14. November 2024 Joachim Bischoff: Befunde des Jahresgutachtens des Sachverständigenrats
Stagnierende Wirtschaft
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erwartet für das laufende Jahr eine erneute Schrumpfung des deutschen Bruttoinlandprodukts (BIP) um 0,1% und für 2025 ein nur geringes Wachstum um 0,4%.
In den letzten fünf Jahren hat das BIP real insgesamt nur um 0,1% zugelegt. Die enttäuschende Botschaft im aktuellen Jahresgutachten 2024/25 der »Wirtschaftsweisen« über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat keinen sonderlichen Neuigkeitswert. Andere europäische Volkswirtschaften sind in dieser Zeit gewachsen, in den USA ist das BIP um 12% gestiegen. Es gibt also keine Akkumulationskrise der Weltwirtschaft, die allen Ländern einen Krisenmodus aufzwingt. Vielmehr sind der Welthandel und die Weltproduktion wieder angesprungen.
Aber Deutschland profitiert weniger davon als in der Vergangenheit. Das hat nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle Gründe. Die Exportindustrie, ein wichtiger Pfeiler Deutschlands, ist weniger mitgegangen mit dem Anstieg des Welthandels.
Die deutsche Exportwirtschaft – ein wichtiger Pfeiler der hiesigen Ökonomie – profitiert weniger von der wachsenden Weltwirtschaft als in den letzten Jahrzehnten, obwohl sich die traditionellen deutschen Exportmärkte robust zeigen. Dies deutet darauf hin, dass die konjunkturelle Schwäche in wesentlichem Umfang auf im internationalen Vergleich hohe Kostensteigerungen und nicht-preisliche Wettbewerbsfaktoren zurückzuführen ist.
Im internationalen Vergleich hinke Deutschland deutlich hinterher, heißt es in dem Gutachten. In den vergangenen fünf Jahren sei das deutsche BIP real lediglich um 0,1% gewachsen. Während es in den Vereinigten Staaten in dem Zeitraum um 12% und im Euroraum um 4% angesteigen ist, sagte die Vorsitzende des Sachverständigenrats, Monika Schnitzer, vor Journalisten.
Auch die weiteren Aussichten sind trüb: Die Projektion kommt auf ein jährliches Wachstum von lediglich 0,4% bis 2028. Das ist nur ein Drittel dessen, was in der vergangenen Dekade der Normalfall war. Wichtig ist aber zu betonen, dass es sich hierbei weder um eine Vorhersage noch um eine Prognose handelt. Politische Entscheidungen können daran etwas ändern. Im schlimmsten Fall könnte das deutsche Wachstum also noch geringer ausfallen, im besten Fall aber auch deutlich darüberliegen.
Die seit dem Jahr 2020 anhaltende Unterauslastung der Wirtschaft könnte zu einer dauerhaften Verlangsamung der Investitionstätigkeit führen. Der Kapitalstock würde somit weniger stark wachsen als derzeit unterstellt. Weiterhin schlägt sich die Zunahme der Erwerbstätigkeit derzeit nicht in einem Anstieg der Produktion nieder. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte er sich in zukünftigen Projektionen negativ auf das Wachstum der Produktivität auswirken.
In der Politik besteht durchaus die Möglichkeit umgehend gegenzusteuern. Das Wachstumspotenzial wird insbesondere durch den demografischen Wandel gedämpft. In den kommenden Jahren wird die Generation der Babyboomer aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Wenn aber die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden schrumpft, wird auch weniger produziert. Wir könnten also in eine Situation geraten, in der es Kindern nicht mehr besser, sondern schlechter geht als ihren Eltern. Für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland könnte das Sprengstoff sein.
Arbeitsvolumen
Der Trend zu weiterem Rückgang kann partiell geändert werden: Einerseits ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Deutschland vergleichsweise gering. Hier könnten also noch Reserven für den Arbeitsmarkt erschlossen werden. Andererseits gäbe es Potenziale, die Erwerbstätigkeit im Alter zu stärken. Die Wirtschaftsweisen sprechen sich hier etwa für eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Entwicklung der Lebenserwartung aus, was in der Bevölkerung allerdings keineswegs populär ist und bei einer Umsetzung auf größere Widerstände stoßen dürfte.
Eine weitere Möglichkeit, um die Lücken zu schließen, ist eine höhere Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Eine Nettozuwanderung von jährlich 400.000 Personen würde das Erwerbspersonenpotenzial konstant halten. Das wären – wenn man berücksichtigt, dass auch viele wieder abwandern – 1,5 Mio. Menschen pro Jahr. Um diesen Zuzug zu stemmen, müsste die Bundesregierung dringend die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Man sollte etwa eine eigene Zuwanderungsbehörde schaffen, die losgelöst von den Asylverfahren arbeitet. Vor allem aber müssen Arbeitnehmer*innen aktiv angeworben werden: Es ist ja nicht so, dass Deutschland auf Rang eins bei qualifizierten Fachkräften steht. Aber selbst wenn alle diese Maßnahmen ergriffen würden, reichte das noch lange nicht, um das deutsche Wachstumsproblem zu lösen.
Wenn die Unternehmen massiv investieren würden, um das sinkende Arbeitsvolumen zu kompensieren – etwa in Automatisierungssysteme und Querschnittstechnologien wie künstliche Intelligenz – ergäbe ich eine weitere Möglichkeit. Aktuell sind die Investitionen allerdings eher rückläufig. Viele Unternehmen warten zuerst einmal ab, die regulatorische Unsicherheit ist hoch, ständig kommen aus der Regierung neue Vorschläge, die den Standort perspektivisch unattraktiver machen könnten. Planungs- und Genehmigungsverfahren dauern zu lange, die Digitalisierung wurde in den Behörden großflächig verschlafen.
