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19. Dezember 2019 Joachim Bischoff/Hinrich Kuhls: Nach den Parlamentswahlen in Großbritannien

Welche Zukunft hat das Vereinigte Königreich?

Foto: dpa

Bei der Parlamentswahl in Großbritannien[1] ging es um einen Grundsatzentscheid über die Zukunft des Landes. Im Zentrum der politischen Kontroversen stand in den letzten Jahren der Austritt aus der EU. Hinter den jahrelangen Grabenkämpfen blieb aber immer ein Schlüsselproblem dominant: Welche Zukunft kann und soll das Vereinigte Königreich haben?

In der langjährigen Auseinandersetzung sind die Institutionen der britischen Demokratie extrem belastet worden. Auch die gesamte Staatskonstruktion wird in Frage gestellt: Es geht dabei nicht nur um die politische Selbstverwaltung Nordirlands und die Frage des »Grenzvotums«, des Referendums zur Wiedervereinigung Irlands, die mit Johnsons Version des Austrittsvertrags forciert wird.

Auch der Ruf nach der staatlichen Selbstständigkeit Schottlands hat durch die Manöver der politischen Klasse seit Beginn des Brexit-Projekts immer neue Nahrung erhalten. Beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 hatten noch rund 55% der Schott*innen für die britische Union gestimmt, darunter ein großer Anteil, der den Versicherungen der damaligen Koalitionsregierung von Konservativen und Liberaldemokraten Glauben geschenkt hatte, dass vor dem – auf Druck der rechtspopulistischen Bewegung – anvisierten EU-Referendum die Voraussetzungen geschaffen werden, dass nur ein eindeutiges Ja zur EU das Ergebnis der Volksbefragung hätte sein können. Das misslang, und eine Hälfte der schottischen Bevölkerung sieht sich vom englischen Nationalismus überrollt.

Der Führer der Konservativen Partei, Boris Johnson, hat mit dem Erdrutsch-Sieg sein Ziel erreicht. Die Sehnsucht nach einem rechtspopulistischen Führer, der das Land entschlossen und rücksichtslos aus der Brexit-Krise führen würde, gab den Ausschlag. Das Vereinigte Königreich wird die EU definitiv verlassen. Der Ratifizierungsprozess für das modifizierte Brexit-Austrittsabkommen wird noch vor der Debatte über die von der Königin verlesenen Regierungserklärung wieder aufgenommen – eine erneute Abkehr von der parlamentarischen Tradition mit dem Symbolgehalt der Durchsetzung des Brexits gegen das Parlament. In einem weiteren symbolischen Akt wird das Austrittsgesetz um ein Gesetz ergänzt, mit dem ausgeschlossen wird, dass die Übergangsphase über den 31.12.2020 hinaus verlängert werden kann.

Das gesamte Abkommen über die neue EU-UK-Kooperation – ein dem CETA ähnelndes Freihandelsabkommen, die Sicherheitszusammenarbeit, Wissenschaftskooperation, Kongruenzregelungen für die Finanzmärkte usw. – soll also innerhalb von elf Monaten inklusive der Ratifizierung durch die EU27 über die Bühne gehen. Die EU-Kommission hat hingegen schon eine Verlängerung der Übergangsphase ins Gespräch gebracht. Wie schon vor zweieinhalb Jahren zum Auftakt der Austrittsverhandlungen, werden die Verhandlungen über die neue Kooperation mit Streit über Zeitrahmen, Themen und Sequenzierung eingeleitet werden. Wird der Zeitpunkt des Inkrafttretens des EU-UK-Kooperationsvertrags jetzt unilateral im britischen Recht normiert, ist – abgesehen von dem im Austrittsvertrag geregelten Bereichen – der No-Deal-Brexit über ein Jahr hinweg wieder akut. Bei Bekanntgabe des Ergänzungsgesetzes tendierte die volatile britische Währung ein weiteres Mal stark abwärts.

