26. Dezember 2024 Bernhard Sander: Frankreich hat nicht nur ein Schuldenproblem
Trübe Aussichten in Paris
Staatspräsident Emmanuel Macron mag die Wiedererrichtung der Kirche Notre Dame als strahlende Krönung seines Amtes in der Nachfolge Kaiser Napoléons verstanden haben, aber die Zukunft seines Landes strahlt nicht im Mindesten.
Mit der Berufung von François Bayrou als Ministerpräsidenten wird Macron auch das neue Jahr in Frankreich nicht politisch stabilisieren können. »Die Schulden sind unser Feind«. Im Jahr 2007 machte Bayrou das Thema zum Kern seiner erfolglosen Kampagne für den Elysée-Palast. 17 Jahre später ist der Gegner nicht besiegt. Von 1,2 Billionen Euro im Jahr 2007 ist die französische Staatsverschuldung bis zum Ende des dritten Quartals 2024 auf 3,303 Billionen Euro gestiegen, was 113,7 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht, wie das Nationale Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien (Insee) am 20. Dezember, bekannt gab.
Das Mitte-Rechts-Kabinett, das Bayrou nach Abstimmung mit dem Staatspräsidenten und den Rechtsfraktionen vorstellte, unterscheidet sich inhaltlich und personell kaum von dem Aufgebot seines Vorgängers, auch wenn es abgehalfterte PS-Figuren wie Manuel Valls, Ex-Premier unter FrançoisHollande, und Wiedergänger der Macronie wie die Ex-Ministerpräsidentin Elisabeth Borne, einbezieht.[1] Die rechten Fürsten verweigern nach wie vor den Eintritt in ein Kabinett von der Gnade Marine Le Pens, weil sie damit nicht nur ihre Chance bei der Präsidentschaftswahl 2027 riskieren sondern auch weil die wirtschaftliche Lage des Landes – nicht zuletzt aufgrund der Blockadehaltung ihrer Fraktionen – prekär bleibt.
Das halbstaatliche Forschungsinstitut OFCE[2] hatte im Oktober eine Prognose über die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung veröffentlicht, die auch zur Grundlage des Haushaltsentwurfs der Regierung von Michel Barnier wurde.
Das Jahr 2023 endete mit einem BIP-Wachstum in Frankreich von 1,1% laut der jüngsten Insee-Rechnung (vom 30.8.2024), einem Tempo, das über dem Durchschnitt des Euroraums (0,5%) lag. Dank dieser Dynamik konnte die französische Wirtschaft seit 2019, dem letzten Quartal vor der Covid-Krise, ihren Aktivitätsrückstand gegenüber dem Euroraum aufholen. So lag das französische BIP Mitte 2024 um 3,8% über dem Vorkrisenniveau, was sehr nahe am Durchschnitt der Eurozone (4,3%), deutlich über dem von Deutschland (0,2%), aber weit hinter den USA (12,5%) lag.
Das französische Wachstum könnte 2024 im Jahresdurchschnitt 1,1% betragen. Diese Aufwärtskorrektur ist neben der Neudefinition des BIP, die sich mit etwa +0,3% auswirkt, auf folgende Faktoren zurückzuführen: Obwohl das Wachstum in den verschiedenen Haushaltsjahren kaum revidiert wurde und dem vom Finanzministerium prognostizierten sehr nahekommen wird, hat sich das öffentliche Defizit gegenüber der Prognose stark verschlechtert (aber die Gesamtnachfrage stabilisiert). Das Defizit wird 2024 – so das Herbst-Gutachten des OFCE – voraussichtlich 6,1% betragen, gegenüber 5,3% im Stabilitätsprogramm vom Frühjahr dieses Jahres (und 4,4% im Haushaltsentwurf PLF 2024), was auf rückgängig gemachte Haushaltsmaßnahmen, einen erheblichen Anstieg der Ausgaben der Gebietskörperschaften und der Steuerbemessungsgrundlagen zurückzuführen ist.
