Hajo Funke
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Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

15. Juni 2022 Hinrich Kuhls: Zum Konflikt um das Irland-Nordirland-Protokoll

Vertragsbruch der Brexit-Regierung

Die Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland hat im Unterhaus des britischen Parlaments ein »Nordirland-Protokoll-Gesetz« eingebracht, mit dem sie das Irland-Nordirland-Protokoll des EU-Austrittsabkommens einseitig ändern will. Sie bricht mit vollem Vorsatz internationales Recht.[1]

Seit dem Brexit streiten Großbritannien und die EU um Zollvorschriften in Nordirland. Die Johnson-Regierung hat schon vor einiger Zeit unilaterale Änderungen des Brexit-Vertrags, der Anfang 2020 ratifiziert worden ist, angekündigt. Im Wahlkampf Ende 2019 hatte Johnson noch versprochen, »einen Schlussstrich unter die leidige Brexit-Debatte zu ziehen«. Doch sein Deal – und vor allem das darin enthaltene Nordirland-Protokoll – sorgen bis heute dafür, dass der Brexit-Konflikt weiter schwärt.

Mit dem Gesetzentwurf zum Irland-Nordirland-Protokoll (NIP), der Northern Ireland Protocol Bill, räumt die Johnson-Regierung ein, dass sie mit ihrer Brexit-Politik gescheitert ist. Sie setzt zugleich eine Kettenreaktion in Gang, bei der nicht abzusehen ist, ob an deren Ende eine Kernfusion noch zu verhindern ist. Sowohl erneute gewaltsame Auseinandersetzungen in Nordirland rücken wieder in den Bereich der Wahrscheinlichkeit, als auch ein Handelskrieg zwischen Großbritannien und der Europäischen Union, der zu weiteren Zerwürfnissen in Europa führt – sowohl zwischen der EU und Nicht-EU-Staaten als auch innerhalb der EU.

Die aktuelle Nordirland-Politik der britischen Konservativen Partei und der von ihr gestellten Regierung erweist sich als Fortsetzung ihrer Brexit-Politik. Ihr nationalistisch-rechtspopulistischer Flügel verfolgt seit langem die Zerstörung der EU als eines supranationalen Staatenbunds. Auf Betreiben der Johnson-Regierung und der rechtspopulistischen »European Research Group« in der Tory-Fraktion sollen jetzt die Teile des Austrittsvertrags getilgt werden, in denen die Brexit-Hardliner den Fortbestand einer EU-Suprematie auf dem Staatsgebiet des Vereinigten Königreichs sehen.


Johnsons Handschrift: Das Nordirland-Protokoll

Der derzeitige Premierminister war und ist die Gallionsfigur der britischen Anti-EU-Politik, die in England als dem Kernland des Vereinigten Königreichs ihre mehrheitsbildende Basis in der Konservativen Partei und deren Wählerschaft hat. Johnson ist nach einer Kaskade von Unwahrheiten und Fehlverhalten in die Kritik geraten. Das innerparteiliche Misstrauensvotum hat er mit Hilfe jener vielen Fraktionsmitglieder, denen er zugleich eine Funktion innerhalb des Regierungsapparats übertragen hat, überstanden. Doch auf den hinteren Reihen seiner Fraktion hat er gerade noch das Vertrauen von einem Viertel der Abgeordneten. Was die Fraktion aber weitgehend eint, ist die nahezu vorbehaltlose Zustimmung zur Fortsetzung der nationalistischen Brexit-Politik mit allen Mitteln.

Johnson hatte 2019 die Abwahlkampagne gegen seine Vorgängerin Theresa May vor allem mit der Behauptung erfolgreich bestritten, er habe im Unterschied zu ihr einen »ofenfertigen« Vertrag in der Tasche, mit dem der harte Brexit, der vollständige Ausstieg aus EU-Binnenmarkt und Zollunion, problemlos bewerkstelligt werden könnte, auf dass das UK zu neuer Prosperität erblühe.

Im Kern handelte es sich bei seinem Vorschlag darum, die spezifische Situation Nordirlands, die mit dem Belfaster Karfreitagsabkommen von 1998 ihren konstitutionellen Rahmen erhalten hat und international rechtskräftig verbürgt worden ist, im EU-Austrittsabkommen anders als bei Mays »Backstop«-Option abschließend zu regeln für die Zeit nach dem Austrittsdatum. Das Thema Nordirland sollte bei den Verhandlungen des Handels- und Kooperationsabkommens, mit dem die Post-Brexit-Beziehungen von EU und UK geregelt worden sind, nicht mehr auf der Agenda stehen (was so auch zutraf) und erst recht nicht jemals zu einem späteren Zeitpunkt.

Das Nordirland-Protokoll, so wie es ratifiziert worden ist, trägt die Handschrift von Johnson und seinem engsten Beraterkreis in Kabinett und Downing Street. Die EU-Verhandlungskommission und der Europäische Rat waren seinen Forderungen und Vorschlägen weitgehend gefolgt. Die spezifische Fassung des Nordirland-Protokolls verkaufte die Johnson-Regierung als großen Erfolg, für den sie mit dem Erdrutschsieg Ende 2019 belohnt wurde. Das trifft nicht nur auf die Rahmenbestimmungen zu, sondern auch auf Laufzeit, Streitschlichtung und auf das Regelwerk im Einzelnen, das für den Handelsverkehr zwischen den unterschiedlichen Zolljurisdiktionen Nordirland und Großbritannien erforderlich geworden ist.

