19. Oktober 2021 Otto König/Richard Detje: »CELAC-Gipfel« – neue Zeichen der Integration in Lateinamerika und der Karibik
Verteidigung der Souveränität
Dem argentinischen Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel nach haben die Völker Lateinamerikas »die Notwendigkeit« verstanden, »Wege der Einheit in der Vielfalt zu finden, und streben danach, ein Zusammenleben in Frieden in der ständigen Dynamik sozialer, kultureller, politischer und spiritueller Veränderungen zu erreichen.«
Das Streben nach »Einheit in der Vielfalt« kam jüngst beim VI. Gipfeltreffen der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) in Mexiko-Stadt zum Ausdruck – es nahmen Vertreter:innen aus 31 Ländern teil, darunter 17 Staats- und Regierungschefs. Die fortschrittlichen Kräfte in dem Bündnis, die nach den Macht- und Regierungswechseln in Mexiko, Argentinien, Bolivien und Peru wieder gestärkt sind, setzten neue Impulse der Integration.
Die Staatsoberhäupter der 2011 gegründeten CELAC[1] – vom sozialistischen kubanischen Staatschef Miguel Diaz-Canel bis zum rechts-konservativen ecuadorianischen Präsidenten Guillermo Lasso –, einigten sich auf eine 44-Punkte-Erklärung, die zentrale Fragen der »politischen Souveränität« der Länder in der Region benennt, das Ende aller »Sanktionen gegen Kuba und Venezuela« fordert, die »Souveränität Argentiniens über die Malvinas-Inseln« unterstützt sowie Strategien gegen die Covid-19-Pandemie und den Klimawandel skizziert.
Anfang der 2000er Jahren dominierte die Linke Südamerikas u.a. mit Lula da Silva in Brasilien, Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador und Hugo Chávez in Venezuela. Nach Wahlerfolgen der Rechten in mehreren Ländern Mitte 2000 kam es zu einer erneuten Restauration rechtsautoritärer Vorherrschaft. Die veränderten Kräfteverhältnisse hatten die Zerstörung gemeinsamer Institutionen wie die 2008 gegründete »Union südamerikanischer Nationen« (UNASUR) zur Folge. Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Peru ließen ihre Mitgliedschaft seit April 2018 ruhen. Kolumbien verließ UNASUR im August 2018 und Ecuador im März 2019. Ihren Schlag gegen den vor mehr als einem Jahrzehnt von den Linken angestoßenen Integrationskurs in begründeten die »Spalter«-Staaten mit der angeblichen »Funktionsuntüchtigkeit der Organisation« sowie »mangelndem Konsens«.
Mit der »Erklärung von Santiago« schufen die rechtsgerichteten Präsidenten der Länder Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Paraguay, Peru und Guayana im März 2019 das neue rechts-konservative Staatenbündnis »PROSUR«. Dieser Akt richtete sich nicht nur gegen UNASUR, sondern auch gegen CELAC und den Gemeinsamen Markt des Südens MERCOSUR. Es war eine Absage an die Schaffung eines institutionellen Integrationssystems im Rahmen des Völkerrechts, das ohne die Vormundschaft der Washingtoner Administration errichtet, bi- und multilaterale Beziehungen auf dem Kontinent festigen sollte.
Der angestaute Unmut über die marktradikale und unsoziale Politik der herrschenden Klassen und des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf dem südamerikanischen Kontinent hat sich den letzten Jahren in großen sozialen Protestwellen entladen. Durch die von den neoliberalen Regierungen beschlossenen Sparpakete (»Paquetazos«) mit Kürzungen finanzieller Zuschüsse für Lebensmittel bei gleichzeitigen Steuersenkungen für die vermögenden Schichten und Privatisierungen des Gesundheits- und Bildungswesens trotz massiver Auwirkungen der Corona-Pandemie wurden Millionen von Arbeiter:innen, Indigenen, Student:innen und Bäuer:innen schwer getroffen.
Ihr anhaltender Protest in Brasilien, Chile, Ecuador und Kolumbien gegen das ausbeutende Wirtschaftssystem richtet sich gegen die Arroganz und Ignoranz der politischen Führer und Eliten, die mit einer »erstaunlichen Gefühllosigkeit und Blindheit« beschlagen sind, so der mexikanische Schriftsteller Antonio Ortuño, wie das Parken ihrer Vermögen in Steueroasen[2] unterstreicht.