Johnson selbst wertet den Wahlausgang als eine »unwiderlegbare, unbestreitbare« Entscheidung für seine Wahlstrategie »Get Brexit done«. Der Premierminister hat mit seinem wirkungsvollen Wahlslogan der politisch noch weiter rechts stehenden Brexit-Partei das Wasser abgegraben. Diese landete bei der nach dem Mehrheitswahlrecht durchgeführten Unterauswahl abgeschlagen bei 3% – im Mai war sie bei den nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführten Wahlen zum EU-Parlament mit einem Stimmenanteil von 32% noch stärkste Partei. Der Vorsitzende Nigel Farage hat die Umbenennung in »Reformpartei« vorgeschlagen. Das letzte sichtbare Agieren dieser Partei wird paradoxerweise das angekündigtes »Nein« ihrer Fraktion im Europaparlament bei der Abstimmung über das Brexit-Austrittsabkommen Ende Januar sein.

Die oppositionelle Labour Party muss mit der höchsten Niederlage seit drei Jahrzehnten umgehen. Sie hat 59 ihrer bisher 262 Wahlkreise verloren. In Wales und im Norden Englands wurde die »rote Mauer« ehemaliger Labour-Hochburgen durchlöchert. Hier wechselten 50 Mandate an die Tories.

In Schottland hatte die Labour Party schon bei der Wahl 2015 mit dem Vorsitzenden Ed Miliband bis auf eines alle 50 Mandate aus 2010 verloren. 2017 konnten immerhin noch sechs Wahlkreise hinzugewonnen werden, die jetzt aber wieder verloren gegangen sind. Insgesamt ist das Debakel der Labour Party umso bemerkenswerter, weil die Partei bis auf den Wahlkreis Putney in London keinen einzigen weiteren von den Tories erobern konnte.

Die langjährige Auseinandersetzung um den EU-Austritt ist mit dem Wahlergebnis gleichwohl nicht beendet. Zwar hat Boris Johnson einen klaren Erfolg verbucht und kann seinen Brexit-Fahrplan damit durchziehen. Allerdings ist mit diesem Ergebnis die Schlüsselfrage nach der Zukunft der britischen Gesellschaft nicht beantwortet. Zwei Herausforderungen muss Johnson mit seiner absoluten Mehrheit weiterhin klären.


Der Ruf nach Unabhängigkeit von der britischen Union

Zunächst ist die Gefahr des Auseinanderbrechens des Vereinigen Königreichs mit dem Ausgang der Wahl nicht erledigt. Zu den Siegern der Parlamentswahlen zählt auch die Schottische Nationalpartei (SNP). Der Bewegung mit sozialdemokratischer Ausrichtung gelang ein Zugewinn von 13 Sitzen, sie konnte 48 der 59 schottischen Parlamentssitze für sich gewinnen und näherte sich damit wieder dem Wahlergebnis von 2015 an, als sie 56 der 59 Wahlkreise gewonnen hatte. Die SNP tritt für einen Verbleib in der EU ein und gleichzeitig für die Loslösung Schottlands vom Vereinigten Königreich.

Die Parteivorsitzende und Chefministerin in Schottland, Nicola Sturgeon, interpretiert das Ergebnis als eine Bestätigung des Kurses der SNP. Die Partei nimmt den Wahlausgang zum Anlass, um ein neues Unabhängigkeitsreferendum schon innerhalb des nächsten Jahres, also noch vor der Neuwahl des schottischen Parlaments im Mai 2021, auf die Tagesordnung zu setzen. Sturgeon fordert in einem Schreiben an Johnson die britische Regierung auf, die von der Verfassung vorgesehene Zustimmung zu erteilen, und erläutert, wie sie im Falle der von Johnson schon immer bekräftigten Weigerung die Rechtmäßigkeit eines unilateral durchgeführten Referendums sicherstellen will, ohne die katalanischen Komplikationen zu wiederholen.

