Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-210-3

Michael Brie
Linksliberal oder dezidiert sozialistisch?
Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
Eine Flugschrift
126 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-215-8

Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
120 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-211-0

Margareta Steinrücke/Beate Zimpelmann (Hrsg.)
Weniger Arbeiten, mehr Leben!
Die neue Aktualität von Arbeitszeitverkürzung
160 Seiten | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-196-0

Stephan Krüger
Der deutsche Kapitalismus 1950–2023
Inflation, Beschäftigung, Umverteilung, Profitraten, Finanzkrisen, Weltmarkt
232 Seiten | zahlreiche farbige Abbildungen | EUR 24.80
ISBN 978-3-96488-189-2

Frank Deppe
Zeitenwenden?
Der »neue« und der »alte« Kalte Krieg
176 Seiten | EUR 14.80
ISBN 978-3-96488-197-7

Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
ISBN 978-3-96488-203-5

Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

30. September 2022 Fred Steinfeld: Neue Qualität in Erdoğans Schaukelpolitik

Spaltungstendenzen in der NATO?

Auf die jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine hat Russland mit der Verkündung einer Teil-Mobilmachung, die zunächst die Reaktivierung von ca. 300 000 russischen Reservisten betrifft, reagiert und beschreitet damit eine neue Eskalationsstufe in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Die deutsche Politik diskutiert neben der Bewältigung der drohenden Energiekrise im Winter vor allem eine Verstärkung der Waffenlieferungen an die Ukraine, bei der es neben einer weiteren Verschärfung der Wirtschaftssanktionen vor allem um die Lieferung von Kampfpanzern modernster deutscher Bauart (Leopard 2) geht.

Während Deutschland und Europa immer mehr in den Sog des Krieges geraten, finden gravierende geo-politische Machtverschiebungen von Europa nach Asien statt, die auch das atlantische Bündnis substanziell betreffen. Ein wichtiger Faktor innerhalb dieses globalen Veränderungsprozesses ist die Türkei unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die Risse innerhalb der durch den russischen Angriffskrieg nur vordergründig revitalisierten NATO werden immer größer und ein dauerhafter Verbleib der Türkei in diesem westlichen militärischen Bündnis ist keineswegs sicher.


Erdoğan
s Poker um die Norderweiterung der NATO

Die mit dem Russland-Ukraine-Krieg grundlegend veränderte Sicherheitslage in Europa hat in Finnland und Schweden intensive Debatten über einen NATO-Beitritt ausgelöst. Nachdem der türkische Präsident seine Blockadehaltung gegenüber der NATO-Norderweiterung kurz vor dem jährlichen Gipfel am 28.6.2022 vorerst aufgegeben hat, haben die 30 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten das mehrstufige Aufnahmeverfahren von Finnland und Schweden in Gang gesetzt. Es endet aber erst mit der Ratifizierung durch alle NATO-Mitgliedsstaaten. Und solange diese Ratifizierung nicht durch das türkische Parlament stattgefunden hat, hat auch Erdoğan immer noch Blockierungsmöglichkeiten.

In dem Memorandum, auf das sich die Türkei, Finnland und Schweden kurz vor dem NATO-Gipfel verständigt haben, geht es u.a. um die von der Türkei geforderte Auslieferung kurdischer Personen. Vor allem in Schweden leben kurdische Aktivist*innen, die Ankara für Terroristen hält. Schweden und Finnland wollen mit der Türkei Auslieferungsabkommen in Übereinstimmung mit europäischem Recht schließen.

