11. Dezember 2016 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Standortbestimmung der CDU für das Wahljahr 2017
»Verlässliche Partnerin in unruhigen Zeiten«
Angela Merkel sieht sich als einzige verbliebene Garantin für die Stabilität der freiheitlichen Weltordnung. Die CDU folgt dieser historisch-gesellschaftlichen Selbsteinstufung. Schon vor dem Parteitag dieser gewichtigen bürgerlichen Partei in Essen hatte der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier die Rolle der Parteivorsitzenden und Bundeskanzlerin definiert: »Angela Merkel ist ein Halteseil in einer unsicheren Zeit.«
Diese politische Bewertung schlug sich in dem Leitantrag mit dem Titel »Orientierung in schwierigen Zeiten« nieder. Die Parteivorsitzende verweigerte in ihrem Rückblick jede Beschönigung: »2016 hat die Welt nicht stärker und stabiler gemacht, sondern schwächer und instabiler.« In Zeiten wie diesen komme es mehr denn je »auf uns« an. Deutschland hat – so ihre Bilanz – trotz der schwierigen Zeiten eine gute Phase hinter sich – die allerdings auch deshalb so passabel aussieht, weil andere große Euro-Länder miserabel unterwegs sind.
Die reale Wirtschaftsleistung pro Kopf ist im Zeitraum der von Merkel personifizierten Kanzlerschaft deutlich gewachsen. Die Arbeitslosenquote hat sich seit ihrem Amtsantritt 2005 von 11% auf 4,6% mehr als halbiert. Es war eine große Wirtschafts- und Finanzkrise zu verarbeiten, was anderen europäischen Nachbarländern keineswegs gleichermaßen gelungen ist.
Das Urteil der Repräsentanten von Wirtschaft und Industrie zur Fortsetzung dieser Konstellation ist eindeutig: Der Präsident der Arbeitgeberverbände, Ingo Kramer, verwies auf Deutschland als Hort der Stabilität. Merkel habe wesentlich dazu beigetragen, indem sie das Land mit Besonnenheit durch eine Zeit voller Krisen gesteuert habe.
Und der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, unterstreicht die Zustimmung für eine neue Wahlperiode: Er wünsche Merkel viel Kraft und Erfolg auf der politischen Bühne, die er sich nicht ohne sie vorstellen könne. Die Wirtschaft, das bundesdeutsche Kapital hat sich mit Merkel arrangiert, die Alternative einer rot-rot-grünen Koalition will man nicht. Man setzt auf die »verlässliche Partnerin in unruhigen Zeiten«, wie Kramer es ausdrückte.
Und doch gibt es Grund zur Unruhe: Die letzten drei Landtagswahlen hat die CDU spektakulär verloren. Dazu kommen der Brexit, die Wahl von Trump, Renzis Niederlage und so weiter. Die Fluchtbewegung hat nicht nur zeitweilig die europäische Staaten-Ordnung durcheinandergewirbelt, sondern auch zu einem tiefen Zerwürfnis mit der rechtskonservativen Schwesterpartei CSU geführt. Viele Konservative fühlen sich heimatlos, weil die CDU ihnen zu links geworden ist, die AfD aber weit unter ihrer Würde agiert.
Andere haben die Annäherung an die Petry-Partei längst vollzogen und reagieren empfindlich auf Kritik seitens einer Christdemokratie, die sie als schwammig und machtfixiert empfinden. Im bürgerlichen Lager aber gibt es keine Führungsalternative: Angela Merkel bleibt die mit weitem Abstand markanteste politische Figur des Landes und Europas.
Keine Überraschung also, dass sie auf dem CDU-Parteitag mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde, wenngleich das Stimmenergebnis schon besser war. Angela Merkel gilt trotz der Flüchtlingskrise, trotz der deutlichen Einbrüche in der Zufriedenheit mit ihrer Arbeit, trotz eines zeitweiligen Umfragetiefs von CDU und CSU, trotz eines unübersehbaren Kontrollverlustes des Staates, und trotz des teils würdelosen Politik-Bashings als konkurrenzlos. International wird sie nach dem rechtspopulistisch motivierten Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU und dem Wahlsieg des rechten Demagogen Donald Trump in den USA als Ikone westlicher Werte und eines demokratischen Kapitalismus gefeiert.
