9. Dezember 2023 Redaktion Sozialismus.de: Diskrepanz zwischen Visionen und Realität
SPD gegen Roll Back des sozialen Friedens
Das zentrale Thema auf dem Bundesparteitag der Sozialdemokraten lautet: Die SPD werde den Kampf um die »Verteidigung des Sozialstaats« aufnehmen. Der Tenor in allen Reden des Führungspersonals (Bundeskanzler, Parteivorstand, Generalsekretär, Fraktionsvorsitzender etc.) war identisch: Die Partei werde geschlossen jeden Versuch der Anhänger*innen der »enormen Vermögensungleichheit« bekämpfen, eine neue Phase des Sozialabbaus einzuleiten, weil ein solcher Roll Back den sozialen Frieden gefährde.
Olaf Scholz versichert: Einen Abbau des Sozialstaats werde es trotz der Haushaltskrise in Deutschland nicht geben. Mit Bezug auf den früheren SPD-Kanzler Helmut Schmidt und den Kampf für den Sozialstaat erinnert er an die erreichten Errungenschaften und betont, dass der deutsche Wohlstand unter anderem auf dem Sozialstaat beruhe. »Deutschland braucht als Einwanderungsland auch weiter die Perspektive, diejenigen aufzunehmen, die für das Wachstum und den Wohlstand dieser Gesellschaft erforderlich sind.«
Der Bundeskanzler zeigt sich zuversichtlich, in den Haushaltsverhandlungen mit den Partnern der Ampel-Koalition zu einem Ergebnis zu kommen. »Wir stehen nicht vor einer unlösbaren Aufgabe.« Die Situation sei sehr schwierig, »insbesondere, wenn man das nicht nur so machen kann, wie man das selber richtig findet, sondern sich auch noch mit anderen einigen muss«.
Die Ampel liegt bei der Frage, wo Milliardenbeträge eingespart werden können, weit auseinander. So stellt die FDP die Aufstockung des Bürgergelds, die Kindergrundsicherung und selbst Teile der Altersrente infrage. Der Sozialstaat sei eine der größten Errungenschaften, die Deutschland je zustande gebracht habe, unterstreicht dagegen die Sozialdemokratie. Es gehöre zur DNA, zum Selbstverständnis des Landes, dass niemand aufgegeben werde.
Scholz rief in seiner Rede auf dem Parteitag auch zu einem langen Atem bei der deutschen Unterstützung für die Ukraine auf. Er betonte: Dieser Krieg sei wahrscheinlich so schnell nicht vorbei. Daher sei wichtig, »dass wir lange in der Lage sind, das zu tun was notwendig ist«, nämlich »die Ukraine weiter in ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen«. Deutschland müsse sich sogar darauf einstellen, noch mehr leisten zu müssen, »wenn andere schwächeln«, sagte der Kanzler offensichtlich in Anspielung auf die unklare politische Lage in den USA vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr. Daher müsse es auf deutscher Seite Entscheidungen geben, »dass wir dazu in der Lage sind« und machte somit zugleich indirekt Druck auf die Koalitionspartner für die noch nicht abgeschlossenen Haushaltsverhandlungen.
Aussetzung der Schuldenbremse wegen Ukraine
Denn die SPD hat sich angesichts der Haushaltskrise unter Bezug auf den Ukrainekrieg für die Aussetzung der Schuldenbremse auch im Jahr 2024 stark gemacht. Politisch sei deshalb die Voraussetzung für eine Notlage gegeben, die eine erweiterte Kreditaufnahme ermögliche, beschlossen die Delegierten des Bundesparteitags einstimmig. »Das Handeln eines aggressiven Autokraten im Krieg entzieht sich nicht nur der Kontrolle des deutschen Staates, sondern beeinträchtigt erheblich die Finanzlage des Bundes und weiterer öffentlicher Haushalte«, heißt es in dem vom Parteivorstand eingebrachten Initiativantrag.
Parteichefin Saskia Esken betonte: »Wir können nicht Krisenbewältigung aus dem Normalhaushalt stemmen.« Die Ausnahmeregel der Schuldenbremse müsse nochmals genutzt werden. Die SPD sei nicht bereit, Mittel zur Bewältigung des Ukrainekriegs und seiner Folgen durch Kürzungen im Sozialhaushalt zu finanzieren.
Mit dem Parteitagsbeschluss geht der nach seiner Rede mit Standing Ovations verabschiedete Kanzler Scholz nun in die weiteren Verhandlungen über den Bundeshaushalt mit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner. Der FDP-Chef hat zuletzt wiederholt deutlich gemacht, die Argumente für eine Aussetzung der Schuldenbremse überzeugten ihn aktuell noch nicht.
Die drei Ampel-Spitzen ringen darum, ein 17 Milliarden Euro großes Loch im Haushalt für 2024 zu stopfen sowie in den nächsten Jahren Milliardeninvestitionen für Klimaschutz und die Modernisierung der Wirtschaft zu ermöglichen. Die FPD will dies allein durch Kürzungen unter anderem im Sozialen erreichen. SPD und Grüne dagegen vertreten die Haltung, dass Kredite aufgenommen werden müssen, um allzu einschneidende Sparrunden zu vermeiden.