Die inzwischen abgewählte schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson verwies seinerzeit darauf, dass die Justiz derlei Anträge "unverzüglich und umsichtig" bearbeite. Auch wenn die Politik in einem Rechtsstaat nicht in solche Verfahren eingreifen könne, könne sie trotzdem Personen ausweisen, die nicht verurteilt sind, aber eine öffentliche Gefahr darstellen. Eine »beträchtliche Zahl« solcher Fälle werde geprüft. Des Weiteren verpflichten sich Schweden und Finnland, ihre Exportbeschränkungen für Waffenlieferungen, die beide Länder in Reaktion auf den dritten Einmarsch der türkischen Armee im Oktober 2019 in Nord-Syrien erlassen hatten, zu ändern und sich »solidarisch« mit der Türkei zu zeigen. Insgesamt sprach Erdoğan von einem »diplomatischen Sieg«.

Wie die wahrscheinlich neue konservativ-rechte schwedische Regierung, die nur mit den rechtspopulistischen Schwedendemokraten möglich ist (siehe hierzu auch Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Machtwechsel in Schweden auf Sozialismus.deAktuell vom 16.9.2022), mit dem Memorandum umgehen wird, ist noch nicht bekannt. Es ist aber zu befürchten, dass sie vor dem Hintergrund bisher ungelöster Integrationsprobleme (»Bandenkriminalität«) eine deutlich verschärfte Asyl-Politik gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen betreibt.

Worum geht es Erdoğan im Kern? Mit seinem Machtpoker versucht er sich im Vorfeld der bis Juni nächsten Jahres durchzuführenden türkischen Parlaments- und Präsidentenwahlen als handlungsmächtiger geo-politischer Akteur zu profilieren. Die Politik gegenüber den Kurden verschiedener Provenienz spielt dabei eine herausragende Rolle.

Für die Türkei als Nachfolgerin des zerfallenen multi-ethnischen Gebildes des Osmanischen Reiches gibt es insbesondere unter dem autokratisch regierenden Präsidenten keinerlei Toleranz gegenüber Autonomie, auch nicht gegenüber relativer Autonomie, worauf sich die türkischen Kurden inzwischen politisch zurückgezogen haben. Die syrisch-kurdischen Volksmilizen YPG, die mit einem hohen eigenen Blutzoll entscheidend zur militärischen Niederlage des »IS« beigetragen haben, sind aus Sicht Erdoğan bloß der syrische Arm der verbotenen PKK, und werden daher radikal bekämpft. Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung marschierte die türkische Armee bereits mehrfach in Nordsyrien ein und brach damit ebenso oft das Völkerrecht.

Schon einige Zeit vor dem NATO-Gipfel hat der Nationale Sicherheitsrat den Plan eines weiteren Einmarsches der türkischen Armee in Nord-Syrien gebilligt. Es würde sich hierbei um den vierten Einmarsch seit 2016 handeln. Legitimiert wird dieser erneut mit einer Intensivierung der Terrorbekämpfung gegen die syrisch-kurdischen Milizen der YPG, die in durch russischen Truppenrückzug freigewordene Stellungen eingerückt seien und von dort aus von der Türkei besetzte Gebiete beschießen würden.

Ziel dieser neuen militärischen Operation soll es sein, entlang der Grenze auf syrischem Territorium eine 30 km tiefe erweiterte »Sicherheitszone«, die über die bereits bestehende hinaus von Idlib über Afrin bis mindestens Ras al-Ain reicht, zu schaffen sowie dort eine Million syrische Flüchtlinge anzusiedeln. Mehrere Tausend syrische (hauptsächlich jihadistisch geprägte) Angehörige der Freien Syrischen Armee, die sich vor allem in die Provinz Idlib vor der Armee des Assad-Regimes zurückgezogen haben, wollen die türkischen Streitkräfte bei dieser militärischen Operation unterstützen. Diese Armee ist de facto zu einer Söldnertruppe der Türkei mutiert. Das gemeinsame Ziel ist die Vertreibung der Kurden aus dieser Region. Menschrechtsorganisationen fürchten erneut ethnische Säuberungen (FR online vom 27.5.2022).

