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24. August 2022 Hinrich Kuhls: Arbeitskampf im britischen Containerhafen Felixstowe

Vom Sommer der Streiks zum Herbst der Solidarität

Rund 2.000 Hafenarbeiter*innen sind am Sonntag im größten britischen Containerhafen in Felixstowe zunächst für eine Woche in den Streik getreten – zum ersten Mal seit 1989. Die Arbeitskämpfe auf der britischen Insel weiten sich aus.

Auf der Gehaltsliste des Hafenbetreibers Felixstowe Dock and Railway Company stehen 2.550 Beschäftigte. Davon sind etwa 2.000 Kolleg*innen in der Gewerkschaft Unite organisiert, die 2007 aus dem Zusammenschluss der Transport & General Workers Union (TGWU) und einiger kleinerer Gewerkschaften hervorgegangen ist und heute in den Bereichen Industrie und Transport die mitgliederstärkste Gewerkschaft ist. An der Urabstimmung Ende Juli beteiligten sich 81% der Organisierten, davon votierten 92% für den Arbeitskampf. Damit wurden die hohen gesetzlichen Quoren für die Durchführung von Streiks weit übertroffen.

Unite rief jetzt zur Arbeitsniederlegung auf, nachdem keine Einigung mit der Unternehmensleitung des Hafenbetreibers erreicht werden konnte. Das Angebot einer Lohnerhöhung von 7% plus einer Einmalzahlung von 500 Pfund wurde von der Gewerkschaft angesichts explodierender Verbraucherpreise als unzureichend zurückgewiesen. Auch ein weiteres, letztes Angebot des Unternehmens von 8%, allerdings ohne weitere Einmalzahlung, wurde abgelehnt.

Im letzten Jahr hatte die Gewerkschaft der Betreibergesellschaft nur eine Lohnerhöhung von 1,8% abringen können. Der UK-Verbraucherpreisindex ist aber im Juli auf 10,1% angestiegen, die Einzelhandelspreise haben sich um 12,3% erhöht. Die Annahme des Angebots hätte die jahrelange Einschränkung der Realeinkommen nicht nur fortgesetzt, sondern angesichts des absehbaren weiteren Anstiegs der Preisinflation noch verstärkt.


Logistik und maritime Wirtschaft

Eigentümer des Hafens Felixstowe, 110 km nordöstlich von London an der Nordsee gelegen, ist der Hongkonger Mischkonzerns CK Hutchison. Der Hafen sei »extrem profitabel«, so Unite-Generalsekretärin Sharon Graham auf Twitter. Aus den jüngsten Pflichtveröffentlichungen der Betreibergesellschaft Felixstowe Dock and Railway Company geht hervor, dass der Hafen im vergangenen Jahr seinen Gewinn um 30% auf 78 Mio. Pfund gesteigert hat, bei einem um 12% höheren Umsatz von 342 Mio. Pfund. In den letzten beiden Jahren wurden Dividenden in Höhe von 142 Mio. Pfund (166 Mio. Euro) ausgeschüttet.

Nach Angaben von Unite werden etwa 48% aller in das Vereinigte Königreich eingeführten Container über den Hafen von Felixstowe befördert, was ihn zu einer wichtigen Importdrehscheibe für Großbritannien macht. Felixstowe ist der größte und verkehrsreichste Containerhafen Großbritanniens. Jährlich werden mehr als vier Millionen Standardcontainer (TEU) umgeschlagen und 2.000 Schiffe angelandet. Seine Containerumschlagskapazität soll sich bis 2030 auf acht Mio. TEU verdoppeln. Letztmals rangierte Felixstowe 2001 unter den weltweit größten Containerhäfen (mit 2,6 Mio. TEU auf Platz 18) und ist seitdem kontinuierlich zurückgefallen. Größter europäischer Containerhafen ist Rotterdam mit einem Umschlag von 14,3 Mio. TEU (2020). Gemessen an der Tonnage des Gesamtumschlags aller britischen Häfen nimmt Felixstowe mit 21,5 Mio. t Platz sieben ein, während in London als größtem Hafen 51,8 Mio. t bewegt wurden (2020).