Tabelle 1
Da der Haushaltsentwurf nicht die Zustimmung der Mehrheit in der Nationalversammlung fand, wurde zum Jahreswechsel statt des Etats im »Finanzgesetz« (PLF 2025) ein »Sondergesetz« (LS) verabschiedet – bei Enthaltung des LFI- , das sowohl volkswirtschaftlich als auch verteilungspolitisch Folgen hat.
Um die Kontinuität des Staates, das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Dienste, die Möglichkeit der Steuerbeitreibung und die Verwendung von Schulden für den Staat und die öffentliche Verwaltung zu gewährleisten, wurde am 11.12.2024 von der Nationalversammlung und am 16.12.2024 vom Senat dieses Sondergesetz »Artikel 45« verabschiedet und am 21.12.2024 verkündet.
Dieses Rechtsinstrument erlaubt es der Exekutive nicht, die Wirtschaftspolitik neuauszurichten, und entbindet die Regierung auch nicht davon, zu Beginn des Jahres 2025 einen neuen Haushalt vorzulegen sowie von den Versammlungen beider Kammern verabschieden zu lassen. Außerdem muss ein solcher Haushalt, zumindest was die Einnahmenseite betrifft, schnell realisiert werden, wenn er nicht mit dem Grundsatz des Rückwirkungsverbots der Steuer in Konflikt geraten soll. Beschlüsse von Parlament und Vorgängerregierungen – vor allem die globalen Minderausgaben der Kabinette Borne und Attal – bleiben allerdings wirksam.
Der Impact ist aufgrund der aktuellen politischen Instabilität schwer vorherzusagen. Frankreich befindet sich somit in einer Situation historischer Unsicherheit in Bezug auf seine Wirtschaftspolitik, die sich auf die Wirtschaftstätigkeit auswirkt.
Das OFCE hat die wirtschaftlichen und budgetären Folgen dieses LS-Sondergesetzes für das Jahr 2025 im Vergleich zum PLF-Finanzgesetz 2025 analysiert, unter der Annahme, dass es im Laufe des Jahres zu keiner Verabschiedung eines Haushaltsgesetzes kommt. Eine Beibehaltung des Sondergesetzes im Jahr 2025 würde eine Reihe von Problemen aufwerfen und das Risiko einer fiskalischen Klippe ohne politische Entscheidungen (ähnlich dem Shutdown in den USA) nicht ausschließen. Das Sondergesetz verhindert sowohl die geplanten Mehreinnahmen aus befristeten Sondersteuern für Reiche und Konzerne als auch Ausgabenkürzungen, die vorwiegend die ärmeren Bevölkerungsteile getroffen hätten.
Konjunkturelle Auswirkungen
Das OFCE stellt fest, die Wirkungen auf das BIP bei dem gescheiterten Etat ungleich höher geworden wären:[3]
Tabelle 2
Zunächst einmal werden die Unternehmen einer befristeten Sonderbesteuerung um mehr als 20 Mrd. EUR im Jahr 2025 (0,7 Prozentpunkte des BIP) entgehen, insbesondere durch die Streichung des außerordentlichen Beitrags für Großunternehmen (8 Mrd. EUR) oder die Neuprofilierung der Befreiungen von den Arbeitgeberbeiträgen (4 Mrd. EUR). Was die öffentlichen Ausgaben anbelangt, so werden die Beihilfen für Unternehmen, die Umweltbeihilfen und die Beihilfen für die Einstellung von Auszubildenden im Sondergesetz nicht gekürzt (6,5 Mrd. EUR), so dass sich die Haushaltsanstrengungen auf andere Posten der Staatsausgaben konzentrieren müssen (insbesondere das öffentliche Auftragswesen und die Investitionen, in geringerem Maße die Lohnsumme).
Verteilungsfragen
Der Haushaltsentwurf der konservativen Regierung hätte die ärmsten Haushalte am stärksten getroffen. Die untersten zwei Fünftel der Einkommen hätten etwa 1% ihres verfügbaren Einkommens verloren. Mit dem Sondergesetz werden es weit weniger sein (0,2 bis- 0,3%). Die Mittelschichten trifft der gescheiterte Barnier-Entwurf vergleichsweise ebenfalls hart (rd. - 0,7% ihres verfügbaren Einkommens), während das obere Drittel der Einkommen nur etwa 0,7 bis 0,5 % verliert. Eine Ausnahme bilden die obersten 5% der Haushalte mit Einbußen von 1,8% des verfügbaren Einkommens; doch sollte das in diesen Klassen kaum spürbar sein.
