24. August 2020 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Schuldenbremse als Wahlkampfthema
Sympathie für Schulden oder vernünftige Wirtschaftspolitik?
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sieht die wirtschaftlichen Folgen des umfassenden Lockdowns zur Einhegung der Corona-Pandemie durch die staatlichen Hilfspakete erfolgreich begrenzt.
Die COVID-19-Pandemie führte in Rekordgeschwindigkeit zu massiven Schädigungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, die Weltwirtschaft rutschte in eine der tiefsten Rezessionen der Geschichte und zugleich erfolgen Kurskorrekturen an den Finanzmärkten. Auch wenn sich die Finanzmärkte bereits wieder deutlich erholt haben, werden die Folgen der Krise nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig zu spüren sein.
Olaf Scholz signalisiert Optimismus: Das Krisental habe die deutsche Wirtschaft hinter sich gelassen und es gehe kontinuierlich aufwärts. Deutschland sei Dank massiver Hilfsprogramme bislang gut durch die Krise gekommen, sagt der SPD-Politiker. Einige der Hilfsprogramme würden gar nicht im vollen Umfang genutzt, was auch ein positives Zeichen für die nächsten Monate sei.
Gleichwohl rechnet der Finanzminister fest damit, dass der Bund auch nächstes Jahr wegen hoher Belastungen durch die Coronavirus-Krise die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse nicht einhalten kann. Der Bund werde 2021 noch einmal von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen müssen. Wegen riesiger Hilfsprogramme und des Konjunkturpakets hat die große Koalition die Politik ausgeglichener Haushalte ausgesetzt. Der Finanzminister kalkuliert 2020 mit der Rekordsumme von 218,5 Mrd. Euro an zusätzlichen Schulden.
Diese Neuverschuldung erfordert den Rückgriff auf Ausnahmeregelungen, die die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ausdrücklich vorsieht. Die Schuldenbremse begrenzt die Nettoschuldenaufnahme des Bundes auf 0,35% des Bruttoinlandsprodukts. Diese Regelung konnte in den Jahren einer florierenden Wirtschaftskonjunktur seit 2014 eingehalten werden.
Neben einer Schuldentilgung führte die Politik der schwarzen Null zu einer deutlichen Absenkung der Schuldenquote. Die deutschen Staatsschulden sind im Jahr 2019 um 16 Mrd. Euro gesunken. Zum Jahresende betrugen sie 2,053 Bio. Euro. Die Schuldenquote – der Schuldenstand im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) – fiel von 61,9% Ende 2018 auf 59,8%. Das BIP-Wachstum trug hierzu 1,6 Prozentpunkte bei. Die Schuldenquote nahm damit zum siebten Mal in Folge ab. Zudem unterschritt sie erstmals seit 2002 wieder den Referenzwert des Maastricht-Vertrages von 60%.
Alle staatlichen Ebenen wiesen im Jahr 2019 Überschüsse aus. Der Bund nutzte diese zum Schuldenabbau. Die Länder bauten mit ihren Überschüssen dagegen Finanzvermögen auf, und die Verschuldung nahm hier zu. Auch die Gemeinden und die weitgehend schuldenfreien Sozialversicherungen verwendeten ihre Überschüsse vor allem, um Rücklagen weiter aufzustocken.
Der Bund konnte Überschüsse ausweisen – und trotz Belastungen durch die angewachsenen Flüchtlingsströme noch Reserven ansammeln.
Die Covid-19-Pandemie hat erstmals die Ausnahme von der Schuldenregelung erfordert. Die Bundesregierung hat die Etatplanung für 2021 bewusst in diesen Herbst geschoben, um klarer zu sehen, wie sich Pandemie und die Wirtschaftskrise entwickeln. Grundsätzlich kann bei entsprechenden Bedingungen im Bundestag erneut eine Aussetzung der Schuldenbremse beantragt werden.
Der Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat hat dieser Tage angedeutet, dass nach seine Einschätzung der Bund auch 2021 noch einmal die Ausnahmeregelung bei der Schuldenbremse in Anspruch nehmen muss. Auch wenn die Ankündigung in der Sache nicht wirklich überrascht – CDU und CSU reagierten überrascht, denn dieser Kurs war bislang offensichtlich nicht abgestimmt.
Die These von Scholz ist wenig überraschend, weil weder Rot noch Schwarz inmitten der Corona-Wirtschaftskrise die finanzpolitischen Zügel übermäßig anziehen wollen, nur um die Schuldenbremse einzuhalten. Denn wir stehen vor einem Wahljahr, in dem die politisch Verantwortlichen keine lahmende Wirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit oder viele Unternehmensinsolvenzen dulden wollen. Das Ende der Wirtschaftskrise hängt eng mit der Entwicklung der Pandemie zusammen. Wann es gelingt, das Virus unter Kontrolle zu bringen, ist offen.
Mittlerweile ist es auch finanzpolitischer Gemeinplatz, dass nicht in eine Krise hinein gespart werden soll. Ein weiterer Hintergrund der Überlegungen ist, dass die Rückkehr zu einer Politik der finanziellen Repression – wie sie in der Phase der Dominanz neoliberaler Politik praktiziert wurde – verteilungspolitische Konflikte entfesseln würde. Es geht mithin um eine politische Abwägung: Vor allem die konservativ-liberalen Kräfte drängen darauf, dass es eine Ausnahme bleiben müsse, die disziplinierenden Vorgaben für die Neuverschuldung auszusetzen.
