26. Dezember 2023 Redaktion Sozialismus.de: Starke Verluste und Zunahme von Flüchtlingen
Ukraine in dramatischer Lage
Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland inzwischen den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Russische Truppen versuchen mit schwerem Artilleriebeschuss, Luftangriffen und Bodentruppen, Teile des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Die gesamte Ukraine befindet sich seitdem im Kriegszustand.
Eine entscheidende Wende hatte sich die politisch-militärische Führung der Ukraine von der sogenannten Frühjahrsoffensive dieses Jahres versprochen. Doch trotz Ausweitung der westlichen Militärhilfe ist dieser Gegenschlag steckengeblieben. Der Bodenkrieg habe sich festgefahren – das räumt auch der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj ein und verlangt einen militärischen Neustart. Nur ein Technologiesprung könne einen Ausweg aus diesem Stellungskrieg öffnen, schrieb der General in einem Beitrag für die britische Zeitschrift »The Economist«. »Ein Stellungskrieg dauert lange und birgt enorme Risiken für die Streitkräfte der Ukraine und für den Staat.« Stillstand auf dem Schlachtfeld helfe nur Russland, die Verluste seiner Armee auszugleichen.
Nach dem Jahr der Enttäuschungen müssen die Ukraine, die USA und die übrigen NATO-Partner eine neue Strategie für 2024 finden, wenn sie den proklamierten Ansprüchen gerecht werden wollen. Die Ausgangslage ist ganz anders als vor einem Jahr. Damals hatte die Ukraine die russischen Truppen an den meisten Frontabschnitten in die Defensive gedrängt. Die Befreiung von Gebieten im Nordosten und im Süden des Landes sowie Krisenanzeichen innerhalb der russischen Armee ließen Anfang 2023 einen wirksamen Gegenschlag möglich erscheinen.
Im Zusammenhang mit einer Frühjahrsoffensive erreichte die westliche Militärhilfe – wenn auch teils zögerlich – neue Dimensionen: Deutschland, die USA und weitere NATO-Staaten hatten sich entschlossen, der Ukraine erstmals westliche Kampf- und Schützenpanzer zu liefern. Neu aufgebaute ukrainische Kampfbrigaden sollten mithilfe westlicher Waffen befähigt werden, einen Durchbruch zu erzwingen. Ein erfolgreicher Vorstoß nach Süden in Richtung Asowsches Meer und Krim sollte das Putin-Regime zwingen, über ein Ende des Krieges zu verhandeln.
Diese Gegenoffensive ist gescheitert, und auch das Potenzial für ein neues Vorrücken der Ukraine ist nicht gegeben – weder in der Armee noch in der kriegsgeschädigten Bevölkerung, aber auch nicht bei dem Großteil der westlichen »Wertegemeinschaft«. Die Truppen sind erschöpft, und es mangelt an Munition. Dennoch gehe es einmal mal darum, so der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, auf dem Schlachtfeld eine Situation herbeizuführen, in der »Putin erkennt, er kann diesen Krieg nicht gewinnen, und deshalb an den Verhandlungstisch kommt«. Das Jahr 2024 soll deshalb im Zeichen der Verteidigung und des Sammelns neuer Kräfte stehen. »Hold and build« – Halten und Aufbauen – nannten amerikanische Militärvertreter diese Strategie in der »New York Times«.
Den amerikanischen Waffen ist es zu einem wesentlichen Teil zu verdanken, dass die Ukraine die Invasion vorerst abwehren und mehr als die Hälfte der 2022 besetzten Gebiete zurückerobern konnten. Aber ohne fortgesetzte Militärhilfe stehen die Truppen Kiews auf verlorenem Posten. Bereits jetzt müssen sie ihre Munition rationieren und sehen sich zur Änderung ihrer Strategie gezwungen. Außerdem stockt die Militärhilfe aus den USA und der EU.
