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3. Mai 2023 Danai Koltsida: Richtungsentscheidung auch für Europa

Vor den Parlamentswahlen in Griechenland

Alexis Tsipras bei einer Debatte im Europäischen Parlament; Quelle: flickr.com.

Am 21. Mai finden in Griechenland Parlamentswahlen statt. Nach fast vier Jahren Einparteienregierung unter dem rechtsgerichteten Premierminister Kyriakos Mitsotakis steht für die politische Linke viel auf dem Spiel.

Mitsotakis kam im Juli 2019 an die Macht und löste die SYRIZA-Regierung der turbulenten Jahre 2015-2019 ab. Seit ihrem Wahlsieg hat die von der konservativen Partei Nea Demokratia (ND) gestellte Regierung gezeigt, dass sie eine spezifisch griechische Version des autoritären Neoliberalismus verfolgt – den »Neoliberalismus à la grecque«.


Vier Jahre autoritärer Neoliberalismus

Auf wirtschaftlichem Gebiet vollendete die Regierung den neoliberalen Angriff auf alles, was nach einem Jahrzehnt der Austerität noch an sozialen Rechten und öffentlichen Gütern übrig geblieben war. Dazu gehört auch die Rücknahme praktisch aller Maßnahmen zugunsten der Lohnabhängigen, die die SYRIZA-Regierung in harten Verhandlungen mit der Gläubigertroika durchgesetzt hatte.[1] Im sozialen und politischen Bereich wurden die Angriffe auf die bürgerlichen Freiheiten verschärft. Die Liste der Maßnahmen ist lang und reicht von einer neuen Gesetzgebung, die praktisch alle sozialen Proteste illegalisiert, bis zur Schaffung einer Sonderpolizei für die Universitäten.

Gleichzeitig – und das erklärt das Attribut »à la grecque« – hat sich die rechte Regierung als eine der korruptesten erwiesen, die das Land je gesehen hat: Rechenschaftspflicht und Transparenz bei der Verwendung öffentlicher Gelder scheinen für die Regierungspartei ein Fremdwort zu sein, während kleinere und größere Skandale um ihre Verbindungen zu Interessengruppen und die wirtschaftlichen Aktivitäten einiger Mehrheitsabgeordneter an der Tagesordnung sind.

Die Covid-19-Pandemie erwies sich als Katalysator für die politischen Entscheidungen. Der Ausnahmezustand wurde benutzt, um praktisch alles zu rechtfertigen: von der Direktvergabe öffentlicher Aufträge ohne öffentliche Ausschreibung bis hin zur Verhängung irrationaler Ausgangssperren oder anderer restriktiver Maßnahmen.

Die Tatsache, dass Maßnahmen zur sozialen Distanzierung über einen langen Zeitraum hinweg die direkte soziale Interaktion verhinderten, verstärkte zudem den Einfluss der Massenmedien – und das zu einer Zeit, in der Griechenland auf Platz 108 in der Rangliste der weltweiten Pressefreiheit zurückfiel (von Platz 70 im Jahr 2021) und damit auf den letzten Platz unter den EU-Mitgliedstaaten.


Drei wichtige Entwicklungen in jüngster Zeit

Schematisch könnte man sagen, dass drei schnell aufeinander folgende Entwicklungen der letzten Monate Mitsotakis und seine Regierung um die drei zentralen vermeintlichen Erfolge gebracht haben, die sie in den Vordergrund gestellt hatten.

Erstens haben der Preisanstieg und die explodierende Inflation, die nicht nur die ärmsten Haushalte, sondern auch große Teile der Mittelschicht und der kleinen und mittleren Unternehmen getroffen haben, das soziale Bündnis traumatisiert, das die ND mit dem Versprechen, die »Mittelschicht« zu unterstützen, um sich geschart hatte. Griechenland gehört zu den EU-Ländern, die im Kampf gegen die Auswirkungen der Inflation am schlechtesten abschneiden. Darüber hinaus drohte die Tatsache, dass die griechischen Haushalte und kleinen und mittleren Unternehmen aufgrund der vorangegangenen Austeritätspolitik aus einer deutlich schlechteren Ausgangsposition in diese neue Phase der Wirtschaftskrise eingetreten sind, die Wirtschaftskrise zu einer sozialen und humanitären Krise werden zu lassen.[2]

Zweitens hat der jüngste Abhörskandal das Profil von Mitsotakis als moderater, liberaler europäischer Regierungschef erheblich beschädigt und seine Beziehungen zu den eher zentristischen Teilen seiner Wählerschaft beeinträchtigt. Darüber hinaus hat die Tatsache, dass eines der Opfer der Vorsitzende der PASOK war, eine mögliche Koalitionsregierung zwischen ND und PASOK erschwert.

