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30. August 2022 Hinrich Kuhls: Regulierung der Energiepreise und Energiegewinnabgabe

Vor einem Winter der Entbehrungen in Großbritannien

Die britische Regulierungsbehörde für die Energiemärkte hat am 26. August die neuen Verbraucherpreise für Strom und Gas bekannt gegeben. Die Anhebung um 80% bringt Millionen Haushalte in existenzielle Not.

Die Gas- und Stromrechnung für den Durchschnittsverbrauch eines Haushalts wird ab Oktober von derzeit 1.971 Pfund auf 3.549 Pfund pro Jahr ansteigen. Jüngsten Branchenprognosen zufolge könnte die Energierechnung für einen durchschnittlichen Haushalt (»Preisobergrenze«) im April 2023 dann auf 6.600 Pfund pro Jahr ansteigen, was mehr als eine Verfünffachung gegenüber dem Rechnungsbetrag von 1.277 Pfund im Oktober 2021 ist.

Der direkte Inflations-Effekt für den Verbraucherpreisindex CPI wird mit drei Prozentpunkten geschätzt, so dass die Teuerungsrate für Konsumentenausgaben von 10,1% im Juli auf mindestens 13% im Oktober ansteigen wird. Da bei Lebensmitteln, Bekleidung, Benzin und Tickets im ÖPNV kein Nachlassen des Teuerungsdrucks in Sicht ist, wird für die erste Jahreshälfte 2023 eine Inflationsrate von 18% prognostiziert.

Die desolate Tory-Regierung schweigt sich bisher aus, ob – und wenn ja, mit welchen Hilfspaketen – sie der beschleunigten Verarmung breiter Schichten der britischen Bevölkerung begegnen will. Die in Kürze ihr Amt antretende neue Premierministerin Liz Truss hatte sich in den Wochen der parteiinternen Auseinandersetzung um die Nachfolge Johnsons nicht zum Thema geäußert, kündigte jetzt aber eine »nukleare« Lösung des Problems in der ersten Woche nach ihrem Amtsantritt an.


Die Regulierung der Energiemärkte in Britannien

Die Lieferung und Erzeugung britischer Elektrizität wurde 1989 durch das Elektrizitätsgesetz (Electricity Act 1989) privatisiert, und das Gasgesetz von 1986 privatisierte die British Gas Corporation. Laut Truss ist das eine der »größten Errungenschaft« der Thatcher-Ära.[1] Nach der Privatisierung blieben die Stromkund*innen zunächst bei einem der 14 regionalen Anbieter und die Gaskund*innen bei ihrem jeweiligen landesweiten Unternehmen British Gas bzw. Scottish Gas, bis sich weitere Anbieter auf dem Markt etablieren konnten, und zwar nicht zu wenige. Wie auch bei der Deregulierung der Finanzmärkte war es die New-Labour-Regierung, die den Boden für einen nahezu unkontrollierten Wettbewerb im Energiesektor bereitete. Im Zuge dieses Umbaus der Märkte wurde die »Regulierung« der privaten Energiemärkte im Jahr 2000 von den Vorgängerbehörden auf das Office of Gas and Electricity Markets (Ofgem) übertragen.

Mit dem Anstieg der Großhandelspreise 2021 brach die in den Vorjahren erreichte Konsolidierung des deregulierten Marktes zusammen und es kam zu einem Rekord an »Lieferantenaustritten« bzw. Konkursen. Anfang 2021 gab es noch 47 inländische Anbieter im UK – fünf große, zwölf mittlere und 30 kleine Unternehmen. Gegen Ende des Jahres waren nur noch 28 Anbieter auf dem Markt. Die meisten Kund*innen sind zu größeren Anbietern gewechselt, so dass der Marktanteil der Gruppe der großen Anbieter binnen eines Jahres von 68,5% auf 70,1% angestiegen ist.

Aufgrund von Bedenken, dass der Energiemarkt nicht für alle Kunden funktioniert, hatte Ofgem schon im Juni 2014 die Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde (CMA) aufgefordert, den Energiemarkt zu überprüfen. Der Bericht der CMA ergab, dass die Kund*innen jährlich rund 1,4 Mrd. Pfund zu viel für Energie bezahlten. Viele Kund*innen wechselten trotz der Privatisierung nicht ihr Versorgungsunternehmen und verblieben in den Standardtarifen, häufig bei einem der sechs großen Anbiete, die ihnen keine günstigeren Tarife angeboten hatten.