Laut der Online-Datenplattform Observatory of Economic Complexity (OEC) sind über Felixstowe im vergangenen Jahr Waren im Wert von 37,4 Mrd. Pfund (43,7 Mrd. Euro) eingeführt worden. Zu den wichtigsten Einfuhren im Jahr 2021 gehörten laut OEC-Daten Spielzeug, Datenverarbeitungsmaschinen sowie Holz- und Metallmöbel. Im Mai dieses Jahres waren die wichtigsten Importe Möbel, Computer und Autoteile.

Mit 9,12 Mrd. Pfund (10,7 Mrd. Euro) machten die Ausfuhren des Hafens nur etwa ein Viertel seiner Einfuhren aus, wie die OEC-Daten zeigen. Zu den wichtigsten Ausfuhren im Mai dieses Jahres gehörten pharmazeutische Produkte, Aluminiumschrott und Kupfer. Im Mai war China sowohl das wichtigste Herkunfts- als auch das wichtigste Zielland für die meisten über Felixstowe transportierten Güter.

Etwa 70% der über Felixstowe beförderten Container werden über Straßen- und Schienenverbindungen in eine Region in der Mitte Großbritanniens geliefert, die in der Logistikbranche als »Goldenes Dreieck« bekannt ist. In diesem Dreieck, das von 90% der britischen Bevölkerung innerhalb von vier Autostunden zu erreichen ist, befinden sich die Verteilzentren vieler großer britischer Marken und Einzelhändler wie Tesco, Asda und Marks and Spencer. Ein Großteil der übrigen Container wird nach Irland befördert.

Der Streik könnte den Handel mit Bekleidung und elektronischen Bauteilen im Wert von mehr als 800 Mio. Euro beeinträchtigen, und dazu führen, dass der Handel auf kleinere Häfen im Vereinigten Königreich sowie auf internationale Häfen wie Wilhelmshaven umgelenkt wird. Die Unterbrechung bedeutet mehr Unsicherheit für Unternehmen und Konsument*innen und könnte die Überlastung der Schifffahrt und die durch die Covid-19-Pandemie verursachten Rückstände nochmals kurzfristig erhöhen.

Derzeit sinken jedoch nach mehr als zwei Jahren die extrem hohen Frachtpreise, die den aktuellen Inflationszyklus eingeleitet hatten. Die durchschnittlichen Kosten für den Transport von Standard-Schiffscontainern liegen jetzt 40% unter dem Höchststand vom September 2021.

Der Rückgang der Transportkosten bringt eine gewisse Entlastung für Hersteller und Einzelhändler. Er deutet auch darauf hin, dass sich der Beitrag des Frachtsektors zur Inflation zumindest abflacht. Importeure und Exporteure verzeichnen jedoch immer noch Frachtpreise, die ein Vielfaches höher liegen als vor der Covid-19-Pandemie, die die Lieferketten weltweit lahmlegte.

Laut Frachtspezialisten gibt es mehrere Gründe für die Preissenkungen in der Seeschifffahrt und im LKW-Verkehr. Ein wichtiger Faktor ist die nachlassende Nachfrage. Die Treibstoffkosten sind zwar hoch, aber aufgrund der höheren Förderung der großen Ölproduzenten, die die Kürzungen der Lieferungen aus Russland ausgleichen, sind auch sie langsam gesunken.

Die Überlastung der Häfen hat sich in den meisten großen internationalen Häfen gelockert, was durch die erhöhte Verfügbarkeit von Schiffscontainern der globalen Reedereien Maersk, CMA-CGM und Hapag-Lloyd begünstigt wurde. Die großen Schifffahrtsunternehmen konnten im vergangenen Jahr den Mangel an Containern auf dem Markt ausgleichen, und haben ihre Kapazitäten durch den Einsatz neuer Schiffe erweitert sowie Aufträge für Hunderttausende neuer Container erteilt, die in die globale Flotte aufgenommen werden sollen.