Die Rückführung eines Teils der in der Türkei lebenden fünf Millionen syrischen Flüchtlinge ist für Erdoğan innenpolitisch zu einer zentralen Frage geworden, er steht hier vor allem unter Druck durch rechtsextreme Parteien wie die MHP, die der AKP mit ihren 48 Abgeordneten derzeit zur Parlamentsmehrheit verhilft. Während die Türkei von der EU massive finanzielle Unterstützung für ihr Umsiedlungsprojekt fordert, lehnt die EU diese ab, weil sie eine politische Lösung für Syrien anstrebt, bei der die Flüchtlinge in ihre Heimatregionen zurückkehren können.

Im Moment verschafft den syrischen Kurden die verfahrene weltpolitische Lage in Ost-Europa eine Atempause. Erdoğan stößt mit seinen Plänen für eine neue Offensive in Syrien auf Widerstand nicht nur auf Seiten der USA, sondern auch Russlands und des Iran, die bisher ihre Zustimmung für einen solchen Angriff verweigerten. Letztere streben an, dass ganz Syrien wieder unter die Kontrolle von Machthaber Assad fällt. In diesen Konflikt scheint auch das jüngste Gipfeltreffen zwischen Putin, Erdoğan und dem iranischen Präsidenten Raisi am 19.7.2022 in Teheran keine Bewegung im Sinne der Türkei gebracht zu haben.


Russland – Türkei – Iran: widersprüchliche Dreiecksbeziehung

Die Türkei hat einerseits der Ukraine Drohnen geschickt und sie damit militärisch gegen Russland unterstützt, andererseits hat sie als einziges NATO-Mitglied bisher den Wirtschaftssanktionen gegen Russland nicht zugestimmt. Diese widersprüchliche Politik hat verschiedene Gründe.

Russland hat der Türkei nicht nur das modernste russische Raketenabwehrsystem S-400 geliefert, sondern baut auch ein Atomkraftwerk in Akkuyu, das bis 2040 10 % des jährlichen türkischen Strombedarfs decken soll. Darüber hinaus hat der Krieg in der Ukraine auch für die Türkei dramatische Folgen, denn die heimische Wirtschaft ist stark von Russland abhängig, nicht nur im Tourismus (siehe hierzu Redaktion Sozialismus.de: Die Inflation gerät außer Kontrolle auf Sozialismus.deAktuell vom 9.6.2022). Vor allem bei der Energieversorgung ist Ankara auf Moskau angewiesen. Rund 40% des Erdgas- und 25% des Ölbedarfs importiert die Türkei aus Russland – ein Geschäft, das inzwischen kaum noch bezahlbar ist.

Allein für das russische Gas erwartet die türkische Regierung in diesem Jahr Kosten in Höhe von etwa 40 Mrd. US-Dollar – etwa doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Die Türkei zahlt nach wie vor Weltmarktpreise für russische Energielieferungen. Russland ist auch der mit großem Abstand wichtigste Weizenlieferant ist. 2021 kamen 70% der türkischen Getreideimporte von dort. Zugleich hat sich die Türkei vor dem Hintergrund der massiven westlichen Wirtschaftssanktionen als »Lager und Brücke« (FAZ vom 10.8.2022) für die Lieferung von Waren nach Russland entwickelt.

Eine wichtige Rolle bei der türkischen Zurückhaltung gegenüber Wirtschaftssanktionen gegen Russland dürfte schließlich auch das schwelende Problem der großen Anzahl von Geflüchteten im Nahen Osten vor allem infolge des syrischen Bürgerkrieges spielen. Es geht hierbei u. a. um die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates zur erneuten Verlängerung der Resolution 2165 aus dem Jahre 2014, die die Grundlage für die Versorgung von Millionen Syrer im Nordwesten Syriens mit überlebensnotwendigen Hilfsgütern darstellt.