Kernthemen Gerechtigkeit und gute Sozialpolitik
Generalsekretär Kevin Kühnert beschwor die Delegierten, darum zu kämpfen, die Partei zusammenzuhalten, um aus dem Umfragetief herauszukommen. »Wir werden siegen, aber nicht von alleine, sondern nur, wenn wir uns zusammenreißen und zusammen aus diesem Loch rauskommen«. Er rief dazu auf, mit den SPD-Kernthemen, Gerechtigkeit und gute Sozialpolitik, zu punkten. Notwendig sei »politische Klarheit«. In der Ampelkoalition wolle die Partei »unsere Verantwortung bis zum Ende ausüben«, und dabei »das Maximum rausholen«. Dies funktioniere »am besten, wenn der eigene Laden kampfbereit, kampffähig und kampfwillig ist.«
In dem einstimmig angenommen Leitantrag »Zusammen für ein starkes Deutschland« unterstreicht die Sozialdemokratie ihr Selbstverständnis: »Deutschland ist ein starkes Land. Mit 83 Millionen Bürgerinnen und Bürgern sind wir eine der erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt und die stärkste Europas. Wir haben Innovationen hervorgebracht, die die Welt geprägt haben. Das hat Wohlstand und den Aufbau eines modernen und starken Sozialstaats ermöglicht. Über viele Jahrzehnte war in unserem Land klar, dass es zukünftigen Generationen einmal bessergehen würde.«
Jetzt müsse die Gesellschaft die sozial-ökologische Transformation und die Digitalisierung bewältigen, weil sich die Art zu leben und zu arbeiten dramatisch verändern werde. »Damit der Wandel zu Verbesserungen führt, brauchen wir ein neues Zusammenspiel von Staat und Markt. Die vergangenen Jahre und Krisen haben gezeigt, dass der Markt allein nicht in der Lage ist, Sicherheit im Wandel und Wohlstand für alle zu gewährleisten.«
Gesellschaft des Respekts
Die meritokratische Grundüberzeugung ist keine Selbstverständlichkeit mehr. »Die Sozialdemokratie kämpft für eine Gesellschaft des Respekts. Eine Gesellschaft, in der jede und jeder von ihrer beziehungsweise seiner Arbeit gut und selbstbestimmt leben kann. Eine Gesellschaft, in der wir zusammen die großen Aufgaben unserer Zeit angehen und jede und jeder den Beitrag leistet, den er oder sie beitragen kann. Eine gerechte Gesellschaft, in der wir aufeinander Rücksicht nehmen, die Freiheit des Einzelnen respektieren und solidarisch zusammenstehen, weil wir die Kraft der Gemeinschaft brauchen.«
Als Sozialdemokratie »werden wir dafür sorgen, dass der Wandel die Gesellschaft nicht in neue Gewinner und Verlierer spaltet. Wir werden die kommenden Jahre und Jahrzehnte nur erfolgreich gestalten, wenn wir alle Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg mitnehmen und die Kosten und Gewinne der Transformation gerecht verteilen. Die Mär der ›Trickle-Down-Economics‹, nach der die gesamte Gesellschaft vom Erfolg einiger weniger profitiert, ist in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll widerlegt worden. Die wachsende Ungleichheit ist heute eine der größten Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für unsere Demokratie.«
»Die sozial-ökologische Transformation, die Digitalisierung und der demografische Wandel« beträfen »alle Branchen und alle Regionen. Gelungene Transformation bemisst sich daran, ob sie dazu beiträgt, Alltag und Arbeit überall zu verbessern, gleichwertige Lebensverhältnisse und Chancengleichheit zu fördern. Dafür ist eine kluge regionale Struktur- und Arbeitsmarktpolitik notwendig, die nicht nur reagiert, sondern vorausschauend handelt.«
Konkret müsse der Vorschlag der Mindestlohnkommission, den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in den kommenden beiden Jahren in zwei Stufen um jeweils 41 Cent anzuheben, deutlich korrigiert werden. »Denn die vorgeschlagene Erhöhung ist viel zu gering und wird weder der allgemeinen Lohnentwicklung noch der hohen Inflation, insbesondere bei Energie und Lebensmitteln nicht gerecht. Zu einem Gesamtkonzept für gerechtere Bezahlung der breiten Arbeitnehmerschaft gehören auch weitere Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung, wie eine leichtere Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen.« Die Regulierung des Lohns folge der Maxime: »Durch technologischen Fortschritt wollen wir Wohlstand, Selbstbestimmung und Emanzipation für alle Menschen erreichen und nicht nur steigende Profite für Wenige.«
Kampf gegen soziale Ungleichheit
Erneut bekräftigt die SPD, dass sie gegen die wachsenden Ungleichheiten von Einkommen, Vermögen vorgehen wird. »Wir werden die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger entlasten. Die allerhöchsten Einkommen und Millionenvermögen werden wir stärker an der Finanzierung des Gemeinwohls und der Modernisierung unseres Landes beteiligen.« Daher werde die Sozialdemokratie u.a. im Rahmen einer grundlegenden Einkommensteuerreform dafür sorgen, dass die große Mehrheit der Steuerzahlenden mehr Geld in der Tasche habe (etwa 95%).