Seit mehr als zwei Monaten blockiert etwa der amerikanische Kongress jegliche weitere Militär- und Finanzhilfe an die Ukraine. Durch ein Veto von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán liegt auch eine weitere Unterstützung durch die EU auf Eis. Diese hat die vorerst letzte Hilfszahlung angekündigt, die 1,5 Mrd. Euro beträgt und Teil des 18 Mrd. Euro schweren Programms des laufenden Jahres ist. Wie es mit der finanziellen Unterstützung weitergeht, ist unklar. Ohne erneute erneut umfangreiche Militärhilfe wird die Ukraine 2024 noch stärker unter Druck geraten.
Russlands Präsident und die Regierung fühlen sich auf der Siegerstraße und sprechen offener denn je von einer Eroberung der gesamten Ukraine. Wladimir Putin hat von Anfang an auf eine Ermüdung des Westens gesetzt und sieht sich nun bestärkt. »Wenn der Ukraine die Munition ausgeht«, sagte er diesen Herbst, »wird sie nur noch eine Woche zu leben haben«.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht sich infolge des gescheiterten Projekts »Frühjahrsoffensive« unter Druck. Der lange stets demonstrativ siegesgewisse Ukrainer wirkt nicht mehr unantastbar wie in den ersten Monaten des Krieges. Er muss inzwischen bei einer erschöpften Gesellschaft und zunehmend skeptischen internationalen Partnern den Eindruck zerstreuen, dass sich das Ringen mit Russland in die falsche Richtung entwickelt. Aber auch der neu angedachte Kriegsplan »hold and build« verlangt neue Ressourcen.
Die Armeeführung fordert für eine defensive Strategie die Mobilisierung weiterer 450.000 bis 500.000 Mann, erklärte der Präsident. Er machte aus seiner Skepsis kein Hehl: »Das ist eine ernsthafte Zahl, und ich brauche weitere Argumente.« Er nannte auch die finanzielle Belastung von umgerechnet fast 12 Mrd. Euro als Grund für seine Zurückhaltung.
Auf freiwilliger Basis wären so viele Rekruten kaum einzuwerben. Führende Militärvertreter fordern deshalb immer offener Zwangsmaßnahmen, die in der Bevölkerung unbeliebt sind. Der neue ukrainische Verteidigungsminister will den Wehrdienst ausweiten, um bis zu 450.000 zusätzliche Soldat*innen für die Armee zu gewinnen. Er rief auch Ukrainer*innen im wehrpflichtigen Alter, die sich in Deutschland aufhalten, auf, sich beim Militär zu melden. Wer dies nicht tue, müsse mit Sanktionen rechnen. Immerhin hat der bundesdeutsche Justizminister bereits deutlich gemacht, dass auf dem Territorium der Berliner Republik der Wille zur Kriegsdienstverweigerung (noch) nicht der geforderten Kriegstüchtigkeit geopfert werde.
Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu bezifferte Anfang September 2023 die ukrainischen Verluste seit Beginn der Gegenoffensive Kiews auf mehr als 66.000 Soldaten. Aber auch Russland hat enorme Verluste und suchen daher neue Soldaten. Nach Schätzungen des britischen Verteidigungsministeriums (Stand 4. Dezember) sind bisher etwa 70.000 Russen getötet worden, 50.000 reguläre Soldaten sowie 20.000 Mitglieder der Privatarmee Wagner.
Die Zahl der Verwundeten zwischen dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 und Ende November 2023 wird in London auf 180.000 bis 240.000 Soldaten und 40.000 Wagner-Kämpfer geschätzt. »Dies ergibt eine geschätzte Spanne von insgesamt 290.000 bis 350.000 Opfern unter russischen Kombattanten.« Laut den ukrainischen Streitkräften hat Russland bis jetzt 350.270 Soldaten verloren, allerdings lassen sich die Angaben der direkten Kriegsparteien nicht prüfen.
Putin will zumindest bis zur Präsidentenwahl am 17. März 2024, bei der er sich im Amt bestätigen lassen will, eine neue Mobilisierungswelle vermeiden und strebt eine andere Lösung an: erleichterte Einbürgerung gegen Kampfeinsatz.
Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine infolge des russischen Angriffskrieges nimmt weiter zu. Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der UNO (UNHCR) haben mehr als 5,9 Millionen Menschen seit Kriegsbeginn die Ukraine in Richtung der europäischen Länder verlassen, weltweit sind es über 6,3 Millionen. (Stand 21. Dezember). Die Zahl der Binnenflüchtlinge beziffert die für Flüchtlingsfragen zuständige ukrainische Vizeregierungschefin Olga Stefanischyna auf 4,9 Millionen (Stand 18. November).
Nach Angaben der Direktorin der EU-Asylagentur (EUAA), Nina Gregori, waren Ende Oktober 4,16 Millionen Ukrainer*innen in der EU registriert, die hier vorübergehenden Schutz genießen würden, 320.000 mehr als im Januar. Deutschland sei zum gleichen Zeitpunkt mit rund 1,17 Millionen ukrainischen Flüchtlingen das führende Gastgeberland in der EU, gefolgt von Polen mit 957.000 Ukrainer*innen.
Diese Fluchtbewegung bedeutet eine massive Beeinträchtigung des gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozesses in der Ukraine, der bislang ebenfalls durch westliche Zuschüsse und Kredite ausgeglichen werden muss. Beispielsweise erhält das Land aktuell von der Weltbank 1,22 Mrd. Euro, so das Finanzministerium in Kiew. »Die Mittel werden verwendet, um nicht sicherheits- und verteidigungsbezogene Ausgaben des ukrainischen Staatshaushalts zu kompensieren.« Dazu gehörten etwa Sozialleistungen und Entgelte für Mitarbeitende staatlicher Dienste. Eine Änderung dieses Prozesses der Ausblutung der gesellschaftlichen Reproduktion ist nicht in Sicht. Faktisch ist die Ukraine ein Failed State, dessen Ruine im Wesentlichen vom Westen am Leben erhalten wird.
Aus durch Umfragen unterlegten Schätzungen geht hervor, dass zudem nur rund ein Drittel der geflüchteten Ukrainer*innen auf eine Rückkehr ins Heimatland hoffen, rund 40% der Geflüchteten sind unentschlossen, ein weiteres Drittel gib an, nicht zurückkehren zu wollen. Haupthindernisse für die Rückkehr sind Sicherheitsbedenken und der fehlende Zugang zu einer funktionierenden Gesundheitsversorgung. Sollte es zu einem Waffenstillstand kommen, wäre in der Ukraine allerdings weit mehr als die Gesundheitsversorgung neu aufzubauen.
Der Krieg hat bislang den Tod von Zehntausenden von ukrainischen Soldaten und Zivilist*innen verursacht, die Verletzungen und psychischen Deformationen sind immens und die Verwüstung weiter Teile des Landes kann nur durch Arbeit und Leistungen einiger Generationen überwunden werden. Auf einer Pressekonferenz verbreitet Selenskyj gleichwohl Optimismus: »Wir werden jeden Monat stärker.« Die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der EU bezeichnete er als »historischen Sieg«. Militärisch habe man die russische Schwarzmeerflotte geschwächt und sein Land erhalte neue Luftverteidigungssysteme aus dem Westen.
Die militärische und politische Führung in Kiew braucht Erfolge an der Front, kann dafür aber der Bevölkerung nicht endlos Opfer abverlangen, ohne ihre Unterstützung zu verlieren. Laut einer Umfrage des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew vertrauen 96% der Ukrainer*innen den Streitkräften, der Präsident bleibt der beliebteste Politiker, auch wenn seine Zustimmungswerte im Vergleich zum Mai letzten Jahres von 90% auf 77% sanken. Die Zuversicht, dass sich die Dinge auf eine gute Weise entwickeln, ging um 14 Punkte auf 54% zurück.
Selenskyj neigt inzwischen trotz des angesichts des Rückgangs der internationalen Unterstützung mitunter etwas weltfremden Optimismus (»Krieg, Sieg, Niederlage, Stagnation – all das hängt von unseren Entscheidungen ab«) doch gelegentlich zu mehr Realitätsbezug: Niemand wisse, ob der Krieg 2024 ende, räumte er etwa jüngst ein. Im Februar hatte er sich noch überzeugt gegeben, dass dieser im Jahr 2023 zu Ende ginge.