Wider besseren Wissen hatte Johnson während der Verhandlungen gegenüber Abgeordneten und Parteiführung der Democratic Unionist Party (DUP), der größten unionistischen Partei in Nordirland, behauptet, sein Verhandlungsergebnis enthalte keine Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des UK. Diese Lüge hat zum bisher anhaltenden Zerwürfnis von DUP und Tory-Partei geführt.

Anderthalb Jahre nach dem Inkrafttreten des Brexit-Vertrags unterstützt in Nordirland eine Mehrheit der Bevölkerung die Zugehörigkeit des Landesteils zu jetzt zwei Zoll-Jurisdiktionen. Neben der Großregion London ist Nordirland das einzige Gebiet im UK, in dem die Wertschöpfung, die nach wie vor die niedrigste im UK ist, wieder das Niveau aus der Zeit vor der Pandemie erreicht hat.


Transatlantische Komplikationen

Ende Mai war eine Delegation demokratischer und republikanischer Abgeordneter des US-Repräsentantenhaus unter Leitung des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses Richard E. Neal im Rahmen einer mehrtägigen Vermittlungstour in Brüssel und London, um beide Seiten zu drängen, einen Bruch über Nordirland zu vermeiden, allerdings ohne Erfolg. Die Delegation äußerte sich kritisch zum Vorhaben der Tory-Regierung.

In Washington bekräftigte die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die Position der Demokratischen Partei und der Biden-Administration. Sie wiederholte die seit langem bestehende Drohung, dass der Kongress einem bilateralen Handelsabkommen zwischen den USA und dem UK nicht zustimmen würde, falls die Regierung Johnson das Karfreitagsabkommen in irgendeiner Weise gefährden würde:

»Das Karfreitagsabkommen ist das Fundament des Friedens in Nordirland und ein Leuchtfeuer der Hoffnung für die ganze Welt. Die Sicherstellung, dass es keine physische Grenze zwischen der Irischen Republik und Nordirland gibt, ist absolut notwendig, um dieses bahnbrechende Abkommen aufrechtzuerhalten, das Nordirland verändert hat.

Es ist sehr besorgniserregend, dass das Vereinigte Königreich nun versucht, das Nordirland-Protokoll einseitig aufzukündigen. Ausgehandelte Abkommen wie das Protokoll bewahren den wichtigen Fortschritt und die Stabilität, die durch das Karfreitagsabkommen erreicht wurden, das im Kongress der Vereinigten Staaten nach wie vor starke Unterstützung von zwei Parteien und zwei Kammern genießt. Wie ich in meinen Gesprächen mit dem Premierminister, dem Außenminister und den Mitgliedern des Unterhauses erklärt habe, kann und wird der Kongress ein bilaterales Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich nicht unterstützen, wenn sich das Vereinigte Königreich dafür entscheidet, die Karfreitagsvereinbarungen zu untergraben.«

Damals wie heute ist die treibende Figur in der European Research Group der Verfassungsjurist Bill Cash. Er und die Generalstaatsanwältin Suella Braverman, die oberste Rechtsberaterin der Regierung mit Kabinettsrang, gelten als die entscheidenden Ratgeber*innen für die Konzeption des NIP-Gesetzes. Seine Analyse der transatlantischen Beziehungen hatte Cash im Sommer 2000 überschrieben mit »Die Europäische Integration: Gefahren für die USA.«

Heute deutet das Agieren der Johnson-Regierung und der sie unterstützenden Teile der Tory-Fraktion auf die Perspektive hin, die Biden-Administration auszusitzen und nach den Wahlen im UK und den USA Ende 2024 nach einer erneuten Rechtswende in den Vereinigten Staaten dann endlich die erhoffte Brexit-Dividende in Form einer engen ökonomischen, militärischen und politischen Kooperation mit einem rechtspopulistischen US-Präsidenten einzufahren.


Geringe Hoffnungen auf eine Konfliktbeilegung

Die von Rechtspopulisten dominierte Tory-Regierung hat die Lunte ans Pulverfass gelegt, nicht nur beim Gefahrenherd neuer Gewalttätigkeiten in Nordirland, sondern auch bei jenem explosiven Gemisch, das bisher immer auf Handelskriege gefolgt ist. Es ist zu hoffen, dass die zivilgesellschaftlichen und politischen Kräfte in den britischen und irischen Communities stark genug sind, der Konfliktstrategie der Tories und der nordirischen Unionisten eine auf Konfliktausgleich gerichtete Politik erfolgreich entgegenzusetzen.

Hingegen ist die Hoffnung gering, dass die auf Deeskalation bedachten Akteure bei ihren Bemühungen von den EU-Institutionen unterstützt werden. Das Versagen von Europäischem Rat, EU-Kommission und EU-Parlament während des gesamten Brexit-Prozesses war eklatant. Sie haben die Interessen der Gesamtheit der britischen Bürger*innen, deren Pass sie auch als Bürger*in der EU auswies, nicht ausreichend gegen die nationalistisch-rechtspopulistische Bewegung der Brexit-Hardliner wahrgenommen und auch nicht die Interessen jener Bürger*innen aus anderen EU-Staaten, die im UK leben.

Erst recht ist keine Fehlerkorrektur in den Hauptstädten der großen EU-Länder zu erwarten, vor allem nicht in Berlin und Paris – trotz des Austauschs der Agierenden in Regierungsverantwortung. Ein Ende des Friedensprozesses auf der irischen Insel und der Beginn eines europäischen Handelskriegs werden daher nicht nur der Regierung in London anzurechnen sein.

Anmerkung

[1] Eine ausführliche Analyse wird Anfang Juli in Heft 7/8 von Sozialismus.de erscheinen.

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