In Nordirland haben erstmals die republikanischen Parteien mit neun Mandaten (Sinn Féin sieben, SDLP zwei) mehr Mandate erhalten als die unionistischen Parteien (DUP acht; UUP 0); ein Mandat ging an die liberale Alliance Party, die sich keinem der Lager zurechnet. Seit drei Jahren hat das nordirische Parlament nicht getagt. Seitdem ist die Regierungsbildung blockiert. Auch wenn es dem irischen Außenminister und dem britischen Minister für Nordirland in den mit allen nordirischen Parteien aktuell wieder aufgenommen Gesprächen gelingt, die Blockade zu lösen, so bleibt doch das übergreifende Problem: Nordirland wird nach der Übergangsphase Anfang 2021 zwei Zoll-Jurisdiktionen angehören, was die Provinz weiter benachteiligen und den republikanischen Drang forcieren wird, das verfassungsrechtlich und im Karfreitagsabkommen nach internationalem Recht garantierte Referendum über die Wiedervereinigung Irlands auf den Weg zu bringen.


Neuordnung der britischen Volkswirtschaft

Zum anderen sollte die Neuwahl das Brexit-Chaos beenden, doch faktisch bleibt die anhaltende Unsicherheit. Vor allem ist offen, was die von Johnson angedeutete Neuordnung der britischen Volkswirtschaft bringen kann. Wenn die Brit*innen im Februar aus der EU ausscheiden, wird ein weiterer Schritt fällig: die Verhandlungen zwischen London und der EU über ein Freihandelsabkommen.

Der mit Brüssel im Oktober vereinbarte Austrittsvertrag regelt lediglich ein Übergangsregime bis Ende 2020. Im Februar werden erst die entscheidenden Verhandlungen über die Zukunft der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU beginnen. Dass diese in elf Monaten zu einem guten Ergebnis führen werden, halten Fachleute für ausgeschlossen. Das Aushandeln von bilateralen Handelsverträgen dauert gewöhnlich mehrere Jahre. Im Fall Großbritanniens ist der Prozess noch anspruchsvoller, sollte das Land nicht nur den Güterhandel, sondern auch die viel bedeutenderen Dienstleistungen sowie Themen wie Forschung, Bildung, Sicherheit, Polizei, Verteidigung aufnehmen wollen.

Erschwerend kommt die von Johnson erklärte Absicht hinzu, künftig gezielt von EU-Standards abzuweichen, um Wettbewerbsvorteile zu erringen. Warum sollte die EU großzügig die Hand dazu bieten, einen unangenehmen Konkurrenten an ihrer Seite aufzubauen? Schlimmstenfalls einigen sich beide Seiten nicht, und es steht in einem Jahr wieder das wirtschaftliche Horrorszenario eines No-Deal-Brexits vor der Tür. Ein hartes Ringen mit – aber auch zwischen – den Mitgliedstaaten ist also programmiert, da es auf dem Kontinent durchaus unterschiedliche Handelsinteressen gibt und die britische Regierung dies sicher auszunutzen versucht.

Für die Verhandlungsführer in Brüssel wird die Versuchung groß sein, den durch Johnson geschaffenen Zeitdruck auszunutzen und im Tausch gegen einen schnellen Deal die Briten zu schmerzhaften Zugeständnissen zu zwingen. Der EU muss an einem vertrauensvollen langfristigen Verhältnis zu Großbritannien gelegen sein. Das kann sie nur durch faire, ausgewogene bilaterale Beziehungen erreichen. Großbritannien ist wichtig. Die EU wird es weiter brauchen als Partner.