In der nord-syrischen Provinz Idlib leben 4,4 Millionen Menschen, von denen laut UN-Angaben 4,1 Millionen (darunter 1 Million Kinder) hilfsbedürftig sind, rd. 800.000 Menschen leben in Zelten. In dieser Provinz, die von der islamistischen Haiat Tahrir al-Sham kontrolliert wird, ist die Türkei ebenfalls präsent, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in den besetzten kurdischen Siedlungs-Gebieten. Die Versorgung der Hilfebedürftigen durch die UN erfolgt logistisch über die Türkei.

Russland hat nach anfänglicher Blockade am 12.6.2022 einer Verlängerung der UN-Resolution für ein halbes Jahr zugestimmt und damit kurzfristig wieder ein Druckmittel gegen Erdoğan und auch gegen West-Europa in der Hand. Denn sollten aufgrund eines russischen Vetos die UN-Hilfen eingestellt werden müssen, droht in der gesamten nord-syrischen Region eine massive Notlage, die eine neue Fluchtbewegung in die Türkei – und nicht nur dorthin – auslösen könnte. In der Türkei selbst leben jetzt schon jetzt ca. 5 Millionen syrische Geflüchtete, für deren Unterstützung die Türkei regelmäßig Milliarden Euro von der EU erhält, damit diese sich nicht auf den Weg nach West-Europa machen.

Die mehrfache Invasion der türkischen Armee in Nord-Syrien und die dauerhafte Besetzung syrischer Gebiete stellen einen eindeutigen Bruch des Völkerrechts durch ein NATO-Mitglied dar. Hinzu kommt die völkerrechtswidrige Vertreibung von syrischen Kurden aus Dörfern ihrer traditionellen Siedlungsgebiete. Es handelt sich hierbei ethnische Säuberungen.

Diese permanenten Rechtsbrüche der türkischen Regierung hat die westliche Allianz im Prinzip akzeptiert. Wirksame Wirtschaftssanktionen wurden deswegen gegen das NATO-Mitglied bisher nicht verhängt. Die Beschränkungen von Waffenlieferungen, die Schweden und Finnland wegen der militärischen Interventionen in Nord-Syrien verhängt hatten, werden de facto aufgehoben. Auch wenn die Türkei von den USA keine F-35-Tarnkappenbomber erhalten sollte, stellt eine Modernisierung und Erweiterung der Luftwaffe durch die USA eine massive Waffenlieferung dar.

Die Genehmigung der Lieferung von sechs deutschen Jagd-U-Booten an die Türkei, die diese vor über zehn Jahren bestellt hat, muss endlich zurückgezogen werden. Der Westen misst insgesamt erneut mit zweierlei Maß, wenn es um gravierende Verletzungen des Völkerrechtes geht. Die wertebasierte Außenpolitik wird je nach deutscher und westlicher Interessenslage instrumentalisiert und ist daher unglaubwürdig.


Kooperationsstrukturen im neuen globalen Gravitationszentrum Asien (SCO)

Dass die Türkei nun auch eine Mitgliedschaft in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) anstrebt, geht einigen Vertretern der herrschenden politischen Klasse nun aber zu weit. Worum geht es genau bei diesem Beitritt?

Mit dem jüngsten Gipfel der 2002 gegründeten Organisation, der neben China und Russland bereits Indien, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan und Tadschikistan und demnächst auch Iran angehören, im September beginnt sich offenbar eine geo-strategische Alternative zu den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen westlichen Sicherheitsstrukturen und Organisationen zu formieren. Drei Staaten haben Beobachterstatus wie z.B. Afghanistan, in der Rolle als Dialogpartner befinden sich u.a. Qatar und Ägypten. In dem derzeitigen Staaten-Block leben ca. 40% der Weltbevölkerung, er trägt ca. 30% zur weltweiten Wirtschaftsleistung bei.