Chile war Jahrzehnte lang das Flaggschiff des Neoliberalismus in Lateinamerika. Es hat mittlerweile Schiffbruch erlitten. Nach massenhaften Protesten wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen: Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung kassierte die rechte Piñera-Regierung eine schallende Ohrfeige. Die neue Magna Carta des südamerikanischen Landes wird von einer neuen politischen Generation von Aktivist:innen der Zivilgesellschaft und der Linken geschrieben, was einen deutlichen Demokratisierungsschub auslöste.
Ähnlich wie der chilenische Präsident stehen derzeit auch die rechts-konservativen Staatschefs Iván Duque in Kolumbien und Jair Bolsonaro in Brasilien heftig in der Kritik. Mit der Niederlage des Putschregimes von Jeanine Áñez in Bolivien und der Rückkehr der Linken an die Macht konsolidierte sich gleichzeitig ein Prozess des Aufschwungs progressiver Regierungen, der seinen ersten Ausdruck im Sieg von Andrés Manuel López Obrador (Amlo) bei den Präsidentschaftswahlen in Mexiko und des Mitte-links-Politikers Alberto Fernández in Argentinien gefunden hat. Schließlich ist es auch der Bevölkerung in Peru gelungen, den 30 Jahre währenden Fujimori-Neoliberalismus abzuschütteln. Der Gewerkschafter und Sozialist Pedro Castillo wurde zum Präsidenten gewählt.
Diese Entwicklung steht für ein wachsendes Aufbegehren in der Region, hauptsächlich getragen von jungen Menschen, die das gemeinsame Ziel des Widerstands gegen die enorm ungleiche Verteilung des Reichtums, massiver Chancengleichheit und hoher Arbeitslosigkeit verbindet, die Südamerika eine Dekade lang in Stagnation verharren ließen.
Die progressiven Entwicklungen auf dem Kontinent trugen dazu bei, dass CELAC wieder »zu einem Hauptinstrument der regionalen Zusammenarbeit und Integration« werden konnte. Dem mexikanischen Präsidenten López Obrador ist es gelungen, trotz der nach wir vor bestehenden ideologischen Differenzen ein einheitliches Vorgehen in der Region in Gang zu setzen. Die Blockadepolitik und die üblen Umgangsformen müssten ersetzt werden durch »die Option, uns zu respektieren, einen gemeinsamen Weg einzuschlagen und uns zum Wohle Amerikas zusammenzuschließen, ohne unsere Souveränitäten zu verletzen«, sagte dieser.
Der CELAC-Gipfel in Mexiko endete mit der Verabschiedung einer 44 Punkte-Erklärung. Darin wird die Verpflichtung zur Errichtung einer gerechteren, inklusiveren, ausgewogeneren und harmonischeren internationalen Ordnung, die sich auf dem Völkerrecht und der UN-Charta gründet, postuliert. Bekräftigt wird die Verpflichtung zur Verteidigung der Souveränität sowie das Recht eines jeden Staates, frei von Drohungen, Aggressionen und einseitigen Zwangsmaßnahmen sein eigenes politisches System aufzubauen.
Die Erklärung wiederholt die Ablehnung der Anwendung von völkerrechtswidrigen Zwangsmaßnahmen (Sanktionen), die Ländern in Lateinamerika und in der Karibik erheblichen Schaden zufügen. Die internationale Gemeinschaft, sprich die USA, wird aufgefordert, einseitige Handlungen außerhalb der UN-Charta zu unterlassen, die zum Ziel haben, Gesellschaftssysteme zu unterminieren oder Situationen zu schaffen, die potenziell Konflikte zwischen Staaten schüren.
Zu den Ergebnissen gehört auch die Einrichtung eines Fonds zur Bekämpfung des Klimawandels und eine Vereinbarung, auf der Ende Oktober beginnenden UN-Klimakonferenz in Glasgow eine gemeinsame Position zu vertreten, »auf der Grundlage der Gerechtigkeit, die es geben muss, um den Klimawandel zu bekämpfen«. Die Region war eine der am stärksten von Dürren, tropischen Stürmen und Hurrikanen und anderen Naturkatastrophen betroffen, die Massenvertreibungen, die Zerstörung der Infrastruktur und den Verlust von Menschenleben verursacht haben.
Außerdem wurden mehrere Sofortmaßnahmen genehmigt, darunter die Schaffung einer Infrastruktur zur Herstellung und Verteilung von medizinischen Hilfsgütern und Impfstoffen wie in Kuba, um den Ländern bei der Bewältigung der Corona-Pandemie zu helfen. »Wenn überhaupt, dann hat uns die Pandemie wieder zusammengebracht, denn die Region verzeichnet mehr Todesfälle als jede andere in der Welt. Es ist extrem schwierig, Impfstoffe zu bekommen, und es ist ungerecht und missbräuchlich, dass so viele Länder keine Impfstoffe haben«, betonte der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard.
