16. Mai 2013 Otto König / Richard Detje: Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie
Spielräume ausgeschöpft?
Die Tarifrunde war kurz. Allein die Forderung nach höheren Entgelten stand auf der Tagesordnung. Komplexe Verhandlungen durch eine Verknüpfung mit qualitativen Forderungen – wie die Regulierung von Leiharbeit in der letztjährigen Tarifrunde – waren nicht zu erwarten. »Die Tarifrunde an sich war nicht schwierig«, meinte dann auch der bayerische IG Metall-Bezirksleiter Jürgen Wechsler.
Die Forderung der IG Metall belief sich auf 5,5% für ein Jahr. Der Tarifabschluss[1] sieht Entgeltsteigerungen von insgesamt 5,6% für 20 Monate vor: nach zwei Nullmonaten eine Tarifanhebung um 3,4% ab dem 1. Juli bis zum 30.4.2014 und anschließend bis Jahresende eine zweite Erhöhung um 2,2%. Eine Differenzierung je nach wirtschaftlicher Lage der Betriebe, wie von den Arbeitgebern gefordert, wurde abgewehrt.
Mit dem Abschluss habe die IG Metall »den verteilungsneutralen Spielraum, also die Preissteigerungsrate plus die gesamtwirtschaftliche Produktivität, vollständig ausschöpfen können«, hebt das für Tarifpolitik zuständige Vorstandsmitglied Helga Schwitzer hervor. Damit würde die IG Metall auf der Linie der Tarifabschlüsse des letzten Jahrzehnts liegen, abgesehen vom Krisenjahr 2010, als es nur zwei Einmalzahlungen von 160,- Euro gab.
Die Tarifforderung der IG Metall beinhaltete über den verteilungsneutralen Spielraum von 3-3,5% in 2013 wie 2014 hinaus eine Umverteilungskomponente um rund 2%. Begründung: Damit werde einerseits ein Beitrag zu mehr Verteilungsgerechtigkeit in einer Zeit wachsender Spaltung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse geleistet, andererseits die Binnennachfrage gestärkt. So werde ein Impuls für mehr Wachstum in einem von Austeritätspolitik in die Rezession getriebenen Europa geschaffen.[2]
Beide Argumente sind richtig und wichtig. Wenn dem aber so ist, ist festzustellen, dass der Tarifabschluss diese verteilungs- und europapolitische Flanke nicht abdeckt. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstehen würde, beides würde zur Mobilisierung benötigt, habe tarifpolitisch aber keinen weiteren Realitätsgehalt.
Inwieweit der verteilungspolitische Spielraum tatsächlich ausgeschöpft wird, kann nur eine rückblickende Bewertung zeigen. Rechnet man die zwei Nullmonate in die erste Entgelterhöhung ein, beläuft sich die erste Erhöhungsrate auf 2,88%. Angesichts der niedrigen Preisentwicklung bringt das auf jeden Fall steigende Realeinkommen. Wie es im kommenden Jahr aussieht, hängt davon ab, ob die Europäische Währungsunion im Würgegriff deflationärer Austeritätspolitik bleibt, oder ob der politische Druck stärker wird, qualitative und auf soziale Ausgleiche zielende Wachstumsinitiativen zu starten. Auch für die Kernforderung ist folglich zentral, wie das politische Mandat profiliert werden kann.
Es gibt eine zu tiefer Besorgnis Anlass gebende Konstellation jenseits der konjunkturellen Entwicklung. Die resultiert daraus, dass der Exportboom der deutschen Wirtschaft sich deutlich abschwächt in dem Maße, in dem die aufstrebenden asiatischen und lateinamerikanischen Märkte ihre nachholenden Industrialisierungsprozesse erfolgreich bewältigen, sprich Importe durch Eigenproduktion ersetzen. Deutschland würde dann wieder stärker vom europäischen Markt abhängig sein, im Unterschied zum vergangenen Jahrzehnt allerdings in negativer Hinsicht. Im günstigen Fall wäre das für Deutschland ein Stagnationsszenario.
Tarifpolitisch übersetzt hieße das zweierlei: Erstens würde der verteilungsneutrale Korridor für Entgelte – und auch für alle kostenwirksamen qualitativen Forderungen – noch schmaler werden. Und zweitens würde die Kluft in der wirtschaftlichen Lage von Betrieben und Wirtschaftszweigen weiter zunehmen. Denn während in Aufschwüngen noch im Geleitzugprinzip gefahren werden kann, herrscht in Zeiten von Stagnation oder Krise die Logik ruinöser Standort- und Unternehmenskonkurrenz.
Das heißt: Verteilungspolitische Abkoppelungsprozesse, die heute eher Randbereiche der IG Metall heimsuchen, drohen in den Kern vorzustoßen. Damit würden Arbeitgeberforderungen nach differenzierenden Tarifen und damit einer weiteren Verbetrieblichung der Tarifpolitik umso entschiedener verfolgt werden.
Ein letzter Punkt: 762.857 warnstreikende Metallerinnen und Metaller zeugen von Mobilisierungskraft. Doch mit jedem Jahr verblasst die Erinnerung an darüber hinaus gehende Arbeitskampfmaßnahmen. Die allerdings sind ein wirksames »Argument« für die Stärkung von Organisationsmacht.[3] Gerade in der gegenwärtigen Situation ist eine Gewerkschaft, die ihre Schutzfunktion, Widerständigkeit und Durchsetzungskraft unter Beweis stellt, von potenziellen Mitgliedern gefragt.
Hier nun laufen die verschiedenen Stränge der Tarifrunde zusammen. Überzeugungskraft und Standfestigkeit, politischer Veränderungs- und Durchsetzungswille, das Profil einer Organisation, die schlechte Verhältnisse nicht als Sachzwang hinnimmt, sondern als gesamtwirtschaftlich gestaltende Kraft zu verändern trachtet, sind Ressourcen, aus denen Organisationsmacht und damit bewehrte Autonomie erwächst.
[1] Vorläufer: Im März hatte die IG Metall in der Stahlindustrie 3% für 15 Monate (bis Mai 2014) abgeschlossen. Dort herrscht allerdings flächendeckend Kurzarbeit.
[2] Der »Wirtschaftsweise« Peter Bofinger hatte für dieses Jahr »fünf Prozent Plus über alle Branchen hinweg« für notwendig gehalten, inklusive eines zweiprozentigen Zuschlags zur Euro-Rettung. »Wir können bei Tarifverhandlungen nicht länger so tun, als lebten wir auf einer Insel« (SPIEGEL online, 6.1.2013).
[3] Keineswegs – wie häufig gemutmaßt wird – nur kurzfristig, sondern, wie Untersuchungen des WSI belegen, durchaus nachhaltig.