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8. Dezember 2019 Otto König/Richard Detje: Erdoğan lässt für kurdische Bürgermeister Zwangsverwalter einsetzen

Vom Volk gewählt, vom Autokraten abgesetzt

Foto: anfdeutsch.com

Im Windschatten des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Grenzstädte und -dörfer in Nord-Syrien[1] verschärften der Autokrat Recep Tayyip Erdoğan und seine Koalitionspartner von der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) die Repression gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei sowie gegen Politiker*innen der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP).

Die Staatsanwaltschaft leitete unter anderem Ermittlungen gegen die Co-Vorsitzenden der HDP, Sezai Temelli und Pervin Buldan sowie weitere Mitglieder der Parteiführung ein, weil sie öffentlich gegen den Krieg eintreten.[2] Im Parlament in Ankara hatte ihre Partei als einzige die gemeinsame Militäraktion der türkischen Armee mit früheren Kämpfern der dschihadistischen Al-Qaida und Al-Nusra gegen die kurdischen YPG-Kämpfer*innen verurteilt. Zu Recht, denn der türkische Angriffskrieg ist ein eindeutiger Verstoß gegen das in Artikel 2.4 der UN-Charta verankerte Gewaltverbot und damit ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts.

Wenige Tage nach dem Einmarsch und dem Beginn der ethnischen Säuberungen wurden die beiden Co-Bürgermeister von Nusaybin an der syrischen Grenze verhaftet und die Stadt unter Zwangsverwaltung gestellt, ebenso die Kommunen Hakkari, Yüksekova und Ercis. Nach den Kommunalwahlen Ende März waren zahleiche Politiker*innen der HDP als gewählte Bürgermeister*innen, die ihre Sitze mit teilweise überwältigendem Vorsprung gewonnen hatten, wieder in die Rathäuser eingezogen.

Viele von ihnen wurden mittlerweile von der Regierung der konservativ-islamistischen »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter von Erdoğans Gnaden ersetzt. In sechs Kommunen konnten die gewählten Bürgermeister ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden die bei der Wahl unterlegenen AKP-Kandidaten ins Bürgermeisteramt gehievt.

Viele kurdische Bürger*innen hatten bei den Kommunalwahlen wieder Hoffnung geschöpft. Das Regime der Zwangsverwalter, das bereits während des zweijährigen Ausnahmezustands nach dem vermeintlichen Putschversuch 2016 in fast allen Gemeinden im Südosten der Türkei eingerichtet worden war, war abgewählt worden. Inzwischen sind von den 66 HDP-Bürgermeister*innen, die am 31. März gewählt wurden, 36 ihres Amtes enthoben worden, gegen 14 von ihnen ist Haftbefehl ergangen, so Saruhan Oluç.

Der stellvertretende HDP-Fraktionsvorsitzende charakterisierte die Einsetzung von Zwangsverwaltern als »den schrittweisen Aufbau eines Regimes, in dem Mandatsträger nicht mehr gewählt, sondern ernannt werden«. Damit werde der Willen der Bevölkerung missachtet und unterdrückt sowie das passive und aktive Wahlrecht abgeschafft. »Die Verfassung und die von der Türkei ratifizierten internationalen Abkommen werden verletzt.«

Hatten Beobachter nach den Niederlagen der »Volksallianz« aus AKP und MHP bei den Kommunalwahlen in Großstädten wie Ankara und Istanbul noch die Hoffnung geäußert, Erdoğan könne sich mäßigen und zu einem etwas moderateren Kurs zurückfinden, belegt sein repressives Vorgehen gegen Regierungskritiker*innen[3] und die HDP, dass er seine Gangart eher noch verschärfen wird.

Während die linke, demokratische Opposition die Maßnahmen der AKP-Regierung als Rachefeldzug für das Kommunalwahl-Desaster der rechten Allianz Ende März interpretiert, setzt der in Istanbul unterlegene Bürgermeisterkandidat und bis 9. Juli 2018 letzte türkische Ministerpräsident Binali Yildirim auf das Totschlag-Argument der »Terrorunterstützung und -propaganda« sowie der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation: »Sie haben illegale Handlungen begangen, etwa den Transfer von staatlichen Ressourcen und Steuermitteln zu der separatistischen Terrororganisation, statt sie zur Entwicklung der jeweiligen Provinz, des Bezirks oder der Stadt einzusetzen.«

Ermittlungen hätten gezeigt, dass diese Gemeinden »zu logistischen Zentren« der PKK geworden seien. Doch das Gegenteil ist der Fall: Tatsächlich wurden in der Zeit der Zwangsverwaltung die kommunalen Kassen geplündert. Die staatlichen Treuhänder hinterließen den neu gewählten Bürgermeister*innen einen Trümmerberg.