»Um die Entlastungen zu finanzieren, werden die Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen mehr Verantwortung übernehmen. Vor dem Hintergrund der durch die jüngsten Krisen verstärkten sozialen Ungleichheiten wollen wir zudem die allerhöchsten Vermögen noch stärker in die Verantwortung ziehen.« Neben dieser Erhöhung der Steuern für Superreiche wolle die SPD mit einer Revitalisierung der Vermögensteuer einem weiteren Anwachsen der Vermögenskonzentration entgegenwirken.
Die Botschaft des Leitantrages ist eindeutig: Die Transformation und Modernisierung soll befördert und zugleich der weitere Anstieg der soziale Ungleichheit verhindert werden. Auch die Eingriffspunkte und die Instrumente sind umrissen. Vor diesem Hintergrund plädiert die Sozialdemokratie für eine solide und nachhaltige Haushaltspolitik. Gute Löhne und Besteuerung der Unternehmensgewinne sowie eine Krisenabgabe für Superreiche seien die besten Grundlagen für solide öffentliche Haushalte. Mit einer starken Wirtschaft gingen stabile Steuereinnahmen und sinkende Bedarfe für die soziale Sicherung und Bezuschussung der Rente einher. Die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form ist ein Standort- und Wohlstandsrisiko für Deutschland geworden. Sie bremse den notwendigen Wandel. Deshalb wollen die Sozialdemokraten die Schuldenregeln ändern.
Widerspruch zwischen Vision und gesellschaftlicher Realität
Die SPD hat also auf ihrem Bundesparteitag den Versuchen, den Sozialstaat zu demontieren, den strikten Widerstand erklärt. Sie hat eine Konzeption für die Transformation und Digitalisierung sowie für den demografischen Wandel (Rückgang an Lohnarbeitskräften) vorgelegt. Und sie hat eine Idee zur Überwindung der aktuellen Haushaltskrise.
Mehr noch: Sie hat eine »Vision für ein Land, in dem die Leistung jeder und jedes Einzelnen respektiert wird. Ein Land, in dem jede und jeder von ihrer beziehungsweise seiner Arbeit gut leben kann, auch im Alter. Ein Land, in dem die Generationen gerade im demografischen Wandel sich aufeinander verlassen können. Ein Land, in dem neu Zugewanderte und Alteingesessene gemeinsam an unserem Wohlstand und an einer integrativen Gesellschaft arbeiten.«
Und der Bundeskanzler hat eingeräumt, dass ihn die massive Zunahme des Rechtspopulismus in Westeuropa, Lateinamerika und den USA, aber auch in der Berliner Republik tief beunruhige, und fordert die gesamte Partei auf, sich klar gegen rechtsradikale Einstellungen zur Wehr zu setzen: »Wir haben eine Geschichte, und wir haben eine Verantwortung für die Demokratie. Und deshalb dürfen wir das nicht geschehen lassen«. Die SPD sei im 19. Jahrhundert von armen Leuten für Demokratie und soziales Miteinander gegründet worden. Obwohl sie arm gewesen seien, hätten die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht Hass und Zwietracht gesät oder zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen. Mit diesem Erbe dürfe die SPD auch jetzt »niemanden damit durchkommen lassen, dass er die Idee entwickelt, weil es ihm schlecht geht, darf er rechtsradikale Ideen haben«. In unsicheren Zeiten komme es auch darauf an, Zuversicht zu vermitteln.
Allerdings hat die Sozialdemokratie für Zuversicht und die beschlossene Vision keine Mehrheit in der Gesellschaft und unter den politischen sowie wirtschaftlichen Eliten. Mehr noch: Sie hat auf dem Bundesparteitag keine Debatte darüber angestoßen, wie dieser große Widerspruch zwischen Papierform und gesellschaftlicher Realität überwunden werden kann.
Ob allein sicherlich kluge zukunftsorientierte Beschlüsse, die Verbreitung von Zuversicht, der Appell zum Zusammenreißen und die unbestrittene Stärkung ihres Führungspersonal durch überraschend gute Wahlergebnisse – Saskia Esken erhielt 82,6%, Lars Klingbeil 85,6%, Generalsekretär Kühnert wurde gar mit 92,55 im Amt bestätigt, als stellvertretende Vorsitzende wurden Klara Geywitz (74,6%), Hubertus Heil (96,6%), Serpil Midyatli (79,3%) und Anke Rehlinger (95,5%) wiedergewählt, neu in der engeren Führungsriege ist der Finanzpolitiker und NRW-Parteivorsitzende Achim Post (78,2%) – ausreichen werden, um den weiteren Absturz der SPD (im letzten DeutschlandTrend liegt die Partei noch bei 14%) zu stoppen, darf bezweifelt werden.