Das ganze Ausmaß des Skandals ist noch unklar und es kommen ständig neue Beweise ans Licht. Der Kern des Skandals besteht darin, dass die Kommunikation einer Reihe von Personen (führende Politiker, Minister und andere Beamte, hochrangige Militäroffiziere, Journalisten, Geschäftsleute usw.) illegal überwacht wurde, entweder mit Hilfe der Spionagesoftware Predator oder direkt durch den zentralen Geheimdienst EYP, ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gab. Darüber hinaus wurden investigative Journalisten und der Leiter der unabhängigen Datenschutzbehörde als Teil eines Vertuschungsversuchs ins Visier genommen. Der Skandal hat international große Aufmerksamkeit erregt, und das Europäische Parlament und die Kommission haben wiederholt Initiativen zu diesem Thema ergriffen.

Drittens hat das jüngste Zugunglück bei der Ortschaft Tempi – wie schon zuvor die hohe Zahl der Todesopfer während der Pandemie trotz einer der strengsten Lockdowns in Europa – erhebliche Zweifel an Mitsotakis' Image als »guter Manager« aufkommen lassen und ihm damit den letzten Trumpf aus der Hand geschlagen. Bei dem schweren Unglück waren in der Nacht zum 28. Februar in der Nähe der zentralgriechischen Stadt Larissa zwei Züge zusammengestoßen, wobei 57 Menschen ums Leben kamen. In den darauf folgenden Tagen kam es im ganzen Land zu großen Protesten, der Generalstreik am 8. März war eine der massivsten Protestaktionen der letzten zehn Jahre.

Das Zugunglück hatte mehrere politisch relevante Aspekte. Es war nicht unvorhersehbar. Bahngewerkschaften und Oppositionsparteien hatten wiederholt vor gravierenden Mängeln bei den Sicherheitsvorkehrungen gewarnt. Die Bahnverwaltung und die Regierung kannten also die Risiken, ignorierten sie aber, so dass ihre Verantwortung für das Unglück in der Öffentlichkeit von der ersten Minute an klar war.

Es wurde offensichtlich, wie wichtig qualitativ hochwertige öffentliche Dienstleistungen sind. Die Privatisierung des Schienenverkehrs war eine der Voraussetzungen für die Rettungsprogramme, während die Infrastruktur in staatlicher Hand blieb. Die Tatsache, dass die Ursachen des Unfalls in der Infrastruktur lagen, führte zu einer Debatte mit tiefen ideologischen und politischen Wurzeln. Die Rechte forderte die vollständige Privatisierung des Verkehrs und anderer wichtiger Dienstleistungen, da der Staat sich als unfähig erwiesen habe, während ein großer Teil der Linken vorschlug, wichtige Güter und Dienstleistungen wieder in öffentliches Eigentum zu überführen, wobei SYRIZA die Bedeutung einer Reform der öffentlichen Verwaltung hervorhob, um effizienter zu werden.

Fast jeder in Griechenland war betroffen. Die Tatsache, dass die meisten Opfer junge Studierende waren, die nach einem langen Wochenende zu ihren Eltern zurückkehrten, führte dazu, dass sich fast alle mit ihnen identifizierten. Das Motto der Proteste, an denen sich vor allem die griechische Jugend in beeindruckender Zahl beteiligte, war »Ruf mich an, wenn du kommst«, ein in Griechenland weit verbreiteter Gruß in der Familie und unter Freunden.


Wahlperspektiven

Vor diesem politischen Hintergrund finden am 21. Mai die griechischen Parlamentswahlen statt. Derzeit deuten die Umfragen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der ND und SYRIZA hin,[3] aber die Tatsache, dass erstmals ein Verhältniswahlsystem zur Anwendung kommt, wird die Parteien zwingen, nach Bündnissen zu suchen. Sollte es zu keiner Einigung kommen, wird am 2. Juli ein zweiter Wahlgang stattfinden, dann allerdings nach dem Mehrheitswahlrecht.

Während die Popularität und die Unterstützung für die ND und Mitsotakis kontinuierlich und deutlich gesunken sind, hat sich noch keine klare Wahlalternative herauskristallisiert. SYRIZA ist in der Wählergunst stabil und langsam im Aufwind, konnte aber zumindest bisher nicht in vollem Umfang von den Verlusten der ND profitieren. Ihre Regierungsvergangenheit und ihre »Catch-all«-Strategie sowie die Tatsache, dass der Wettbewerb auf der linken Seite des politischen Spektrums härter geworden ist, da den Wähler*innen mehr linke Parteien zur Auswahl stehen, scheinen es SYRIZA schwer zu machen, eine stabile Wählerbasis aufzubauen.

Zudem hat sich das griechische Parteiensystem noch nicht vollständig vom Wahlbeben 2012 erholt. Der Neuorientierungsprozess der Wähler*innen ist noch nicht abgeschlossen. Die Parteibindung ist eher gering, was vor allem bei den SYRIZA-Wähler*innen auch daran liegt, dass deren Wählerschaft ohnehin eher »jung« ist, da SYRIZA erst nach 2012 gegründet wurde und sich fast jede*r vierte Wähler*in erst im letzten Monat vor dem Wahltag entscheiden wird.