Die Wachstumsinitiative der jetzt gescheiterten Bundesregierung vom Sommer 2024 ist durchaus ein pragmatisch in die richtige Richtung weisendes Maßnahmenpaket, das zur langfristigen Steigerung des Wirtschaftswachstums in Deutschland führen kann. Sie enthält 49 Maßnahmen, die sowohl das Wachstum des Arbeitsvolumens und des Kapitaleinsatzes als auch der Produktivität erhöhen könnten. Allerdings fällt auch hier die zögerliche Umsetzung im politischen Raum auf und nach dem Regierungswechsel dürften diese Ideen weiter auf der langen Bank verbleiben.
Der Sachverständigenrat unterstreicht die Wichtigkeit dieser Reformpunkte: verschiedene Maßnahmen sollten das inländische Arbeitsangebot stärken. Dazu zählen die steuerliche Förderung von Mehrarbeit sowie die Ausweitung der Arbeitsanreize für Frauen, Ältere und Bürgergeldbeziehende. Zudem sollen die Hürden für ausländische Fachkräfte zur Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland gesenkt werden.
Die Ausweitung der Westbalkan-Regelung könnte durch höhere Kontingente und eine bessere Ausnutzung der vorhandenen Kontingente die Zuwanderung jährlich um etwa 25.000 Personen erhöhen, wodurch das Potenzialwachstum jeweils um etwa 0,03% zunehmen würde. Die steuerlichen Anreize für hochqualifizierte Zuwander*innen könnten zu einer zusätzlichen Zuwanderung von etwa 19.000 Personen pro Jahr führen. Die mit dieser Personengruppe erzielte Ausweitung des Arbeitsangebots könnte das Potenzialwachstum um weitere 0,04% anheben. Zusammen mit den Regelungen zur Erhöhung des Arbeitsangebots der inländischen Bevölkerung könnten diese Maßnahmen das Potenzialwachstum um 0,1 bis 0,2% erhöhen. Dabei dürfte der Effekt der Erhöhung des inländischen Arbeitsangebots lediglich einmalig wirken.
Die Wachstumsinitiative sieht zudem eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung von privaten Investitionen vor. Insbesondere die Verlängerung der degressiven Abschreibung von Ausrüstungsgütern bis zum Jahr 2028 könnte die Kapitalakkumulation temporär beschleunigen. Die Ausweitung der Forschungszulage begünstigt zudem die Investitionen in immaterielle Anlagegüter und dürfte mittelfristig positiv auf das Wachstum der Produktivität wirken. Das Investitionsvolumen könnte mit den in der Wachstumsinitiative vorgesehenen Maßnahmen im Jahr 2028 etwa 1,8% höher liegen als ohne Wachstumsinitiative.
Im Sektor der industriellen Produktion gibt es sowohl Lichtblicke und gute Ansätze, die durch staatliche Interventionen verstärkt werden könnten. So hat die deutsche Industrie hat im September unerwartet stark zulegt. Demnach stiegen die Bestellungen in diesem Monat um 4,2% im Vergleich zum Vormonat. Der Anstieg ist damit so stark wie seit Juni nicht mehr. Die Zahlen überraschen und geben einen Lichtblick für die angeschlagene deutsche Industrie. Denn zahlreiche Ökonomen hatten im Vorfeld nur mit einem Anstieg von 1,5% gerechnet. Im August noch waren die Aufträge um 5,4% eingebrochen und damit so stark wie im ganzen Jahr nicht. Das Bundesamt revidierte seinen für August vermeldeten Rückgang nun, zuvor war ein Einbruch um 5,8% vermeldet worden.
Die Bundesbank geht nicht davon aus, dass sich Europas größte Volkswirtschaft am Jahresende aus der hartnäckigen Konjunkturflaute befreien kann. »Im vierten Quartal könnte die wirtschaftliche Aktivität aus heutiger Sicht in etwa stagnieren«, heißt es im aktuellen Monatsbericht. Im Sommerquartal sei das Bruttoinlandsprodukt wohl »erneut etwas zurückgegangen«, nachdem es bereits im Frühjahr um 0,1% geschrumpft war. Bei zwei Minus-Quartalen in Folge wird von einer technischen Rezession gesprochen.
Diese Datenlage kann mithin als Aufforderung interpretiert werden, durch Ausweitung öffentlicher Investitionen für Impulse zu sorgen, um die industriellen Unternehmen aus der Stagnation herauszuholen. Überhaupt zeigen sich die politischen Instanzen bislang zögerlich, Reformen anzugehen und auf kurze Frist Wachstumsimpulse zu setzen. Dabei wäre genau das jetzt notwendig. Viele Probleme seien hausgemacht, darunter die ausufernde Bürokratie, langfristige Genehmigungsverfahren und die marode Infrastruktur. Auf Erleichterung können die Konzerne allenfalls in homöopathischen Dosen hoffen.
Der Rat wiederholte seine Mehrheitsempfehlung, die Schuldenbremse so zu reformieren, dass mehr Investitionen über neue Schulden finanziert werden könnten. Zur Stärkung des Wachstums schlägt die Mehrheit zudem neue Regeln vor, um den Staat in seinen Ausgaben stärker auf Zukunftsinvestitionen auszurichten und um einer weiteren Vernachlässigung von Infrastruktur, Verteidigung und Bildung entgegenzuwirken. Die Verkehrsinfrastruktur könne auf Bundesebene über einen Verkehrsinfrastrukturfonds finanziert werden, der eigene Einnahmen aus der Lkw-Maut und aus einer neuen Pkw-Maut erhalten soll. Auch eine begrenzte Kreditermächtigung dieses Fonds sei möglich.