Gleichwohl muss Merkel mit deutlichem Gegenwind fertig werden, weil Teile der Partei mit ihrem Kurs vor allem in der Flüchtlingsfrage nicht einverstanden sind, den sie mitverantwortlich machen für den Aufstieg der AfD. Die Parteivorsitzende musste bereits im Leitantrag etliche Zugeständnisse hinsichtlich schärferer Asylrechtsregelungen (vor allem einer rigideren Abschiebungspraxis) machen. Und ein Antrag, die CDU solle sich für die Abschaffung der von der schwarz-roten Bundesregierung beschlossenen Regelung zur doppelten Staatsbürgerschaft einsetzen, fand gegen den Widerstand der Parteiführung eine knappe Mehrheit.
Im beschlossenen Leitantrag des Essener Parteitags spricht sich die CDU klar zum Thema Rückführung aus. Insbesondere wollen die Christdemokraten künftig noch strikter zwischen AsylbewerberInnen mit Bleiberecht und jenen unterscheiden, die aus einem sicheren Herkunftsland stammen. Für AsylbewerberInnen aus einem sicheren Herkunftsstaat soll der Haftgrund für Abschiebehaft »erweitert« werden, wenn von dem Ausreisepflichtigen eine »Gefahr« ausgeht.
Die Bundeskanzlerin betont allerdings, dass ein grundsätzliches Rütteln am Asylrecht und eine aus Ablehnung des Fremden gespeiste Weigerung, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, mit ihr nicht zu machen seien. »Nicht alle der insgesamt rund 890.000 Menschen, die letztes Jahr gekommen sind, können und werden bleiben. Aber jeder Einzelne wurde und wird als Mensch und nicht als anonymer Teil einer Masse bei uns aufgenommen; jedes einzelne Anliegen wird geprüft.« Für eine »Kurskorrektur« allerdings, damit die Situation einer unkontrollierten Einreise und der mangelhaften Registrierung vom Herbst 2015 sich nicht wiederholen dürfe, kämpfe auch sie.
Merkel anerkennt die entstandene und sich fortsetzende Unsicherheit: Viele Menschen hätten das Gefühl, »dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Die Welt ist unübersichtlich geworden. Es gibt viele sich neu ausbalancierende Kraftzentren. Wir haben es mit einer Weltlage zu tun – das gilt nach den amerikanischen Wahlen noch immer ganz besonders –, in der sich die Welt erst einmal sortieren muss, gerade mit Blick auf so wichtige Dinge wie die NATO und das Verhältnis zu Russland.« In dieser Situation gelte es zunächst »alles daran (zu) setzen, dass Europa nicht noch schwächer aus den Krisen hervorgehen wird, als es in sie hineingegangen ist«.
Diese pragmatische Zielsetzung mute möglicherweise bescheiden an. »Aber lassen wir uns nicht täuschen: Das ist es nicht; denn Europa ist und bleibt, wie Helmut Kohl es wieder und wieder gesagt hat, eine Frage von Krieg und Frieden… Die Lage zwingt uns mehr denn je, erst einmal das zu schützen und zu bewahren, was uns in Deutschland und Europa mit unseren transatlantischen Partnern stark gemacht hat und auch weiter stark machen wird.«
Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten innerhalb der Europäischen Union, sich in vielen Bereichen – etwa bei der Verteilung der Flüchtlinge – zu verständigen, und der durch den Brexit und die Trump-Wahl entstanden Lage fordert Merkel eine Konzentration auf die innere und äußere Sicherheit. Dazu gehöre neben der der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, der Ausbau der europäischen Sicherheitsarchitektur (Sicherung der Außengrenzen, Aufrüstung etc.).
Innenpolitisch hält die Bundeskanzlerin an der Fortsetzung der bisherigen Politik fest: Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Dazu gehört neben der Regulierung der Digitalisierung: keine neuen Schulden machen und Steuererhöhungen, insbesondere auch eine Verschärfung der Erbschaftsteuer und eine Einführung der Vermögensteuer, grundsätzlich auszuschließen. Finanzielle Spielräume, die vor allem durch Steuermehreinnahmen zustande kommen, sollen zu je einem Drittel genutzt werden
- für Investitionen in Infrastruktur und zur Förderung von Zukunftsfähigkeit in allen Bereichen,
- zur Steuersenkung vor allem von Familien und Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sowie
- zur Finanzierung von notwendigen Ausgabensteigerungen, zum Beispiel zur Erfüllung außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben, und zur Schuldentilgung.