Es ist der altbekannte Pfad der türkischen Politik, dass die Kurdenfrage zu einem Terrorproblem erklärt wird. So steht für Erdoğan außer Frage, dass die HDP von der terroristischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gelenkt wird, die ihrerseits mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien verbunden ist. Entsprechend konfrontierte der Autokrat vor dem jüngsten NATO-Gipfel die Regierungschefs der Bündnisstaaten mit der Drohung, sollten sie die YPG nicht als »Terrorgruppe« einordnen, würde die Türkei »den Verteidigungsplan der Nato für Polen und das Baltikum weiter blockieren«.[4]

Der Konflikt mit der Türkei ist in London nicht eskaliert. Öffentliche Kritik am Terrorismus-Verständnis der Regierung der Türkei war Frankreichs Präsident Macron vorbehalten (»das ist ein strategisches Problem«). Doch die überwiegende Mehrheit der Repräsentanten der NATO-Staaten hüllte sich gegenüber der türkischen Expansion im Landstreifen zwischen Tal Abyad und Ras al Ain in Nordsyrien in beredtes Schweigen, was Erdoğan wohl dahingehend interpretiert, dass ihm weiterhin freie Hand gelassen wird.

Menschenrechtsorganisationen haben nicht nur den systematischen Beschuss ziviler Wohngebiete dokumentiert, sondern auch die widerrechtliche Inbesitznahme privater Wohnhäuser und Geschäftsräume durch die arabischsprachigen Milizen, eine Vielzahl an Plünderungen sowie mindestens sieben Mordaktionen an kurdischen Gefangenen und zivilen Aktivisten. Die AKP-Regierung hat inzwischen begonnen, syrisch-arabische Flüchtlinge aus der Türkei in die besetzten Gebiete abzuschieben, aus denen syrisch-kurdische Einwohner zuvor systematisch vertrieben wurden.

Ist die Absetzung der Bürgermeister*innen, die der HDP angehören, anfangs noch landes-weit auf Empörung gestoßen, sind inzwischen die Reaktionen auch aus der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) zurückhaltender geworden. Zwar kritisierte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu »die Entlassung von Bürgermeistern und die Ernennung von Zwangsverwaltern an ihrer Stelle (stehe) im Gegensatz zur Demokratie«.

Gleichzeitig machte er jedoch deutlich, dass er die Proteste der Kurden dagegen nicht befürworte (Spiegel online vom 6.11.2019). Zwar will die CHP nicht die Unterstützung der HDP verlieren, mit deren Stimmen der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu in Istanbul zum Bürgermeister gewählt worden war, allerdings auch nicht die rechtskonservative Iyi Partei, ihren offiziellen Bündnispartner in der Opposition. Letztere unterstützt Erdoğans Kurdenpolitik und stellte sich gemeinsam mit der CHP hinter den Einmarsch in Nordsyrien.

»Die Gerechtigkeit ist tot, doch ich habe geschwiegen, weil ich nicht betroffen war. Jetzt lasse ich sogar von Twitter die Finger und habe Angst vor der Polizei meines Landes«, rappt Saniser mit 17 Kollegen auf dem millionenfach aufgerufenen Video »Susamam« – »Ich kann nicht schweigen«. Sein Song, in dem es um Gewalt gegen Frauen, Umweltzerstörung, Zensur und Staatsterror geht, ist eine Abrechnung mit dem autoritären Kurs des türkischen Präsidenten. Der Appell der 18 türkischen Rapper, endlich »den Mund aufzumachen«, ist zugleich eine Absage an die unter anderem von Kilicdaroglu praktizierte leisetreterische Politik.

