21. Juni 2013 Dieter Boris: Über die Ursachen der Proteste
Was haben die Türkei und Brasilien gemein?
In der Türkei und in Brasilien, beides seit mehreren Jahren stark »aufstrebende« Länder, sind in den letzten Tagen bzw. Wochen scheinbar überraschend breite Protestbewegungen entstanden. Nach überaus harter polizeilicher Repression und kompromissloser Reaktion der jeweiligen Regierungen hat sich der Protest dann schnell über das ganze Land ausgebreitet und sich zugleich von den ursprünglichen (verhältnismäßig begrenzt erscheinenden) Protestanlässen entfernt.
Wie ist eine solche, scheinbar aus »heiterem Himmel« kommende Konstellation zu erklären? Zumal in Ländern, die zum einen auf eine lang andauernde ökonomische Wachstumsperiode zurückblicken können und zum anderen populäre Regierungen aufweisen, die mit über oder annähernd 50% der Stimmen gewählt worden sind und deren Präsidentin und Ministerpräsident noch vor kurzem recht hohe Popularitätswerte vorweisen konnten.
Wenn auch pauschale und für beide Länder gleichermaßen zutreffende Antworten nur unter Vorbehalt gegeben werden können, so scheint gerade in diesem Paradoxon auch ein Schlüssel der Erklärung zu liegen. Offensichtlich sind insbesondere junge Leute, Studierende, Schüler, relativ gebildete und nicht total verarmte soziale Gruppierungen und Segmente überproportional an den Protesten beteiligt gewesen. Offenbar ist gerade aus diesem »Aufsteigermilieu« der ersten Generation keineswegs nur Anerkennung und »Dankbarkeit« zu erwarten, sondern es müssen auch Prozesse der Bewusstseinsentwicklung und der kritischen Einschätzung sowohl ihres »prekären Wohlstandsgewinns« und ihres relativen Aufstiegs und seiner Kontexte mit einbezogen werden.
Trotz erheblichen Wirtschaftswachstums, der Verringerung der Arbeitslosigkeit, der Armutsquote und sogar – in leichtem Umfang – der Ungleichheitsrelationen sowie eines allgemeinen Einkommensanstiegs müssen spezifische Gründe für die Protestmotivation bei den bezeichneten Bevölkerungsteilen vorgelegen haben. Auch im politischen Bereich sind auf den ersten Blick relativ korrekte und freie Wahlprozesse zu konstatieren, die nicht einen erklärenden Hintergrund abgeben können.
Dennoch haben sich offensichtlich seit einiger Zeit unter der Oberfläche des Fortschritts, der scheinbar allgemein verbreiteten Zufriedenheit und Korrektheit viele Dinge aufgestaut, die sich nun – im Kontext verschiedener, kumulierter und sich wechselseitig anstoßender – Misshelligkeiten in zahlreichen Protesten entluden. Der seit 2012 in beiden Ländern aufgetretene Wachstumsrückgang, verbunden mit ansteigender Inflation und der spürbaren Verteuerung des Lebensalltags sowie der nach wie vor mangelhafte Zustand materieller und sozialer Infrastrukturen (z.B. des Bildungs- und Gesundheitswesens) kontrastierte mit offenkundiger Verschwendung, Korruption und Fehllenkung öffentlicher Ressourcen.
Die Prioritätensetzung beider Regierungen auf Megaprojekte, die die Fortschritte der letzten Zeit symbolisieren und krönen sollten (und zugleich eine Vollwertigkeit, der Ersten Welt anzugehören, versinnbildlichen sollten) demonstrierten sehr deutlich für jedermann, dass gegenüber den wirklichen Massenbedürfnissen hier bloße Prestigevisionen ihrer Regenten und der »politischen Klasse« bedient werden sollten.
Die Ausrichtung der WM 2014 und der Olympiade 2016 in Brasilien, deren Kosten auf weit über 20 Mrd. US-Dollar veranschlagt werden, und die seit einiger Zeit mit der zwangsweisen Vertreibung von Elendsviertelbewohnern einhergeht, hat zweifellos in vielen Kreisen die Unzufriedenheit – trotz aller Fußballbegeisterung – wachsen lassen.
In der Türkei sind es analog erhebliche Rüstungsausgaben, der Bau des »größten Flughafens der Welt«, einer Moschee in Istanbul »mit den höchsten Minaretten der Welt« (FAZ 19.6.2013). Die türkische Regierungspartei AKP, deren Akkumulationsmodell stark auf der Expansion des Immobilien- und Bauwesens beruht, betreibt auch andere, »groß angelegte Projekte der Gentrifizierung«, besonders in Istanbul, die »zur Vertreibung ärmerer Bevölkerungsgruppen aus ihren Wohnvierteln« geführt hat (J. Becker, Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, März-April 2013: 4).
Insgesamt scheint das vielfach gepriesene türkische Modell auf starkem ausländischem Kapitalzufluss und öffentlicher sowie privater Verschuldung zu basieren und mithin extrem verwundbar zu sein; ein Leistungsbilanzdefizit in Höhe von 10% des BIP (wie 2011) lässt sich wohl kaum auf längere Frist durchhalten.
Parallel zu diesen keineswegs im Interesse der breiten Bevölkerung liegenden Fehllenkungen öffentlicher Ressourcen kommt eine grassierende Korruption in beiden Ländern, die zwischen Politik und Wirtschaft fast endemische Züge angenommen hat. Zwar führt das gelegentlich zur Bestrafung von besonderen »Sündenböcken« (im ersten Jahr der Präsidentschaft von Dilma Rousseff mussten aus diesem Grund nicht weniger als fünf Minister zurücktreten), aber das System als solches bleibt erhalten.
In der Türkei kommt zu diesen Misshelligkeiten noch die autoritär vorgehende, schleichende Islamisierung des öffentlichen Lebens hinzu. Die Enteignung öffentlicher Räume im medialen und geografischen Sinne, die latente Gewaltsamkeit der Sprache des Ministerpräsidenten, der seine politischen Kontrahenten als »Terroristen, Marodeure und Plünderer« bezeichnet, sind weitere Indikatoren für einen repressiven Autoritarismus, der sich von wachsenden Teilen neuer, junger Mittelschichten mit einem gewissen Bildungsgrad und Autonomieanspruch immer mehr entfernt.
Dieter Boris war bis 2008 Professor für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg und ist anerkannter Lateinamerikawissenschaftler. Kürzlich feierte er seinen 70. Geburtstag.