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6. April 2022 George Monbiot: Verbrechen und Strafe

Systeme organisierter Lügen

Für Menschen in Syrien, die unter den Angriffen des Kremls gelitten haben, müssen die Lügen des Kremls über die Ukraine schrecklich vertraut klingen.

Das Beharren darauf, die Opfer der Bombardierungen seien »Krisenakteure«, die Verbreitung von Unwahrheiten über chemische Waffen, die Rechtfertigung des Massenmords an der Zivilbevölkerung mit der Behauptung, jeder, der sich wehrt, sei ein »Nazi« (in der Ukraine) oder ein »Kopfabschneider« (in Syrien): Die Taktiken der Desinformation sind erprobt und verfeinert.

Diese organisierte Lüge hat die US-Linke mehr oder weniger zerstört und die europäische Linke schwer geschädigt. Wie der Aktivist Terry Burke 2019 dokumentierte [1], brach die bis dahin effektive linke Opposition gegen Donald Trump inmitten heftiger interner Auseinandersetzungen über Syrien und die russische Einmischung in die US-Politik zusammen, ausgelöst durch prominente Persönlichkeiten, die Kreml-Lügen wiederholten. Bei einigen von ihnen stellte sich heraus, dass sie von der russischen Regierung bezahlt worden waren.

Solche Lügen sind auch den Menschen in der Ukraine vertraut. Im Holodomor sind aufgrund Stalins Politik, mit der in den 1930er Jahren die Hungersnot verschärft worden ist, zwischen drei und fünf Millionen Menschen ums Leben gekommen sei. Damals behauptete der Kreml, die Bauern hätten reichlich Lebensmittel, würden sie aber verstecken. [2] In einigen Fällen hieß es sogar, sie hätten sich absichtlich zu Tode gehungert. Eine Methodik der Krisen-Inszenierung – anders lässt sich das kaum bezeichnen.

Die derzeitige russische Desinformationsmaschinerie wurde weithin für das verantwortlich gemacht, was wir heute als »epistemische Krise« [3] bezeichnen:  den Zusammenbruch einer gemeinsamen Akzeptanz der Mittel, mit denen die Wahrheit erkannt wird.

Wir sollten die Lügen des Kremls anfechten und entlarven. Aber die Behauptung, der öffentliche Angriff auf die Wahrheit sei neu oder eine russische Besonderheit, ist ebenfalls eine Desinformation. Über Generationen hinweg gab es in Ländern wie dem Vereinigten Königreich keine »epistemische Krise« - aber das lag nicht daran, dass wir eine gemeinsame Verpflichtung zur Wahrheit hatten. Das lag daran, dass wir uns gemeinsam für unverschämte Lügen einsetzten.

Da ich den Holodomor erwähnt habe, lassen Sie uns einen Blick auf eine andere verschärfte Hungersnot werfen, und zwar auf jene in Bengalen in den Jahren 1943-1944. Etwa drei Millionen Menschen starben. Wie in der Ukraine machten natürliche und politische Ereignisse die Menschen anfällig für den Hunger. Aber auch hier verwandelte die Regierungspolitik die Krise in eine Katastrophe.

Untersuchungen des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Utsa Patnaik [4] legen nahe, dass die Inflation, die die Nahrungsmittel für die Armen unerschwinglich machte, im Rahmen einer von John Maynard Keynes, dem Helden des britischen Liberalismus, konzipierten Politik absichtlich herbeigeführt wurde. Die Kolonialbehörden setzten die Inflation ein, um, wie Keynes bemerkte, »den Konsum der Armen zu reduzieren« [6], um den Reichtum zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen zu gewinnen. Bis zur Veröffentlichung von Patnaiks Forschungsarbeit im Jahr 2018 war uns nicht bewusst, in welchem Ausmaß die Hungersnot in Bengalen konstruiert war. Die britische Vertuschung war effektiver als jene Stalins.