Die CMA hatte neue Maßnahmen vorgeschlagen, um den Markt zu reformieren und die Wechselbereitschaft zu erhöhen. Zu den Empfehlungen gehörte eine Preisobergrenze für die vielen Haushalte, die im UK mit Vorauszahlungszählern ausgestattet sind. Sie wurde 2017 eingeführt. Eine Erweiterung dieser Obergrenze (die von der CMA nicht ausdrücklich empfohlen worden war), der so genannte Schutztarif, trat im Februar 2018 in Kraft und sicherte bedürftigen Personen die Übernahme der Kosten zu, die über eine Grundversorgung hinausgingen. Diese beiden Obergrenzen wurden mit der Obergrenze für den Standardtarif zusammengelegt.


Die »Obergrenze« für den Standardtarif

Auch im UK setzen sich die Energierechnungen aus einer Vielzahl von Kosten zusammen, darunter Großhandels-, Netz-, Sozial- und Umweltkosten sowie andere direkte Kosten plus Mehrwertsteuer und Gewinne der Versorger. Desgleichen sind die Gründe für das Steigen und Sinken der Energierechnungen nicht weniger komplex und die Berechnungen nicht weniger intransparent. Anders als in anderen Ländern werden die erhöhten Großhandelspreise schneller durchgereicht, auch seit Beginn der neuen Phase der Regulierung.

Zudem fällt im Unterschied etwa zur Situation in Deutschland der »zeitliche Puffer« wegen nachlaufender Heizkostenabrechnungen bei Mietwohnungen kaum ins Gewicht, weil zum einen der Anteil selbst genutzten Wohneigentums viel höher liegt, und zum anderen auch Mietwohnungen wegen der verbreiteten Ausstattung mit Gasheizungen und Verbrauchsuhren unmittelbar mit Preiserhöhungen konfrontiert sind.

Obwohl die CMA es nicht als Empfehlung ausgesprochen hatte, war eine allgemeine Tarifobergrenze schon seit Anfang des letzten Jahrzehnts – mit dem Beginn der anhaltenden Phase rückläufiger Realeinkommen – ein wichtiges politisches Thema. Sowohl im Manifest der Labour Party als auch im Wahlprogramm der Konservativen Partei für die Parlamentswahl im Mai 2017 war sie als Forderung enthalten. Im folgenden Oktober brachte die damalige Regierungschefin Theresa May dann den entsprechenden Gesetzentwurf zur »Einführung einer vorübergehenden Preisobergrenze für Energierechnungen« ein. Das Gesetz trat am 19. Juli 2018 als Domestic Gas and Electricity (Tariff Cap) Act in Kraft.

Seit dem 1. Januar 2019 werden die Standardtarife für elf Mio. Haushalte von der Regulierungsbehörde festgelegt. »Obergrenze« ist nicht als Kappungsgrenze der Gesamtrechnung zu verstehen. Vielmehr legt die Regulierungsbehörde den Preis pro Kilowattstunde fest. Der Jahresverbrauch eines angenommenen Durchschnittshaushalts wird zwecks besserer Veranschaulichung dann als »Obergrenze« definiert. Je nach abweichendem Verbrauch haben die Haushalte aller Größenklassen auch im UK selbstverständlich mehr oder weniger hohe Strom- und Gasrechnungen zu begleichen.

Die Höhe der Obergrenze wurde zunächst zweimal im Jahr, seit Sommer 2022 jedes Quartal neu festgelegt. Ursprünglich sollte die staatliche Regulierung der Energiepreise 2020 auslaufen, doch die Tory-Regierung hatte sie während der Corona-Pandemie verlängert. Sie hat nun verlauten lassen, dass sie über 2023 hinaus verlängert werden soll.