Der Ausgang der bevorstehenden Wahlen muss daher als völlig offen betrachtet werden. Es wird auf jeden Fall ein knappes Rennen geben, aber wer gewinnt und wer nach dem ersten oder gar einem zweiten Wahlgang eine Regierung bilden kann, steht noch nicht fest.

Die soziale und politische Unzufriedenheit ist groß, aber im Moment noch leise und ohne klare Vertretung. Ob, wie, gegen wen und von wem diese Unzufriedenheit bei den Wahlen zum Ausdruck gebracht wird, ist die große Frage der kommenden Wahlen. Die Chancen stehen gut, dass sich die Wähler*innen letztlich für die Teilnahme an den Wahlen entscheiden, um ihre Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck zu bringen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass SYRIZA von den Wahlen profitieren wird, da sie die beste Regierungsalternative darstellt und somit eine reelle Chance auf den Sieg hat, aber auch die extreme Rechte könnte deutliche Zugewinne verzeichnen und die Wahlbeteiligung sinken. Die Wahlbeteiligung oder Wahlenthaltung der Jugendlichen, die die Protagonisten der jüngsten sozialen Proteste waren und normalerweise eher die Linke wählen, wird ebenfalls ein entscheidender Faktor sein.[4]


Ein Kampf für Griechenland und ein Kampf für Europa

Der Ausgang dieser Wahl ist nicht nur für Griechenland, sondern auch für Europa entscheidend. Die griechische Gesellschaft ist für einen politischen Wandel und fordert Gerechtigkeit auf allen Ebenen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens.

Gleichzeitig können die europäische Gesellschaften – und insbesondere die europäische Linke und die fortschrittlichen Kräfte – nicht ignorieren, dass Griechenland im Falle einer Verlängerung des Mandats der derzeitigen Regierung immer weiter in Richtung Autoritarismus abdriftet. Und das zu einer Zeit, in der ein europäisches Land nach dem anderen einen Rechtsruck erlebt. Der jüngste Besuch von Alexis Tsipras in Berlin und seine Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz und der deutschen Linken zeigen, dass sich viele progressive politische Kräfte dessen bewusst sind. Der Kampf der griechischen Linken ist ein Kampf für Griechenland und ein Kampf für Europa.


Anmerkungen

[1] Für weitere Details siehe: Achtsioglou, E., »SYRIZA and the social issue«, in: Douzinas, C., Bartsides, M. (Hrsg.), Thinking Left Governmentality: The SYRIZA Experience 2015-2019, transform! europe/Nicos Poulantzas Institute, 2022 und Karamessini, M., »Mass unemployment and poverty, and welfare state reform: the governmental experience of SYRIZA«, ebd.; vgl. auch Koltsida, D.: Griechenland: Nach 10 Jahren wieder auf dem richtigen Weg, transform! europe, Blog-Beitrag 12.2.2019.
[2] Vgl. Pierros, C., Theodoropoulou, S.: Inflation and counter-inflationary policy measures: The case of Greece. IMK-Study No. 83-2, November 2022, Hans-Böckler-Stiftung.
[3] Laut der regelmäßigen Analyse der Umfragen, die das Nicos-Poulantzas-Institut veröffentlicht, liegt die ND für den Zeitraum zwischen Dezember 2022 und April 2023 um 2,3 Prozentpunkte vor Syriza, allerdings mit abnehmender Tendenz. Vgl. : Koltsida, D., Poulakis, K., Εκλογικές Τάσεις #13 [Wahltrends #13], Nicos-Poulantzas-Institut, 13.4.2023.
[4] Laut der letzten Welle der jährlichen Umfrage des Nicos Poulantzas Instituts zum Thema Jugend und Politik, die nur wenige Tage vor dem Zugunglück in Tempi (Februar 2023) durchgeführt wurde, antworteten 96,0% der jungen Wähler*innen (17-34 Jahre), dass sie bei den kommenden Wahlen »sicher« oder »höchstwahrscheinlich« wählen werden. 89,2% gaben an, dass sie »sehr interessiert« oder »interessiert« an der bevorstehenden Parlamentswahl sind. Was ihre Wahlpräferenzen angeht, haben sich 27,7% für SYRIZA und 19,7% für die ND entschieden.


Danai Koltsida
, Juristin und Politikwissenschaftlerin, ist derzeit Direktorin des Nicos Poulantzas Instituts und Vizepräsidentin von transform! europe. Ihr Beitrag erschien zuerst am 25. April 2023 unter dem Titel A Crucial Battle for Greece and For Europe im Blog von transform! europe (Übersetzung: Hinrich Kuhls). Ihre Analyse »Die Linksparteien in einem turbulenten Jahrzehnt (2010–2020)« erschien in dem von ihr zusammen mit Cornelia Hildebrandt und Amieke Bouma herausgegebenen Sammelband Left Diversity zwischen Tradition und Zukunft. Linke Parteienprojekte in Europa und ihre Potenziale, Hamburg 2021: VSA: Verlag.

 

 

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