Die vom Vizekönig von Indien, Lord Lytton, in den 1870er Jahren geplant verursachten Hungersnöte sind noch weniger bekannt, obwohl sie laut Mike Davis' Buch Late Victorian Holocausts [6] zwischen 12 und 29 Millionen Menschen töteten.

Erst durch das 2005 erschienene Buch von Caroline Elkins, Britain's Gulag [7], wurde bekannt, dass das Vereinigte Königreich in den 1950er Jahren in Kenia ein System von Konzentrationslagern und »eingeschlossenen Dörfern« betrieb, in die fast die gesamte Kikuyu-Bevölkerung getrieben wurde. Viele Tausende wurden gefoltert und ermordet oder starben an Hunger und Krankheiten. Fast alle Dokumente, die diese großen Verbrechen dokumentieren, wurden von der britischen Regierung systematisch verbrannt oder in beschwerten Kisten im Meer versenkt und durch gefälschte Akten ersetzt. Die Aufzeichnungen über die kolonialen Gräueltaten der Briten in Malaya, im Jemen, in Aden, auf Zypern und den Chagos-Inseln wurden auf ähnliche Weise vernichtet.

So wie der Kreml eine Desinformationskampagne benötigt, um seine imperiale Aggression in der Ukraine zu rechtfertigen, brauchte auch das britische Empire ein System umfassender Lügen. Es wurden nicht nur unsere imperialen Verbrechen aus den Akten gestrichen, sondern eine ganze Ideologie - der Rassismus - wurde konstruiert, um das Töten, Plündern und Versklaven anderer Menschen zu rechtfertigen. [8]

Am Ende seiner ausgezeichneten BBC-Podcast-Serie über QAnon, The Coming Storm, beklagte Gabriel Gatehouse den Verlust eines »gemeinsamen Bezugsrahmens« und eines »gemeinsamen Realitätssinns«. Ich stimme ihm zu, was die Gefahr von Verschwörungstheorien angeht. Doch wir sollten uns vor Augen halten, dass der gemeinsame Bezugsrahmen und der gemeinsame Sinn für Realität, auf die wir uns bisher gestützt haben, auf Lügen aufgebaut waren.

Fast alle in Großbritannien glaubten, dass das Empire eine Kraft des Guten gewesen wäre und dass wir die heilige Pflicht hätten - die »Bürde des weißen Mannes« -, die von uns als »minderwertig« und »wild« bezeichneten Rassen entweder zu vernichten oder zu »zivilisieren«. Fast alle glaubten an die Lügen des nationalen Heldentums, die Lügen der Krone, die Lügen der Kirche und die Lügen zur gesellschaftlichen Ordnung.

Aber die meisten von uns haben diese Zeit hinter sich gelassen, nicht wahr? Wir sind heute skeptischer und weniger vertrauensselig. Die meisten von uns erkennen Unsinn als Unsinn. Oder etwa doch nicht? Wie erklären wir uns die Tatsache, dass fast alle Personen des öffentlichen Lebens die gleichen absurden Überzeugungen vertreten?

Lassen wir einmal die wilden Verschwörungstheorien der extremen Rechten beiseite, auch wenn sie jetzt beginnen, die Mainstream-Rechten zu infizieren. Konzentrieren wir uns auf den »akzeptablen« Bereich der politischen Meinung:

Nahezu jede und jeder, die oder der in den Medien auftritt, und zwar über fast das gesamte politische Spektrum hinweg, scheint zu akzeptieren, dass das Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten unbegrenzt fortgesetzt werden kann und sollte. Fast alle sind der Meinung, dass wir nur dann Maßnahmen zum Schutz des Lebens auf der Erde ergreifen sollten, wenn es kosteneffektiv ist. Selbst dann sollten wir es vermeiden, die Gewinne der alten Industrien zu gefährden. Sie scheinen zu glauben, dass etwas, das sie »die Wirtschaft« nennen, Vorrang vor unseren Lebenserhaltungssystemen hat.