Bei der aktuellen Erhöhung, die zum Oktober in Kraft tritt, hat Ofgem für die Standardtarife bei Strom den Preis pro Kilowattstunde mit 52 Pence und bei Gas mit 14 Pence festgesetzt. Multipliziert mit dem teils berechneten, teils geschätzten Jahresverbrauch eines Durchschnittshaushalt plus den Grundtarifen von 46 Pence (Strom) und 28 Pence (Gas) pro Tag ergibt das die »Preisobergrenze« von 3.549 Pfund pro Jahr.


Die Energiegewinnabgabe

Unternehmen, die in der Nordsee fossile Energien abbauen, zahlen drei separate gewinnabhängige Steuern auf die Öl- und Gasförderung: die allgemeine Körperschaftssteuer von 25%, die Zusatzabgabe von 10% und die Petroleum Revenue Tax (PRT) in Höhe von 5%. Die Gesamteinnahmen aus diesen Steuern beliefen sich im Jahr 2021/22 auf 3,1 Mrd. Pfund. Die Einnahmen aus den Steuern auf die Gewinne aus der Öl- und Gasförderung in der Nordsee schwankten in den letzten 30 Jahren erheblich und folgten der Entwicklung auf dem Weltmarkt. In den letzten zehn Jahren sind die Einnahmen drastisch  zurückgegangen, von 10,6 Mrd. im Haushaltsjahr 2008/9 auf 0,6 Mrd. 2019/20. Bezogen auf das BIP sind die Steuereinnahmen von 0,7% (2008/09) auf 0,03% (2019/20) gesunken. Laut dem Office for National Statistics (ONS) ist dieser Rückgang größtenteils auf eine sinkende Produktion und auf höhere steuerlich absetzbare Ausgaben zurückzuführen.

Die Preise für Benzin und Diesel waren schon vor Russlands Invasion der Ukraine stark gestiegen. Deswegen waren die Steuereinnahmen aus der britischen Öl- und Gasförderung von 0,4 Mrd. Pfund im Jahr 2020/21 um das Achtfache auf 3,1 Mrd. Pfund im Jahr 2021/22 hochgeschnellt. Die Haushaltsaufsichtsbehörde OBR (Office for Budget Responsibility) hatte im Rahmen der Begutachtung der Haushaltspläne der Tory-Regierung für 2022/23 prognostiziert, dass die Steuern aus dieser Branche auf 7,8 Mrd. Pfund steigen werden.

Nach Spekulationen, dass die Regierung als Reaktion auf den weiteren abrupten Anstieg der Weltmarktpreise für Öl und Gas und den daraus resultierenden Anstieg der Gewinne aus der Öl- und Gasförderung in der Nordsee eine einmalige »Windfall Tax« einführen würde, gab der damalige Finanzminister Rishi Sunak am 26. Mai 2022 eine Erklärung ab. Er kündigte eine neue Energiegewinnabgabe an, die mit einem Satz von 25% auf die Gewinne aus der Öl- und Gasförderung erhoben wird. Die Abgabe gilt für Gewinne, die ab dem 26. Mai 2022 anfallen.

Das Finanzministerium schätzt, dass die Abgabe in den ersten 12 Monaten zusätzlich rund fünf Mrd. Pfund einbringen wird. Die Gesamtsteuerlast auf Gewinne aus der britischen Gas- und Ölförderung beläuft sich damit auf 65%. Verlustvorträge aus Vorjahren sind nicht anrechenbar. Im Gegenzug erhalten die Unternehmen eine Investitionszulage von 80% für Neuinvestitionen in die Öl- und Gasförderung im UK, womit die Tory-Regierung ihre Ziele der Dekarbonisierung unterläuft. Das Gesetz, das am 14. Juli 2022 in Kraft getreten ist, zeigt andererseits, dass entgegen der Behauptung aus Wirtschaftskreisen und Politik eine zusätzliche Abgabe auf Gewinne (»Übergewinnsteuer«) und deren Zweckbestimmung sehr genau definiert werden können, ohne dass das allgemeine Wettbewerbsrecht im Rahmen einer Marktwirtschaft beschädigt wird.