Auf dem Gipfel ging es offiziell vor allem um das geo-strategische Vakuum, das die USA und die beteiligten NATO-Staaten mit ihrem abrupten Rückzug aus Afghanistan in Zentralasien hinterlassen haben. Die Grenzscharmützel zwischen den Mitgliedsstaaten Kirgistan und Tadschikistan noch während der Konferenz sowie eine erneute militärische Aggression Aserbeidschans gegen Armenien – beide ebenfalls Dialogpartner der SOC – verweisen auf die zahlreichen Konfliktfelder, die in Zentralasien sowie im Süd-Kaukasus schwelen bzw. immer wieder offen aufbrechen.

Inwiefern es der SOC gelingt, solche Konfliktherde durch »Friedensmissionen« zukünftig stärker als bisher einzudämmen, bleibt abzuwarten. Nach eigenen Angaben dient die Organisation vor allem der Bekämpfung von Terrorismus, Separatismus und Extremismus. Im Vorfeld sind China und Indien bereits mit gutem Beispiel vorangegangen und haben einen koordinierten Rückzug ihrer Soldaten im Himalaja verkündet, wo es aufgrund von Grenzstreitigkeiten in den letzten Jahren zu gewaltsamen Zusammenstößen gekommen war.

Bei einem Treffen mit dem russischen Präsident Wladimir Putin am Rande des Gipfeltreffens erklärte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, dass China angesichts von historisch beispiellos kolossalen Veränderungen bereit sei, zusammen mit Russland die sich schnell verändernde Welt auf einen stabilen und positiven Pfad zu bringen. Putin selbst sprach von einem außenpolitischen »Tandem« beider Länder. Explizit verurteilte er Washingtons »Provokationen« gegenüber China, womit er die Taiwan-Politik meinte. Parallel dazu hielten laut russischen Angaben die Streitkräfte beider Länder gemeinsame Seemanöver ab. Die »ausbalancierte Haltung der chinesischen Freunde in der ukrainischen Krise« schätze Russland, so Putin, hoch ein, er verstehe aber auch die Fragen und Sorgen in diesem Zusammenhang. Damit ist deutlich, dass er die innere chinesische Distanz zur »ukrainischen Krise« zur Kenntnis nimmt.

Auch der indische Premierminister Modi ging auf Distanz zum russischen Angriffskrieg. Andererseits deutet nichts auf einen substanziellen Kurswechsel gegenüber seinem wichtigsten Waffenlieferanten hin. Indien sprang bereitwillig in die Bresche, als Moskau dringend plötzlich neue Absatzkanäle für sein Erdöl und andere Rohstoffe benötigte. Innerhalb eines Quartals verzehnfachten sich die indischen Ölimporte aus Russland.

Ziel des russisch-chinesischen »Tandems« ist laut Putin die Bildung einer gerechten, demokratischen und multi-polaren Weltordnung, die auf dem Völkerrecht und der zentralen Rolle der UN basiere. Er hebt damit auf die Widersprüche der westlichen Geo-Politik ab, gleichzeitig klingen diese Worte angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine absolut zynisch.

Der Begriff »Tandem« wurde nur von Putin, nicht aber von Xi benutzt. Ersterer ist durch die jüngsten Entwicklungen Krieg (zumindest vorerst) militärisch in die Defensive geraten und sucht daher mit China einen möglichst engen Schulterschluss. Die Volksrepublik hat aufgrund der atemberaubenden Aufholjagd seiner Volkswirtschaft ganz andere geo-ökonomische und geo-politische Interessen als Russland und sieht vor allem in der zunehmenden Dauer des russischen Angriffskrieges die Gefahr einer weiteren geo-politischen Spaltung. Diese läuft den chinesischen Interessen an einem möglichst reibungslosen Funktionieren des internationalen Handels zuwider. Deswegen ist China auch darauf bedacht, dass seine Unternehmen nicht gegen amerikanische Exportverbote von amerikanischer Technologie verstoßen.