Schon vor dem Gipfeltreffen hatte der mexikanische Präsident angekündigt, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) durch die CELAC ersetzen zu wollen. Der von Andrés Manuel López Obrador Ende Juli formulierte und von mehreren Ländern unterstützte Vorschlag sieht vor, die von Washington dominierte Organisation »durch ein autonomes Gremium zu ersetzen, das kein Lakai von irgendjemandem ist«, und stattdessen »etwas aufzubauen, das der Europäischen Union ähnelt, aber mit unserer Geschichte, unserer Realität und unseren Identitäten verbunden ist.« Mexikos Präsident griff damit eine Forderung aus Ländern wie Bolivien, Nicaragua und Venezuela auf, die die OAS als interventionistisch und USA-hörig kritisieren.
Die Organisation war 1948 unter Führung der USA als Instrument des Kalten Krieges installiert worden. Wiederholt hat sie in vielen Fällen sich in demokratische Wahlprozesse wie zuletzt in Bolivien eingemischt. So hat ein vorläufiger Bericht der Wahlbeobachtermission der OAS, der während der Auszählung der Stimmen für die Präsidentschaftswahlen 2019 einen Wahlbetrug nahelegte, den politischen Kräften in die Hände gespielt, die den damaligen Präsidenten Evo Morales entmachten wollten.[3] Mehrere internationale Studien haben mittlerweile die These eines von Morales angestifteten Wahlbetrugs widerlegt. Es waren die neoliberalen Präsidenten von Paraguay und Uruguay, Mario Abdo und Luis Lacalle, die die Abstimmung auf dem CELAC-Gipfel über Amlos Vorschlag verhinderten. Dennoch ist José Antonio Crespo, Wissenschaftler am mexikanischen Zentrum für wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre, überzeugt: »dieser Gipfel hat den Druck erhöht, um eine Reform der OAS zu erreichen« (Deutsche Welle am 20.9.2021).
Während der CELAC-Gipfel den schwindenden Einfluss Washingtons in seinem »Hinterhof« offenbarte, kündigte Chinas Präsident Xi Jinping in einer Video-Grußbotschaft an, eine »neue Ära der Zusammenarbeit mit Lateinamerika und der Karibik« im Kampf gegen die Pandemie und darüber hinaus einzuleiten. Diese werde »von Gleichheit, gegenseitigem Nutzen und Offenheit geprägt« sein. Töne, die in Lateinamerika wohlwollend aufgenommen werden. Dagegen wird der Regierungswechsel in den USA von Donald Trump zu Joe Biden zunächst einmal mit großer Skepsis als Wechsel des Stils unter Beibehaltung der gleichen Partitur zur Kenntnis genommen.
Anmerkungen
[1] Das 2011 in Caracas gegründete CELAC-Bündnis besteht aus allen souveränen Staaten Amerikas außer Brasilien, Kanada und den USA. Die Regierung des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro hatte im Januar 2020 den Austritt des Landes erklärt, weil es laut seinem Außenminister Ernesto Araujo in der CELAC einen »kommunistischen Dunstkreis« gebe, der eine »Strangulierung« Brasiliens anstrebe. Der Entwicklungsweg von CELAC knüpft an den Staatenverbund der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) und der ALBA (Bolivarianische Allianz für Amerika) an. Seitenstränge führen zur Gruppierung des Sozialforums von Sao Paulo.
[2] Die Enthüllungen der sogenannten »Pandora Papers« betreffen amtierende Präsidenten wie Sebastian Piñera (Chile), Guillermo Lasso (Ecuador) und Luis Abinader (Dominikanischen Republik). Der Rechercheverbund »International Consortium of Investigative Journalists« (ICIJ), hatte Unterlagen veröffentlicht, wonach weltweit Hunderte Politiker Geld in Steueroasen liegen haben. Keine andere Region der Welt ist in dem bis dato größten Datenleck über Steueroasen so prominent vertreten wie Lateinamerika. Annähernd 100 politische Amtsträger aus 18 Ländern der Region werden mit Offshore-Geschäften in Verbindung gebracht (Amerika 21, 7.10.2021).
[3] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Rollback der Elite. Anti-indigener Staatsstreich in Bolivien, Sozialismus.de Aktuell vom 23.11.2019.