16. Juli 2020 Hans-Jürgen Urban: Warum eine sozial-ökologische Reformallianz eine unverzichtbare, aber schwierige Angelegenheit bleibt
Transformation als Bewährungsprobe
In den Verhandlungen über das Konjunkturprogramm zur Revitalisierung der Wirtschaft in der Corona-Krise kamen diverse Interessenlagen zum Vorschein. Dabei eskalierte auch die Auseinandersetzung darüber, an welche Konditionen die Förderung der Automobilindustrie gebunden sein sollte, zwischen dem IG Metall-Vorsitzenden und Betriebsräten großer Autokonzerne auf der einen, den SPD-Vorsitzenden und Umweltverbänden auf der anderen Seite. Hans-Jürgen Urban geht diesem Konflikt auf den Grund, mit dem Ziel, das wechselseitige Verständnis von sozial-ökologischen Transformationsstrategien zu vertiefen und Brüche zwischen Gewerkschaft und Ökologiebewegung zu vermeiden. Der Beitrag erscheint in der September-Ausgabe von Sozialismus.de. Wir veröffentlichen ihn aus aktuellen Gründen vorab.
Die angesehene Wochenzeitung »Die Zeit« publizierte im Mai 2020 ein Gespräch mit Saskia Sassen und Richard Sennett über ihre Leben unter Corona-Bedingungen. Interessant ist diese Gesprächsrunde nicht nur wegen ihrer prominenten Teilnehmer*innen. Zweifelsohne gehören die Interviewten zur Prominenz des globalen intellektuellen Diskurses. Doch die Leser*innen erfahren durch dieses Gespräch mehr als die Interviewer fragten. Es bringt, wohl gegen die Intention der Sprechenden, einen Widerspruch des sozialen Lebens in der Pandemie zum Ausdruck. Als die Zeit-Redakteure wissen wollten: »Saskia Sassen und Richard Sennett, wie haben Sie die vergangenen Wochen der Isolation verbracht?«, antwortete die Erstgenannte: »Es war ehrlich gesagt himmlisch«. Und Richard Sennett fügte hinzu: »Wir haben jeden Tag lange Spaziergänge durch die verlassenen Straßen von London gemacht.«
Wenig später traf die Erlebnisschilderung himmlischer Spaziergänge auf die soziale Realität der Anderen. Sie hielt durch die Interviewer in Form irdischer Zahlen über die Krisenfolgen Einzug ins Gespräch: »Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass weltweit im April Arbeitsstunden verloren gegangen sind, die 300 Millionen Jobs entsprechen. In den USA sind bereits 40 Millionen Menschen arbeitslos geworden, in Europa 60 Millionen ohne Job oder in Kurzarbeit, und zumindest in den USA und Großbritannien hat das unmittelbare Auswirkung auf die Frage, wer sich seine Miete, sein Haus noch leisten kann.«[1]
Nun sind Saskia Sassen und Richard Sennett nicht nur profilierte und vielfach geehrte Analytiker*innen der Gegenwart. Sie haben in ihren wissenschaftlichen Arbeiten und politischen Interventionen auch immer wieder glaubhaft gemacht, dass ihr Engagement einer gerechteren Welt gilt und ihnen soziale Gesellschaftsspaltungen nicht einerlei sind. Das fast schon obszön anmutende Lob der Annehmlichkeiten in der Corona-Krise dürfte daher weniger die elitäre Ignoranz eines privilegierten Akademikerlebens zum Ausdruck bringen. Vielmehr spiegelt es den realen Kontrast zwischen der Lebenssituation einer materiell gesicherten Elite und der Prekarisierung der Lebenslagen wachsender Bevölkerungsteile in den krisengeschüttelten kapitalistischen Gesellschaften wider. Dieser Kontrast prägt auch in der Corona-Krise die Wahrnehmungsmuster, Bedürfnisse und politischen Präferenzen der sozialen Klassen und Akteure. Ebenfalls geht er in Strategien ihrer Interessenorganisationen ein. Dass sich daraus für heterogene Bewegungen immer wieder innere Spannungen ergeben können, aus denen schnell bündnispolitische Bewährungsproben werden, ist wohl unvermeidlich. Dies umso stärker in Allianzen, in denen Repräsentant*innen aus unterschiedlichen Milieus und Statuslagen an gemeinsamen politischen Zielen arbeiten.
Der reale oder empfundene Grad an sozialer Sicherheit oder Prekarität verschafft sich mitunter auch im Blick auf die Gewichtung von Beschäftigungs- und Ökologiefragen Geltung. Ohne direkte Krisenbetroffenheit ist die Vernachlässigung sozialer Folgerisiken ökologiepolitischer Interventionen naheliegender. Und dass Menschen, deren Arbeitsplätze in einer Jahrhundertkrise unmittelbar gefährdet sind, das Hemd der kurzfristigen Arbeitsplatzsicherung mitunter näher ist als der Rock des mittelfristigen Umweltschutzes, mag angesichts der zeitlichen Nähe der Klimakatastrophe unsachgemäß sein. Doch das sollte eher Anlass zur Weiterentwicklung sozial-ökologischer Transformationsstrategien als zu moralischer Verdammung sein. Ein sachlicher, auch soziale Risiken und Interessenlagen (selbst-)kritisch reflektierender Blick auf bündnispolitische Fallstricke könnte helfen, sozial-ökologischen Allianzen auch in schwierigen Phasen die Perspektive gemeinsamer Arbeit zu erhalten.
1. Leben in getrennten Welten
Die soziale Kluft zwischen den Klassen und Schichten gehört zum Kapitalismus wie das Wasser zum Fisch, zum neoliberalen Finanzmarktkapitalismus allzumal. Sie entspringt seiner Eigentumsordnung und seinen ökonomischen Mechanismen, durch die Einkommen aus Kapitalbesitz jene aus Arbeit übersteigen, was seit Jahrzehnten durch zumeist meritokratische Ideologie abgesichert und gerechtfertigt wird.[2]
Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Von ihm erschien 2019 im VSA: Verlag »Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus«.
[1] »Das Virus setzt auf erstaunliche Weise neu Energie frei«, Interview von Saskia Sassen und Richard Sennett durch Götz Hamann und John F. Jungclausen, in: Die Zeit, Nr. 23 vom 28. Mai 2020, S. 21.
[2] Dazu die epochalen Arbeiten von Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014 sowie ders., Kapital und Ideologie. München 2020.