Andererseits benötigt China wie Indien wegen des gewaltigen Energiehungers seiner Volkswirtschaft zumindest für die nächsten Jahrzehnte gewaltige Mengen fossiler Energien, die Russland mit erheblichen Preisnachlässen liefert. Zudem sieht sich das Land einer zunehmend konfrontativen US-Wirtschafts-, Handels- und Militärpolitik ausgesetzt. China wird durch die derzeitige Konfrontations- und Polarisierungsstrategie des Westens an die Seite Putins getrieben.

Im Konflikt zwischen der Volksrepublik und Taiwan eine dem Russland-Ukraine-Konflikt vergleichbare Konstellation zu sehen (wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock) geht an der Sache vorbei: China hat schon aufgrund der enormen Verflechtung zwischen den beiden Volkswirtschaften kein Interesse an einer gewaltsamen Annexion Taiwans. Im Übrigen vertritt die Volksrepublik China gemäß UN-Resolution 2758 vom 25.10.1971 nach wie vor »Gesamtchina«, also auch Taiwan.

Aufgrund dieser »Ein-China-Politik« brachen z.B. Deutschland und die USA ihre diplomatischen Beziehungen zur Republik China (Taiwan) ab und erkannten die Volksrepublik China als einzige legitime Regierung an. Von dieser Politik wendet sich der Westen mehr und mehr ab und bewegt sich damit immer stärker in Richtung der faktischen Anerkennung der von Taiwan angestrebte Eigenstaatlichkeit, was die vorhandenen geo-politischen Spannungen und Konflikte weiter befeuert.

Rund um den SCO-Gipfel ging es auch um Fragen einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit, bei der u.a. auch der Bau der Gaspipeline »Power of Siberia 2« eine Rolle spielte. Diese soll die bestehende Gaspipeline zwischen Russland und China ergänzen, womit zumindest auf längere Sicht der bereits bestehende asiatische Alternativmarkt für russisches Gas nach dem Lieferstopp nach Europa noch mal massiv ausgebaut werden kann.

Indien wird in diesem Jahr laut Internationalem Währungsfonds (IWF) Großbritannien als fünftgrößte Volkswirtschaft überholen. Wirtschaftsexperten rechnen damit, dass das Land auch Deutschland und Japan im nächsten Jahrzehnt überholen und damit zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen wird. Auch andere Länder, allen voran das vom Westen als angeblicher Konkurrent zu China gehätschelte Vietnam, aber auch Bangladesch nehmen an der wirtschaftlichen Aufholjagd in Asien teil.

Insgesamt verschieben sich damit die weltwirtschaftlichen Schwerpunkte massiv weiter in Richtung Asien. In Zentralasien, genauer gesagt in Kasachstan, hatte China bereits vor neun Jahren sein wichtigstes geo-politisches Alternativ-Projekt, die Belt und Road Initiative (»Neue Seidenstraße«), verkündet. Während die Volksrepublik so ihren wirtschaftlichen und geo-strategischen Einfluss in Asien weiter erhöht, schwindet der des Westens in dieser immer bedeutender werdenden Region weiter.

Angesichts dieser weltwirtschaftlichen Schwerpunktverlagerungen ist es kein Wunder, dass die Türkei – seit 1952 NATO-Mitglied und seit 2005 EU-Beitrittskandidat -, der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit nun auch als Vollmitglied beitreten will. Die Türkei biete mit ihrer Brückenfunktion »beispiellose Chancen« und die SOC sei für die Türkei das Tor nach Asien, so Erdoğan. Er verwies auf die 2019 beschlossene Asien-Initiative, die das Ziel habe, die im Westen Asiens liegende Türkei enger mit dem Osten des Kontinents zu verbinden und spitzt damit das Konfliktpotential der türkischen Schaukelpolitik zu.

Die Türkei genießt durch ihre Mitgliedschaft in der westlichen Allianz einerseits den Vorteil der Teilhabe an dem hohen Niveau westlicher Technologie und auch der Sicherheit, die die NATO-Mitgliedschaft bietet. Andererseits will sie nicht auf die wirtschaftlichen und politischen Vorteile verzichten, die sich für sie aus den wirtschaftlichen und geo-politischen Machtverschiebungen von Europa nach Asien ergeben.