Paul Davey, Vorstandsmitglied von Hutchinson Ports – das Unternehmen besorgt für den Konzern CK Hutchinson das operative Hafengeschäft – geht davon aus, dass der Streik bei der Felixstowe Dock and Railway Company zwar für die örtlichen Spediteure finanzielle Einbußen mit sich bringt, die Verbraucher*innen im ganzen Land jedoch keine großen Störungen zu spüren bekommen. »Die meisten Container kommen aus dem Fernen Osten. Sie befinden sich in langen Lieferketten. Das wird Auswirkungen haben, aber keine massiven.« Sainsbury‘s, die zweitgrößte Supermarktkette im UK beobachte, so ein Sprecher, die Situation genau und habe Notfallpläne aufgestellt, um die Verfügbarkeit der Produkte zu gewährleisten.

Die britischen Detailhandelsunternehmen werden versuchen, die Fracht über andere Containerhäfen umzuleiten oder alternative Transportmöglichkeiten zu nutzen, um sicherzustellen, dass die Produkte verfügbar bleiben, teilte der für Lebensmittel und Nachhaltigkeit verantwortliche Ressortleiter beim British Retail Consortium mit. »Frische Lebensmittel werden nicht betroffen sein, da der größte Teil davon über den Roll-on-Roll-off-Hafen in Dover läuft.«


Ausweitung der Streikbewegung

Nach den ersten Tagen des Hafenarbeiterstreiks ist keine Annäherung der Positionen in Sicht. Eine Fortsetzung des Streiks bis in den Oktober hinein mit den entsprechenden Rückwirkungen auf den Handel in der Vorweihnachtszeit und mit angekündigten Gegenreaktionen seitens der konservativen Regierung ist nicht ausgeschlossen. Im Containerterminal des Hafens in Liverpool sind die Streikvorbereitungen ebenfalls abgeschlossen.

Mit den Streiks der Hafenarbeiter*innen wird eine Welle von Arbeitskämpfen fortgesetzt, die mit dem Ausstand der Bahnbeschäftigten Ende Juni begonnen hatte. Ein Ende des Arbeitskampfs in diesem Bereich ist ebenfalls nicht absehbar. Die Streikaktionen waren vom 18. Bis 21. August von den Transportgewerkschaften RMT, TSSA und Unite fortgesetzt worden. Das gesamte Londoner Bahn- und U-Bahnnetz war erneut zum Stillstand gekommen.

Die Eisenbahner*innen setzen ihren Streik fort, weil die Verhandlungen mit den zahlreichen privaten Betreibern des Sektors in eine Sackgasse geraten sind. Ein Lohnangebot des Netzbetreibers Network Rail, dem größten Unternehmen der Branche, haben sie abgelehnt, weil nach wie vor keine betriebsbedingten Kündigungen ausgeschlossen werden sollen. Zudem werfen die Gewerkschaften Verkehrsminister Grant Shapps vor, den Unternehmen keine ausreichende Verhandlungsmacht zu geben.

Einige britische Unternehmen hatten sich entschieden, die Löhne zu erhöhen, um Streiks zu vermeiden. Die Beschäftigten eines Betankungsunternehmens am Flughafen Heathrow hatten gedroht, den Flugverkehr lahmzulegen. Auch das Bodenpersonal von British Airways, das zumindest die Wiederherstellung der während der Pandemie um 10% gekürzten Löhne gefordert hatte, stimmte einer 13%igen Lohnerhöhung zu und verzichtete ebenfalls auf Streikmaßnahmen.

Die Streiks erhalten durch das Agieren der britischen Regierung zunehmend eine politische Note. So halten die Gewerkschaften der Regierung vor, dass sie kürzlich das Streikgesetz geändert hat, um den Einsatz von Leiharbeiter*innen als Ersatz für Streikende zu ermöglichen. Das Londoner Luxuskaufhaus Harrods war das erste Unternehmen, das seinen Mitarbeiter*innen mit dem Gesetz gedroht hat, während einige Beschäftigte derzeit darüber abstimmen, ob sie streiken sollen.

