und Dienstleistungseinrichtungen in die Hände derjenigen gelangen, die sie nutzen und die in ihnen arbeiten.«

Jeremy Corbyn stellte in den programmatischen Teilen seiner Abschlussrede die Wohnungspolitik, den Zusammenhang von technologischen Wandel und Bildungswesen sowie die Rückgewinnung politischer Partizipation vor allem in den Kommunen in den Mittelpunkt.

Das tödliche Branddesaster beim Grenfell-Tower-Hochhaus war nicht nur das Ergebnis falscher politischer Entscheidungen, es steht für ein gescheitertes und zerbrochenes System der Stadtentwicklung, des Immobilienmarkts und des Wohnungsbaus. Der gesamte Bereich müsse politisch neu geordnet werden, angefangen vom Verbot der Gentrifizierung bei der Stadterneuerung bis zur massiven Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus.

Die Anforderungen des technologischen Wandels an Ausbildung und Weiterbildung sollen von einem neuen National Education Service koordiniert werden, der wie die Infrastruktur-Investitionen aus dem auf 250 Mrd. Pfund ausgelegten National Transformation Fund finanziert werden soll. »Lebenslanges Lernen für alle ist in der Ökonomie der Zukunft von entscheidender Bedeutung. Die enorme Verlagerung der Beschäftigung, die sich unter dem Einfluss der Automatisierung vollziehen wird, muss geplant und gesteuert werden. Es fordert die Umschulung von Millionen von Menschen. Nur Labour wird das schaffen. Unser National Education Service wird nach klaren Grundsätzen arbeiten: universell, kostenfrei und die Fähigkeiten stärkend. Dies ist für unseren Sozialismus für das 21. Jahrhundert von zentraler Bedeutung.«

Die demokratischen Strukturen der staatlichen Gemeinwesen sind weltweit vor allem von zwei Tendenzen bedroht: »Zum einen geht es um die Entstehung eines autoritären Nationalismus, der intolerant und kriegerisch ist. Die zweite ist nur scheinbar harmloser, aber nicht weniger heimtückisch: Die großen Entscheidungen sollen den Eliten vorbehalten bleiben. Und die Menschen sollen in erster Linie Konsumenten sein und nur mit weiten Abstand auch Bürger, deren politischer Entscheidungsspielraum zudem nur marginal ist. Demokratie muss aber viel mehr als das umfassen.« Die demokratischen Beteiligungsrechte müssen daher ausgeweitet und die Entscheidungsprozesse dezentralisiert und verstärkt in die Nachbarschaften und Kommunen zurückverlagert werden.

Im politischen Resümee hob Corbyn auf den sich in Britannien herausbildenden neuen gesellschaftlichen Konsens und auf das sich verändernde politische Koordinatenkreuz ab. »Es heißt, dass Wahlen nur in der Mitte gewonnen werden können. Und in gewisser Hinsicht ist das nicht falsch – solange berücksichtigt wird, dass das politische Gravitationszentrum nicht starr und unbeweglich ist, und dass es auch nicht dort liegt, wo die Fachgelehrten des Establishments es gerne verorten. Es verändert sich, wenn sich die Erwartungen und Erfahrungen der Menschen verändern und politische Räume geöffnet werden. Heute ist die politische Mitte sicherlich nicht mehr dort, wo sie vor 20 oder 30 Jahren lag.

Ein neuer Konsens erwächst aus den Erfahrungen der großen Wirtschaftskrise und den Jahren der Austerität. Denn die Menschen selbst haben ihre politische Stimme für ihre Hoffnungen für eine bessere Alternative wiedergefunden. 2017 könnte das Jahr sein, in dem die Politik die große ökonomische Krise von 2008 endlich eingeholt hat – weil wir den Menschen eine klare Alternative angeboten haben.

Wir müssen den Konsens über die Prioritäten, die wir bei den Wahlen gesetzt haben, noch weiter ausbauen, indem wir sowohl für das Mitgefühl für die Probleme anderer Menschen werben als auch für die gemeinsame Anstrengung, sie zu lösen. Das ist das eigentliche Gravitationszentrum der britischen Politik. Wir sind jetzt der politische Mainstream.«

Hinrich Kuhls, Düsseldorf, arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.

[1] Ulrich Bochum/Hinrich Kuhls: Labours langer Weg zur gesellschaftlichen und politischen Wende. In: Sozialismus 10-2015, S. 25–31.
[2] Hinrich Kuhls: Konservative Weichenstellungen für den Brexit. In: Sozialismus 10-2017, S. 37–40.
[3] Joachim Bischoff/Hinrich Kuhls: Brexit ist kein Zukunftsprogramm. In: Sozialismus 7/8- 2017, S. 13-25.
[4] John McDonnell: Labour conference speech 2017. Transkript: blogs.spectator.co.uk/2017/09/john-mcdonnells-labour-conference-speech-full-text/; Video: www.youtube.com/watch?v=RaoThMbgrhA
[5] Jeremy Corbyn: Labour conference speech 2017. Transkript: blogs.spectator.co.uk/2017/09/jeremy-corbyns-labour-conference-speech-full-text/; Video: www.bbc.com/news/av/embed/p05hdc24/41408150

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