Faktisch wird es nun mit dem Sondergesetz so sein, dass die Belastung von unten nach oben kontinuierlich ansteigt, und zwar durchgehend in einem geringeren Belastungsgrad (von -0,2 bis -0,7% der Einkommen), als es der gescheiterte Etat vorsah. Lediglich das obere Fünftel der Einkommen wird eine sinkende Belastung notieren können.
Der Effekt basiert im Wesentlichen auf dem Einfrieren der steuerlichen Freibetragsgrenzen und auf dem teilweisen Fortbestand des französischen Energiepreisdeckels. Mit der Streichung des PLF/SS entfallen andererseits die erwarteten Sparmaßnahmen bei Arzneimitteln, der Zuzahlung oder den Tagegeldern. Schließlich können Sonderbeihilfen für Landwirte oder Neukaledonien (ein Übersee-Département das seit Monaten wegen der Preissteigerungen in Aufruhr ist) für 2025 nicht aktiviert werden, wenn kein Finanzgesetz vorliegt.
Neben den Rentnern sind die »Gewinner« an der Spitze der Verteilung des Lebensstandards zu finden. Der Verzicht auf die Schaffung einer differenzierten Sondersteuer für hohe Einkommen dürfte nämlich das verfügbare Einkommen der Haushalte der wohlhabendsten 5% um durchschnittlich rund 1.300 Euro pro Haushalt profitieren. Dies ist eine ungewollte Folge des NFP-Votums gegen Barniers Haushalt.
Verschuldungslage
Barnier wollte mit seinem Haushalt ca. 60 Mrd. Euro Konsolidierung induzieren, ca. ein Drittel durch Steuererhöhungen und zwei Drittel durch Sozialkürzungen und Mehrbelastungen der privaten Haushalte. Da das nun nicht möglich ist und das Sondergesetz lediglich den alten Haushalt fortschreibt, wird sich die Schere zwischen staatlichen Einnahmen und Ausgaben natürlich weiter öffnen.
Unter der Annahme, dass der Misstrauensantrag und das Sondergesetz keine negativen Auswirkungen auf das Wachstum haben (Anstieg der Risikoprämien und der Refinanzierungskosten, erhöhte Unsicherheit und Vorsorgeverhalten von Unternehmen und Haushalten, die zu weniger Investitionen, Einstellungen und mehr Ersparnissen führen), würde das öffentliche Defizit, das vom OFCE mit dem regulären Haushaltsgesetz bei -5,3% des BIP erwartet wurde, auf -6,1 % ansteigen – trotz eines höheren BIP-Wachstums (von 0,8% auf 1,4%). Würde man hingegen den für 2025 erwarteten Wachstumsüberschuss aufgrund der weniger negativen Auswirkungen der Fiskalpolitik durch die oben genannten negativen Effekte ausgleichen müssen, würde das öffentliche Defizit bei -6,4 Prozentpunkten des BIP liegen, bei einem Wachstum von 0,8% im Jahr 2025. Ohne neue Maßnahmen dürfte das Defizit daher im Jahr 2025 zwischen -6,1% und -6,4 % des BIP liegen.
Tabelle 3: Öffentliches Defizit und öffentlicher Schuldenstand im Jahr 2025 unter den verschiedenen Szenarien
Quelle: RESF des PLF 2025, OFCE-Berechnungen
Neben den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte (s.o.) könnten weitere Belastungen das LS und damit die Verschuldungs-Prognosen zur Makulatur werden lassen. Da aufgrund der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens der EU mit MERCOSUR wird über kurz oder lang zur Besänftigung der betroffenen Landwirte und Agrarindustrie (Biotreibstoffe) eine größere Summe den Haushalt belasten; zugesagt und vom Parlament beschlossen waren bereits etwa 0,5 Mrd. Euro.