Der im deutschen Exil lebende, ehemalige Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, schreibt in der Zeit: »Jetzt verlieren die Kurden der Reihe nach ihre Errungenschaften auf nationaler und lokaler Ebene und damit auch ihren Glauben an Wahlen. So fragen sie sich, ob es noch Sinn mache, weiterhin eine Alibi-Rolle in diesem ›Demokratietheater‹ zu übernehmen.« (20.11.2019) Tatsächlich wurde auf einem Kongress der HDP Ende November in Ankara heftig die Frage debattiert, ob sich die Partei aus dem nationalen Parlament zurückziehen soll, um zum einen ein Zeichen zu setzen und zum anderen Nachwahlen zu erzwingen. Denn wenn mehr als 30 Parlamentssitze vakant sind, schreibt das Gesetz Nachwahlen vor. Die HDP hat 62 Abgeordnete in der Großen Nationalversammlung.

Aufgrund der Sorge, dass der Schuss nach hinten losgehen könnte und auch die noch verbliebenen Ämter verloren gehen, wurde diese Strategie verworfen. Stattdessen hat die HDP-Führung dazu aufgerufen, »kollektiv« die Demokratie zu verteidigen, in der Hoffnung, dass sich auch die anderen Oppositionsparteien, insbesondere die kemalistische CHP, stärker solidarisieren. Schließlich dürfte in deren Reihen nicht vergessen sein, dass deren Vorsitzende in Istanbul, Canan Kaftancioglu, zu fast zehn Jahren Haft verurteilt wurde, weil eine Reihe ihrer Tweets aus den Jahren 2012 bis 2017 von einem Gericht teilweise als »terroristisch« eingestuft worden sind.

Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind zwar erst für 2023 angesetzt. Dennoch wird Erdoğan in der verbleibenden Zeit alles erdenkliche unternehmen, um einen Keil zwischen HDP und CHP zu treiben, um die Opposition zu schwächen. Um den Autokraten zu bezwingen, braucht es jedoch eine geeinte und starke Opposition.

Das vor der jüngsten Istanbul-Wahl entstandene Klima der Solidarität und die Hoffnung auf eine demokratische Lösung muss ausgebaut werden. Sollten sich die CHP und HDP in der Kurdenfrage jedoch nicht auf eine gemeinsame Linie einigen, könnte die nächste Präsidentschaftswahl im »Fiasko für die Opposition« enden.

Anmerkungen

[1] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Erdoğans völkerrechtwidriger Angriffskrieg in Syrien. Der dreifache Verrat, Sozialismus.deAktuell vom 24.10.2019.
[2] Vier Monate nach der Niederschlagung des »Militärputsches« vom 15. Juli 2016, ein »Geschenk Gottes«, so Erdoğan, wurde die Führung der HDP mit den beiden Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas’ und Figen Yüksekdağ wegen des Vorwurfs der »Propaganda für eine Terrororganisation« verhaftet. Im September 2018 wurde Demirtas für eine Rede, die er im Jahr 2013 gehalten hatte, wegen Terrorpropaganda zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Im Hauptverfahren steht ein Urteil noch aus. Der Staatsanwalt hat eine Gefängnisstrafe von 142 Jahren gefordert. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass die lange Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt und die Freilassung erforderlich ist, wurde er nicht aus dem Hochsicherheitsgefängnis im westtürkischen Edirne entlassen. Vor kurzem hat seine Schwester und Anwältin, Aygül Demirtas, Alarm geschlagen: Der Politiker soll schwer krank sein und sogar kurzzeitig das Bewusstsein verloren haben, dennoch wurde ihm eine Behandlung verweigert. Erst nachdem zwei HDP-Abgeordnete im Gefängnis nach Demirtas sehen wollten, wurde er in ein Krankenhaus gebracht.
[3] Die Kampagnen gegen türkische Regierungskritiker*innen werden fortgesetzt, auch wenn sie längst im Ausland leben. Das zeigt die Tatsache, dass aktuell 62 deutsche Bürger*innen in der Türkei inhaftiert sind. Dazu kommen weitere Fälle, in denen Betroffene zwar nicht im Gefängnis sitzen, aber angeklagt und mit Ausreiseverbot belegt sind.
[4] Die Bundesregierung hat die Türkei in ihrer Kurden-Politik seit jeher unterstützt. Seit 1993 ist in Deutschland die PKK verboten. Später wurde das Zeigen von Öcalan-Bildern auf Demonstrationen unter Strafe gestellt. 2017 ist das Verbot des Zeigens von Symbolen legaler kurdischer Organisationen hinzugekommen.

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