Die bisherigen Hilfspakete

Die Einnahmen aus der Energiegewinnabgabe abzüglich der Investitionszulagen dienen der Teilfinanzierung der Hilfsmaßnahmen, die die Tory-Regierung zur Unterstützung der privaten Haushalte im Frühjahr angekündigt und sukzessiv umgesetzt hat. Die Ausgaben für das Unterstützungspaket werden auf 37 Mrd. Pfund geschätzt. Der Beitrag der Energiegewinnabgabe zur Finanzierung des Hilfspakets hält sich in bescheidenen Grenzen, was in ähnlichen Größenordnungen auch in anderen Ländern zutreffen dürfte. Im UK jedenfalls wird der Betrag je nach Höhe der zu zahlenden Subventionslagen erheblich unter fünf Mrd. Pfund liegen. Die bisher beschlossenen Unterstützungen sind:

  • 400 Pfund Ermäßigung auf Energierechnungen für alle Haushalte, auszahlbar in sechs Monatsraten in Höhe von 67 Pfund ab Oktober (Gesamtvolumen 11,7 Mrd. Pfund);
  • 650 Pfund für Haushalte, die bedürftigkeitsabhängige Leistungen erhalten, mit zusätzlichen Zahlungen in Höhe von 300 Pfund für Rentner*innen und 150 Pfund für Personen, die wegen eines Handicaps Leistungen erhalten;
  • eine Ermäßigung der Gemeindesteuer in Höhe von 150 Pfund für Haushalte der vier (von acht) unteren Steuerklassen A-D. Für eine Wohnimmobilie mit einem Einheitswert zwischen 68.000 und 88.000 Pfund (Steuerklasse D) sind im Landesteil England derzeit 1.671 Pfund pro Jahr zu entrichten;
  • eine Senkung der Mineralölsteuer um 5 Pence;
  • eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, ab der Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen sind.

Andererseits wurden im April 2022 die Einkommenssteuer und die Sozialversicherungsbeiträge (NICs) angehoben. Unter Berücksichtigung dieser Änderungen beläuft sich das Nettoniveau der staatlichen Ausgaben zur Abfederung der Krise der Lebenshaltungskosten im Jahr 2022/23 bisher auf rund 14 Mrd. Pfund.

Nach Angaben des ONS gaben 89% der Bevölkerung über 18 Jahre an, dass ihre Lebenshaltungskosten im Juli 2022 gestiegen sind. Die realen Haushaltseinkommen werden 2022 sinken. Im August rechnete die Bank of England damit, dass die Haushaltseinkommen im Durchschnitt nach Steuern um 1,5% sinken werden. Für 2023 wird ein Rückgang um weitere 2,25% prognostiziert und für 2024 von dieser niedrigen Ausgangsbasis ein Anstieg um 0,75%

Haushalte mit niedrigem Einkommen geben überdurchschnittlich viel für Energie und Lebensmittel aus und sind daher von Preissteigerungen betroffen. Die Resolution Foundation schätzt, dass das ärmste Fünftel der Haushalte die nicht unbedingt lebensnotwendigen Ausgaben um 24% einschränken muss, um sich den Anstieg der Energierechnungen im Zeitraum Januar-März 2023 leisten zu können.

Angesichts der im Vergleich zu anderen Ländern schlechten Wärmedämmung der Wohnungen und des hohen Gasbedarfs werden weitere Hilfspakete der Tory-Regierung eine ganz andere Dimension als die bisher veranschlagten 14 Mrd. Pfund erreichen müssen, um das Existenzminimum für einen Großteil der Bevölkerung gewährleisten zu können. Es wird insofern »nuklear« sein, als es mit den neoliberalen Kernvorstellungen der Tories zur Rolle des Staats bei der Aufrechterhaltung der sozialen Infrastruktur kollidieren wird.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit hat die designierte Regierungschefin Truss jetzt offenbar ihre bislang ablehnende Haltung zu direkten Finanzhilfen geändert. Britische Medien berichten, dass sie ein weiteres milliardenschweres Hilfsprogramm vorbereitet. Zudem denkt sie offenbar daran, die Mehrwertsteuer auf Strom und Gas – »Brexit sei Dank« – zeitweise auszusetzen. Einen temporären Preisstopp für Energie lehnt sie nach wie vor ab.