Entscheidender Faktor für eine Trendwende in Richtung finanzieller Repression sind die Notenbanken. Aktuell erwerben die Zentralbanken weiterhin im großen Umfang Staatsanleihen, d.h. ein Großteil der neuen Schulden der Staaten wird auf die Bilanzen der Zentralbanken umgeleitet. Dies hat zur Folge, dass das Zinsniveau tief bleiben wird und Investoren zur Erreichung höherer Renditen noch stärker in risikoreiche Anlagen ausweichen müssen.
Die von den Zentralbanken bereitgestellte Liquidität wird wie in den letzten Jahren eine wichtige Stütze für risikobehaftete Anlagen wie Aktien oder Unternehmensanleihen bleiben. Strittig ist diese Politik, weil befürchtet wird, dass damit langfristig das Potenzial für höhere Inflationsraten ansteigt. Bei steigender Inflation reduziert sich die Schuldenlast, d.h. es liegt grundsätzlich im Interesse der Regierungen, dass die Teuerung ansteigt. Das ist jedoch nicht etwas, das direkt und ohne Kollateralschäden gesteuert werden kann.
Eine weitere Konsequenz der finanziellen Repression wäre eine Politik der Steuererhöhungen und der Erhöhung von Sozialabgaben. Grundsätzlich sind Steuererhöhungen Gift für die Wachstumsdynamik, weshalb diese erst bei einer ausreichenden Stabilisierung der konjunkturellen Lage in Angriff genommen werden dürften.
Mit seinen Haushaltsplänen für das kommende Jahr verärgert Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Union, bekommt aber Unterstützung von führenden Wirtschaftsexperten. CSU-Finanzexperte Hans Michelbach sagte, der SPD-Kanzlerkandidat bemühe sich nicht einmal um eine solide Haushaltspolitik. Ökonomen wie DIW-Chef Marcel Fratzscher und der Präsident des Münchener Ifo Instituts, Clemens Fuest, äußerten sich ganz anders. So sagte etwa Fuest: »Ich halte es für richtig, die Schuldenbremse für ein weiteres Jahr auszusetzen.«
Michelbach warf Scholz vor, bewusst die Verfassung zu missachten. Nötig sei ein deutliches Signal für eine Kehrtwende bei der Staatsverschuldung. Ähnlich äußerte sich der haushaltspolitische Sprecher der Union: »Die Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse darf nicht zum Dauerzustand werden«, sagte Eckhardt Rehberg. »Wir müssen schnellstmöglich zur regulären Schuldengrenze zurück.«
Scholz machte auf einer SPD-Veranstaltung deutlich, dass der Bund 2021 erneut die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aussetzen muss. Er verwies auf die anhaltend hohe Belastungen durch die Corona-Krise. »Klar ist: Auch im kommenden Jahr muss die Krisenbewältigung Vorrang vor Schuldenabbau und starren Sparregeln haben«, verteidigte der SPD-Fraktionsvize Achim Post den Finanzminister.
»Die Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind längst noch nicht überwunden. Wir brauchen auch weiterhin einen starken handlungsfähigen Staat, der in den wirtschaftlichen Wiederaufschwung investiert und einen verlässlichen sozialen Schutz sicherstellt.« Wer jetzt die Sparschraube anziehe, verschärfe die Krise zusätzlich.
Führende deutsche Wirtschaftsforscher signalisieren Unterstützung für Scholz und sein Vorhaben. Unausweichlich sei dieser Schritt zwar nicht, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Lars Feld. Da eine etwaige Erholung der Wirtschaft mit viel Unsicherheit verbunden sei, habe er Verständnis dafür, wenn der Bundestag die Ausnahmeregel für ein weiteres Jahr in Anspruch nimmt.
Ifo-Chef Fuest sagte, eine Rückkehr zur Schuldenbremse im nächsten Jahr würde bedeuten, Steuern zu erhöhen oder Ausgaben zu kürzen. »Das wäre angesichts der Krise kontraproduktiv.« Beide Wirtschaftsforscher warnen zugleich davor, die Ausnahmeregelung als Freibrief für eine dauerhafte Missachtung der Schuldenbremse zu nutzen. »Gemäß dem heutigen Kenntnisstand ist eine Rückkehr zur Regelschuldengrenze ab dem Jahr 2022 aber zwingend«, sagte Feld. Auch Fuest mahnte, die Bremse müsse wieder eingehalten werden, sobald die Krise ausgestanden sei.
DIW-Präsident Fratzscher sieht eine Rückkehr zur Schuldenbremse hingegen noch in weiter Ferne. »Ich halte eine Diskussion über die Schuldenbremse zu diesem Zeitpunkt für verfehlt, da dies das Vertrauen von Unternehmen und Bürgern und damit die Wirtschaft weiter schwächt.« Sinn und Zweck der Schuldenbremse sei es, dass der Staat in einer solchen Krise notfalls auch über mehrere Jahre die Wirtschaft und die Bürger*innen unterstützen könne.
Die gesellschaftlich-staatliche Mobilisierung zur Bekämpfung des Coronavirus und für die Sanierung der Wirtschaft wird also einhergehen mit einer heftigen politischen Auseinandersetzung um die monetären Staatsfinanzierung. Auch um die Zentralbanken in der Euro-Zone, den USA, Großbritannien und Japan werden diese Auseinandersetzungen keinen Bogen machen. In Deutschland zeichnet sich der eskalierende Konflikt um die Schuldenbremse schon ab und wird ein Thema des anlaufenden Wahlkampfes sein.