Die Wiederaufbauhilfe für das von einem tropischen Wirbelsturm verwüstete Départment Mayotte (bei Madagaskar), wo es derzeit nur noch 10% der Behausungen, noch nicht einmal mehr ausreichend Trinkwasser oder Krankenhäuser gibt und sich ca. 300.000 Illegale aufhalten, dürfte im ersten Schritt 0,5 Mrd. Euro kosten. Laut Bayrou handelt es sich um die »wahrscheinlich schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte Frankreichs seit mehreren Jahrhunderten«. Die Beiträge zur Aufrechterhaltung der ukrainischen Front gegen Russland bzw. einer »Friedensmission« kommen hinzu, von eskalierendem NATO-Zugriff auf die nationale Wertschöpfung ganz zu schweigen.
Nachdem die Verschuldung des Staates, der Gebietskörperschaften und der Sozialversicherung innerhalb von drei Monaten um 71,7 Milliarden Euro gestiegen ist, dürfte sie noch mindestens fünf Jahre lang weiter steigen, so Moody's kurz vor Weihnachten.
Die Modellrechnungen des OFCE drohen schon jetzt im Papierkorb zu landen. Das öffentliche Defizit wird nicht wie erhofft auf 5% des BIP sinken, sondern den verschiedenen Projektionen zufolge zwischen 5,5% und 7% betragen, was die Aufnahme von Krediten in noch größerem Umfang erforderlich machen wird. Antoine Deruennes, Generaldirektor der Agence France Trésor, die für den Verkauf der französischen Schulden an Investoren zuständig ist, kündigte am Donnerstag an, dass »unser Programm für 2025 Emissionen in Höhe von 300 Milliarden Euro vorsieht«, d.h. 15 Milliarden Euro mehr als im Jahr 2024.[4] In dem geplatzten Haushaltsentwurf hatte der Staat geplant, rund 140 Milliarden Euro mehr auszugeben, als er einnehmen wollte.
Der erneute Anstieg der französischen Staatsschuld wird die EU-Kommission auf den Plan rufen, da auch die zweitstärkste Volkswirtschaft der Union nicht als schlechtes Vorbild für andere Defizitsünder auftreten darf. Die erste Jahreshälfte wird für die Nationalversammlung wieder turbulent werden, da Macron das Parlament erst zur Jahresmitte erneut auflösen kann.
Anmerkungen
[1] Symbolisch für das macronistische Politikmodell ist die Berufung des neuen Ministers für Wirtschaft und Finanzen. Éric Lombard ist Banker, Versicherer und Absolvent der Elite-Hochschule HEC. Von 2004 bis 2013 leitete er BNP Paribas Cardif, bevor er von 2013 bis 2017 Generaldirektor der französischen Niederlassung des Versicherers Generali wurde. Als linksgerichteter Unternehmer war er von 1991 bis 1993 auch Ministerialberater von Michel Sapin (PS). Und er war eine der Säulen von Les Gracques, einem Think Tank mit sozialliberalen Werten, dessen Weggefährte Emmanuel Macron war. 2017 wurde er von Macron vorgeschlagen, die Leitung der Caisse des dépôts et consignations zu übernehmen, die er seither leitet.
[2] Das Observatoire français des conjonctures économiques (OFCE) ist eine unabhängige französische Organisation für Forschung, Prognose und Bewertung der öffentlichen Politik innerhalb der Fondation nationale des sciences politiques (Institut d'études politiques de Paris). Die Darstellung folgt den Berechnungen des OFCE: Après la censure : impact économique et budgétaire de la Loi spéciale pour 2025 – Prévision de l'OFCE, automne 2024.
[3] Die öffentlichen Ausgaben werden auf der Grundlage des potenziellen BIP-Wachstums berechnet (Volumen 1,3% im Jahr 2025) Quelle: OFCE-Berechnungen.
[4] www.lemonde.fr/politique/article/2024/12/20/3-303-milliards-d-euros-un-nouveau-sommet-pour-la-dette-francaise_6458550_823448.html.