Vorschläge der Opposition

Wie schon durchgängig in den vergangenen drei Jahren der asymmetrischen Konstellation von Tory-Regierungschef Boris Johnson und Labour-Oppositionsführer Keir Starmer hat der Leader der Labour Party seine Führungsrolle ein weiteres Mal nicht ausgefüllt. Trotz des desolaten Zustands der Konservativen Partei nach Johnsons erzwungenen Rücktritt ist es ihm nicht gelungen, in der Zeit des aufkommenden Tsunami der Kaufkraftkrise der Öffentlichkeit ein überzeugendes Programm zur Verhinderung des sozialen Abstiegs breiter Schichten der Bevölkerung vorzulegen. Wegen der Turbulenzen bei den Tories liegt die Labour Party derzeit in den Meinungsumfragen vor der Konservativen Partei. Doch Starmer gelingt es noch weniger als zuvor, Gehör zu finden. Der Verlust seiner Glaubwürdigkeit ist massiv, nachdem er den Mitgliedern seines Schattenkabinetts rigoros untersagt hat, die Forderungen streikender Belegschaften mit Besuchen bei ihren Streikposten zu unterstützen.

Zur Abwendung der Krise der Lebenshaltungskosten hat sich die Labour Party bisher darauf beschränkt, das Einfrieren der derzeitigen Standardtarife bei Strom und Gas und die Rücknahme der Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge zu fordern. Hauptposten der Gegenfinanzierung soll die Rückdatierung des Erhebungszeitraums der Energiegewinnabgabe von Mai auf Januar 2022 sein.

Die Scottish National Party (SNP), im Westminster-Parlament mit 64 Abgeordneten zweitstärkste Oppositionspartei, hat eine Verstaatlichung der großen Energieunternehmen ins Gespräch gebracht. Im letzten Jahr hatte sie und ihr Regierungspartner, die schottischen Grünen, einen Vorschlag zur Gründung eines öffentlichen Energieunternehmens abgelehnt, unterstützen nun aber die Verstaatlichung der bestehenden Energieunternehmen. Dies würde jedoch bedeuten, dass diese Unternehmen zu einem Zeitpunkt aufgekauft werden, zu dem sie rentabel und daher teurer sind. 2019 hatte die schottische Regierung es allerdings noch abgelehnt, das in Edinburgh ansässige Unternehmen »Our Power« aufzukaufen, das zusammenbrach, weil es die von der Regierung zur Verfügung gestellten Kredite nicht zurückzahlen konnte.


Vorschlag des Trades Union Congress (TUC)

Der Gewerkschaftsdachverband TUC, der vom 11. bis 14. September zu seinem Jahreskongress zusammentritt, hat Ende Juli seinen Plan zur Neuorganisation des Energiesektors vorgelegt.[3] »Es ist an der Zeit«, so die scheidende TUC-Generalsekretärin Frances O'Grady, »die Last der gescheiterten Privatisierung des Energiesektors von den Familien zu nehmen. Keine Ausschüttungen an Aktionäre mehr. Keine Boni für fette Fische mehr. Keine Unternehmen mehr, die das Geld kassieren und dann über Nacht in Konkurs gehen. Stattdessen faire Preise von einem Energieunternehmen, das uns allen gehört und zu unserem Nutzen geführt wird.«

Der TUC argumentiert, dass öffentliches Eigentum nicht nur die Energierechnungen senken, sondern auch die Verbesserung der Energieeffizienz von Häusern beschleunigen und die Kohlenstoffemissionen schneller reduzieren würde.

Seit Juni 2021 habe die Regierung 2,7 Mrd. Pfund für die Rettung von Energieunternehmen ausgegeben. Der TUC schätzt, dass die Verstaatlichung der fünf großen Energieversorger – British Gas, E.ON, Électricité de France (EDF), Scottish Power und Ovo – 2,85 Mrd. Pfund kosten würde, während die Tory-Regierung bisher 12 Mrd. Pfund zugesagt habe, um die Kosten der Haushaltsrechnungen für Energie zu senken. Das Hauptargument des TUC ist, der Staatshaushalt wäre weniger belastet worden, wenn sich die Energieunternehmen in öffentlichem Eigentum befunden hätten.