Mit dem Streben der Türkei nach einer Vollmitgliedschaft in der SCO werden in der deutschen Ampel-Koalition Rufe nach harten Konsequenzen für das NATO-Mitglied laut (siehe FAZ vom 20.9.2022). Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, reagierte noch moderat, als er Erdoğan Vorhaben als schweren Fehler und erneuten Versuch charakterisierte, von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. »Außenpolitisch wäre dies ein weiterer symbolischer Schritt weg vom Westen und seinen Werten – ein schwerer politischer Fehler für die Zukunft der Türkei.«

Deutlich härter reagierte Jürgen Trittin (Grüne): »NATO und Europäische Union müssen sich fragen lassen, wie lange sie sich von Erdoğan noch auf der Nase herumtanzen lassen«, sagte er in der »Welt«. »Die Türkei hindert die NATO an der Überwachung des UN-Waffenembargos für Libyen. Sie bohrt in Griechenlands Wirtschaftszone. Das NATO-Mitglied Türkei tut mehr für die Umgehung der europäischen Russland-Sanktionen als China. Erdoğan bremst den Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO. Und nun will er zusammen mit dem Iran der SCO beitreten.«

Es sei Zeit für eine »robustere Türkei-Politik.« Da niemand aus der NATO ausgeschlossen werden könne, müsse über wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen nachgedacht werden. Der von Trittin aufgelistete politische Sündenkatalog ist dabei noch nicht einmal vollständig, er blendete die diversen völkerrechtswidrigen Interventionen der Türkei in Nord-Syrien sowie die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Innern des Landes aus.

Welche geo-politischen Folgen hätte eine harte wirtschaftliche Sanktionspolitik des Westens gegenüber der Türkei? Präsident Erdoğan gerät durch die von ihm zu verantwortende dramatische ökonomisch-soziale Entwicklung innenpolitisch immer stärker unter Druck. Die galoppierende Inflation, die nach offizieller Angabe mit fast 80 % derzeit so hoch ist wie seit 1998, senkt die Kaufkraft drastisch.

Zwar hat die türkische Regierung den Mindestlohn innerhalb von sechs Monaten zunächst um 50% und jetzt erneut um 30% erhöht sowie Rentner*innen und Beamt*innen eine Einkommenserhöhung von 40% versprochen, dennoch wird ein großer Teil der Bevölkerung durch die Entwertung ihrer Einkommen und Rücklagen stetig ärmer. Immer mehr Türk*innen können sich das normale Leben kaum noch leisten, zudem droht eine Wirtschaftsrezession. Hinzu kommt das ungelöste Problem der fünf Millionen vor dem syrischen Bürgerkrieg in die Türkei Geflüchteten.

Erdoğans Erfolgschancen in den spätestens bis Juni nächsten Jahres durchzuführenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sind derzeit eher gering einzuschätzen. Ob »wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen«, wie sie Trittin vorschlägt, seine Wahlchancen weiter beeinträchtigen würden, erscheint zweifelhaft. Der Präsident könnte einen solchen Schritt zum Anlass nehmen, den Westen und die NATO an den Pranger zu stellen und für die ökonomisch-soziale Krise verantwortlich zu machen und die Orientierung der Türkei in Richtung Russland und Asien weiter zu verstärken.

Die Risse und Spaltungstendenzen in der westlichen Allianz werden größer und sichtbarer. Es ist nicht auszuschließen, dass es langfristig zu einer endgültigen Trennung zwischen NATO und Türkei kommt. Die NATO verlöre damit ihren wichtigsten geo-strategischen Brückenkopf an ihrer Süd-Ost-Flanke. Insgesamt würde dadurch das neue globale Gravitationszentrum Asien weiter gestärkt, der globale Einfluss des Westens dort weiter geschwächt.

Zurück