Sie glauben auch, dass die ungehinderte Anhäufung von enormem Reichtum durch einige wenige Menschen irgendwie akzeptabel ist. Sie glauben, dass es undenkbar ist, ein progressiv ausgestaltetes Steuersystem umzusetzen, mit dem der Kreislauf der Bereicherung durchbrochen und der extreme Reichtum umverteilt werden kann.

Sie glauben, dass es in Ordnung ist, einer Handvoll von Milliardären mit Steuersitz in Offshore-Finanzplätzen zu erlauben, die Medien zu besitzen, die politische Agenda zu bestimmen und uns zu sagen, wo unsere besten Interessen liegen. Sie glauben, dass wir einem System, das wir Kapitalismus nennen, bedingungslose Treue schwören sollten, obwohl sie nicht in der Lage sind, es zu definieren, geschweige denn vorherzusagen, wohin es sich entwickeln könnte.

Es bedarf keines Terrors oder der Folter, um die Menschen dazu zu bringen, sich diesen verrückten Überzeugungen anzuschließen. Irgendwie hat unser System der organisierten Lüge eine ganze Klasse von Politikern, Beamten, Medienkommentatoren, Kulturschaffenden, Akademikern und Intellektuellen hervorgebracht, die dazu nicken.

Wenn ich die Berichte über den Terror des 20. Jahrhunderts lese, habe ich manchmal den Eindruck, dass es unter den Intellektuellen, die sich totalitären Regimen entgegenstellten, mehr Dissens gab als in unserem Zeitalter der Freiheit und der Wahlmöglichkeiten.

Wir haben in der Tat eine Wahrheitskrise. Aber sie ist viel tiefer und umfassender, als wir zugeben wollen. Die vielleicht größte Lüge von allen ist, dass die Krise auf die Unwahrheiten des Kremls und die Verschwörungstheorien der extremen Rechten beschränkt ist. Im Gegenteil, sie ist systemisch und nahezu universell.

George Monbiot ist Kolumnist des Guardian und Autor zahlreicher Bücher. Ende Mai erscheint im Verlag Allan Lane sein Buch Regenesis. Feeding the World without Devouring the Planet (eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Die wahren Wunder der Erde. Ernährung und Landwirtschaft neu denken für Oktober 2022 angekündigt). Sein hier dokumentierter Kurzessay erschien zuerst am 30.3.2022 im Guardian unter dem Titel Putin exploits the lie machine but didn’t invent it. British history is also full of untruths (Übersetzung: Hinrich Kuhls). Der Cartoon »Prosecute ALL War Crimes« ist von Steve Bell gezeichnet und erschien im Guardian vom 4.4.2022.

Anmerkungen:

[1] Terry Burke: ›Russiagate‹, Syria and the Left, in: Countervortex, 27.6.2019.
[2] Patrick J. Kiger: How Joseph Stalin Starved Millions in the Ukrainian Famine, in: HISTORY, 16.4.2019.
[3] David Roberts: America is facing an epistemic crisis, in: Vox, 2.11.2017.
[4] Utsa Patnaik: Profit Inflation, Keynes and the Holocaust in Bengal, 1943–44, in: Economic & Political Weekly, 20.10.2018 (vol. 53, issue 42).
[5] Zitiert nach Jason Hickel: How British colonizers caused the Bengal famine, in: New International, January-February 2022 (21.1.2022).
[6] Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin 2004: Assoziation A (zuerst London 2001: Verso; Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World).
[7] Caroline Elkins: Britain's Caroline Gulag. The Brutal End of Empire in Kenya, London 2005: Pimlico. Vgl. hierzu: Marc Perry: Uncovering the brutal truth about the British empire, in: Guardian, 18.8.2016.
[8] Vgl. hierzu Hajo Funke: Black Lives Matter in Deutschland. George Floyd und die Diffamierung von Achille Mbembes als Antisemit – eine Streitschrift über (post)koloniale Konflikte. Hamburg 2021: VSA: Verlag Hamburg (Anm. d. Übers.).

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