Der TUC führt Frankreich als Beispiel an, wo der nationale Energieversorger EDF zu 84% in öffentlicher Hand ist und die Energierechnungen der Haushalte 2022 nur um 4% gestiegen sind. Mit einer Überführung der Energieunternehmen in öffentliches Eigentum könnten nicht nur die Aktionärsdividenden zur Senkung der Abgabepreise gesenkt werden, sondern auch eine Preisstruktur etabliert werden, mit der Maßnahmen für mehr Energieeffizienz gefördert werden.

Der TUC bringt mit seinem Vorschlag, ohne es ausdrücklich zu benennen, das sozial-ökologische Umbauprogramm aus dem Wahlmanifest der Labour Party von 2019 in Erinnerung, auch wenn er »nur« die Renationalisierung thematisiert, nicht aber dessen umfassenderen Aspekt, die Dekarbonisierung der gesamten Primärenergiegewinnung mit einem Investitionsprogramm zur Erneuerung der Infrastruktur und Ausweitung und Verbesserung der Dienstleistungen zu verbinden.

In einem Interview in der BBC-Sendung »Today« lehnte Rachel Reeves, die finanzpolitische Sprecherin der Labour Party, den Vorschlag des TUC rundweg ab. Die Verstaatlichung von Bahnen, Energie und Wasser »ist einfach nicht mit unserem Steuersystem vereinbar«. Außerdem hätte die Labour Party wegen des Wahlprogramms von 2019 »unser schlechtestes Ergebnis seit 1935« eingefahren. Ihr Parteivorsitzender Starmer pflichtete ihr bei und ein Sprecher der Partei stellte klar: »Wir sind pragmatisch, wenn es um öffentliches Eigentum geht, solange es mit unseren steuerlichen Regeln vereinbar ist – ein Punkt, den Rachel in dem Interview unterstrich, indem sie auf diesen Rahmen verwies. Wir wissen zum Beispiel, dass Eisenbahnen in öffentlichem Eigentum eine positive Rolle spielen können.«

Sowohl bei der Streikbewegung zur Verteidigung der Realeinkommen als auch bei der Durchsetzung von Hilfspaketen zur Linderung der Krise der Lebenshaltungskosten können Beschäftigte, Rentner*innen, Sozialleistungsempfänger*innen und Studierende nicht mit einer nachhaltigen Wahrnehmung ihrer Interessen seitens der etablierten Parteien rechnen. Anders als vor 50 Jahren, als mit den Gewerkschaftlichen Verbindungsbüros (Liaison Committees) auf verschiedenen Ebenen Organisationszentren für gewerkschaftlichen und politischen Widerstand vorhanden waren,[4] müssen sich diese Strukturen zunächst wieder herausbilden.

Bewegungen wie »Enough is Enough« oder »Don’t Pay UK« bleiben unverbunden wie die Streiks der verschiedenen Belegschaften, angefangen von den Eisenbahner*innen über die Hafenarbeiter*innen bis zu den Beschäftigten bei Royal Mail. Insofern kommt in diesem Jahr dem Jahreskongress des TUC auch eine politische Leitfunktion zu. Erfüllt er sie, könnte der Winter der Entbehrungen im Vereinigten Königreich nicht ganz so hart werden.

Anmerkungen

[1] Zum Amtsantritt der neuen Regierungschefin Liz Truss vgl. Hinrich Kuhls: Die Radikalisierung der Brexit-Regierung. Eine neue Premierministerin und die Zuspitzung der Krisen in Großbritannien, in: Sozialismus.de, Heft 9-2022, S. 43-48.
[2] Antony Seely: Taxation of North Sea oil and gas. House of Commons Library Research Briefing, 9. August 2022, S. 57-77; https://commonslibrary.parliament.uk/research-briefings/sn00341.
[3] Trades Union Congress (TUC): A fairer energy system for families and the climate. 25. Juli 2022; https://www.tuc.org.uk/research-analysis/reports/fairer-energy-system-families-and-climate.
[4] Detlev Albers/Werner Goldschmidt/Paul Oehlke: Klassenkämpfe in Westeuropa. Frankreich – Italien – Großbritannien. Mit einem Vorwort von Peter von Oertzen. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 284.

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