Weitere Schwerpunkte sind die Aufrüstung von Polizei und Bundeswehr, sowie eine verschärfte Repression gegenüber »ausreisunwilligen« Flüchtlingen. So werden in dem vom CDU-Parteitag verabschiedeten Leitantrag u.a. die Einrichtung von Transitzonen und eine Aufweichung von Abschiebehindernisse (z.B. Krankheit) gefordert.
Mit diesen programmatischen Eckpunkten will die CDU enttäuschte WählerInnen zurückgewinnen, »die sich als Modernisierungsverlierer sehen und derzeit noch bei populistischen Parteien von rechts und links ihre Zuflucht suchen«.
Angela Merkel hat ihre Partei auf die bevorstehenden Landtagswahlen im Frühjahr und die Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres eingestimmt: »Die Bundestagswahl 2017 wird so schwierig wie keine Wahl zuvor… Sie wird wahrlich kein Zuckerschlecken, mit einer starken Polarisierung unserer Gesellschaft, mit Anfechtungen von allen Seiten, von rechts wie nie zuvor und Anfechtungen von links, mit der Möglichkeit einer rot-rot-grünen Bundesregierung, sofern es dafür einigermaßen rechnerisch reicht. Wir haben die Aufgabe, so stark zu sein, dass das verhindert wird, dass es nicht zu Rot-Rot-Grün kommt. Wir müssen integrieren von rechts.«
Da an den Verteilungsstrukturen nicht gerüttelt werden soll und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit (etwa zur Bekämpfung der Altersarmut) nur eine marginale Rolle spielen, wird das Programm die besorgte und von Abstiegsängsten geplagte Mitte kaum beruhigen, und das Integrieren von rechts schwierig werden.
Angela Merkels Versprechen für eine Politik, die auf sozialen Zusammenhalt achtet, läuft so ins Leere. Die CDU wolle, »dass Deutschland auch zukünftig ein Land ist, in dem die Menschen sichere und fair bezahlte Arbeit haben, mit international erfolgreichen Unternehmen, mit einem starken Mittelstand, mit engagierten Familienunternehmen, ein Land, das stolz darauf ist, die Marke ›Made in Germany‹ zu haben, ein Land, das jedem die Chance gibt, aus seinem Leben das Beste zu machen, ein Land, das den Menschen das Gefühl gibt, dass es gerecht zugeht, mit guten Kindergärten und Schulen, Ausbildungsplätzen und Universitäten. Wir wollen, dass Deutschland ein Land ist, in dem sich Leistung lohnt, das schwachen Menschen in Not hilft, das den Menschen die beste medizinische Versorgung geben kann und in dem auch ein gutes Leben im Alter möglich ist.«
Die politische Standortbestimmung der CDU folgt der bekannten Logik. Der Leitantrag der Parteiführung ist als politisches Signal an WählerInnen und Konkurrenz gedacht. Über die Orientierung in unsicheren Zeiten wurde auf dem Parteitag nicht kontrovers diskutiert. Einstimmig und mit wenig Debattenbeiträgen verabschiedeten die Delegierten am Ende das programmatische Dokument.
Der stellvertretende Parteivorsitzende Thomas Strobl, Innenminister in Baden-Württemberg, hatte mit migrationspolitischen Verschärfungen zum Leitantrag versucht, weniger Merkels »freundliches Gesicht« zu betonen, als die Härte in der Durchsetzung von Recht und Ordnung bei der Ausschaffung abgewiesener AsylbewerberInnen. Dieses Manöver wird weiter wichtig werden, wenn die CSU in die gemeinsame Wahlkonstellation geholt wird.
Die CDU versucht einen Spagat zwischen der seit Merkels Aufstieg immer sichtbareren Politik der Öffnung zur Mitte hin, was letztlich zum Abräumen vieler konservativer Bastionen der CDU-Politik führte, und den Wertkonservativen, die eben nicht nur in der CSU und der AfD ein stärkeres politisches Gewicht erhalten haben, nicht passt.
Der Wahlkampf im kommenden Jahr wird für diesen Spagat eine Belastungsprobe bringen. Angela Merkel wird erhebliche Flexibilität und Härte beweisen müssen, will sie ihre Linie durchhalten und zugleich den Rechtskonservativen zeigen, dass sie sie ernster nimmt als in den zurückliegenden Jahren.