In weiteren Branchen sind die Streikvorbereitungen abgeschlossen. Mehr als 115.000 Beschäftigte der Post haben vier Streiktage zwischen Ende August und Anfang September geplant, angeführt von der Branchengewerkschaft CWU, und rund 40.000 Beschäftigte des Telekommunikationsunternehmens British Telecom werden ihren ersten Streik seit 35 Jahren fortsetzen. Auch in den Amazon-Lagern und bei den Reinigungskräften in etlichen Bereichen des öffentlichen Sektors sind Aktionen geplant oder haben bereits stattgefunden.


Tory-Regierung gegen Gewerkschaften

Angesichts der Perspektive einer rezessiven Wirtschaftsentwicklung, von Ernteausfällen aufgrund anhaltender Dürre, Energieknappheit und einem Winter, in dem wegen der drastischen Erhöhung der Lebenshaltungskosten Millionen von Haushalten vor der Frage stehen, Heizen oder Essen, wird die neue Premierministerin mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert sein. Liz Truss, die am 5. September nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses für den Vorsitz der Konservativen Partei ihr neues Amt antritt, wird von Anfang die Konfrontation mit den Gewerkschaften suchen.

Sie hat damit gedroht, wirksame Streiks bei der Bahn zu »verbieten«, indem sie eine »Mindestversorgung« gesetzlich verankern will – ein bisher wenig beachteter Vorschlag im Wahlprogramm der Konservativen von 2019. Sie deutete an, gesetzliche Regelungen, mit denen Unternehmen Streiks unterlaufen können, auf andere Sektoren auszuweiten und die Quoren für Urabstimmungen vor Arbeitskampfmaßnahmen noch einmal zu erhöhen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie sich Lohnforderungen im öffentlichen Sektor, mit denen ein weiteres Absinken der Realeinkommen verhindert werden kann, widersetzen wird.

Eine Inflationsrate, die längere Zeit über 10% verharrt, wird weit über die Bank of England und das Regierungsviertel hinaus Panik auslösen. Die von Truss angekündigten Steuersenkungen (Körperschaftssteuer, Reduzierung von Beiträgen zur Sozialversicherung auch für Wohlhabende) werden nicht zu einer Beruhigung der Inflation beitragen. Der sich abzeichnenden Abfolge von Inflation und weiteren Forderungen nach höheren Löhnen wird sie mit weiteren gesetzlichen Regulierungen der Arbeitsbeziehungen begegnen.

Mit ihrer Unnachgiebigkeit erinnert Truss an Margaret Thatcher, was sie bei der überdurchschnittlich alten Basis ihrer Partei beliebt macht. Es zeichnet sich ab, dass die neue Premierministerin in den kommenden Monaten in die Rolle einer intransigenten Kämpferin schlüpfen wird und die Welle der Arbeitskämpfe mit politisch-repressiven Mitteln zu beenden gedenkt.

Ob sie innerhalb der ersten Monate ihrer Amtszeit zu einer Niederlage gezwungen werden kann, ist offen. Dazu müsste es den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften in einer gemeinsamen Aktion zunächst gelingen, mit den anstehenden Lohntarifabschlüssen einen tiefen Einbruch ihrer Realeinkommen zu verhindern. Auf dieser Basis ist es nicht ausgeschlossen, dass der gewerkschaftliche Widerstand in einem Herbst der Solidarität in eine gesellschaftliche Widerstandsbewegung gegen die regierungsamtliche Austeritätspolitik transformiert werden kann, um die weitere Verarmung breiter Schichten der britischen Gesellschaft zu verhindern. So könnten sich die neuen Anti-Gewerkschaftsgesetze als Pyrrhussieg erweisen für eine konservative Regierung, die vor einer Radikalisierung ihrer  Arbeits-, Sozial- und Gesellschaftspolitik nicht zurückschreckt.

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