Auch die Konservativen haben im Wahlkampf neben dem Brexit den massiven Reformbedarf für den ausgehungerten Wohlfahrtsstaat nicht ignorieren können. Bestandteil des Erdrutschsieges waren auch Zusagen zur Finanzierung in Milliardengrößen für den Nationalen Gesundheitsdienst oder den Ausbau von Straßen und Schulen. Offengelassen haben die Konservativen, wie die Ressourcen für das umfängliche Reformproramm aufgebracht werden sollen. Die britische Regierung will fehlende EU-Gelder im Falle eines ungeregelten Brexits ausgleichen. Umgerechnet gut 18 Mrd. Euro könnten u.a. an Unternehmen und Hochschulen fließen. Ungeklärt ist auch, wie die bisherigen EU-Zuschüsse für Landwirtschaft und Fischerei und die Zahlungen aus dem Strukturfonds, vor allem in Nordirland, im britischen Budget geschultert werden. Die britische Regierung hat die Einbringung des Haushaltsplans und die mittelfristige Finanzplanung, der im Vorwahlkampf zweimal verschoben worden war, jetzt für die erste Februarwoche, also unmittelbar nach dem Brexit, angekündigt.

Über den schnellen konsequenten EU-Austritt lassen sich entgegen den Behauptungen keineswegs Mittel freischaufeln, um die Lebensbedingungen der großen Bevölkerungsmehrheit zu verbessern. Auch die rigorose Einwanderungspolitik wird kurzfristig weitere Turbulenzen auslösen, weil die bestehenden Engpässe gerade im Gesundheitsdienst verschärft werden. Johnson setzt zudem auf das Angebot von US-Präsident Donald Trump, zügig einen Freihandelsvertrag mit den USA auszuhandeln, mit dem zusätzliche Ressourcen für die Gesellschaftsreform erschlossen werden sollen.

Die Konservativen stehen zudem vor der Herausforderung, über wirtschaftliche Impulse in der großen Umbruchkonstellation neue wirtschaftliche Perspektiven zu erschließen. Der Unternehmensverband Confederation of British Industry (CBI) begrüßte die Chance für ein neues Kapitel in der Geschichte des britischen Kapitalismus: Der »historische Moment« solle genutzt werden für einen neuen Vertrag zwischen Firmen und Regierung. Premierminister Johnson müsse sein starkes Mandat nutzen, um das Vertrauen in der Geschäftswelt wieder aufzubauen, und den Kreislauf der Unsicherheit zu brechen, ließ CBI-Direktorin Carolyn Fairbairn mitteilen.

Das Aufatmen lässt sich nicht mit Freude über den Brexit erklären, der mit Johnsons Wahlsieg nun unausweichlich scheint. Der EU-Ausstieg wird in jedem Fall eine Verschlechterung der Handelsbedingungen zur EU, dem größten Handelspartner, bringen. Die langjährige Auseinandersetzung um den EU-Austritt ist mit dem Wahlergebnis gleichwohl nicht in jeden Fall beendet.

Der hohe Sieg bei der Unterhauswahl ist in der britischen Wirtschaft mit Erleichterung aufgenommen worden. Vor allem der kurzfristige Verlauf des EU-Ausstiegs ist nun klarer, was einen Teil der Unsicherheit aufhebt, die in diesem Jahr wie Blei auf der Wirtschaft lastete. Labour verfolgte eine sozialistische Agenda, in der u.a. die Verstaatlichung von Eisenbahngesellschaften sowie Energie- und Wasserversorgern vorgesehen ist. Die Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit galt unter Unternehmen und Investoren als sehr hoher Preis für die Perspektive einer engeren EU-Anbindung. Hinzu kamen Pläne für Steuererhöhungen, u.a. der Unternehmenssteuer, sowie eine Umverteilung der Anteile von Konzernen zulasten der Altaktionäre.

Nicht wenigen Wirtschaftsvertretern galt eine Regierung mit Corbyn als Premierminister als schlimmeres Szenario als selbst ein harter Brexit. Das Wahlergebnis macht deutlich, dass dieses radikale ordnungspolitische Neuordnungsprogramm von einem Großteil der Bürger*innen nicht unterstützt wurde.

Vordergründig kann es also durchaus darauf hinauslaufen, dass das brüchig gewordene Bündnis von Unternehmenssektor, Banken und den britischen Konservativen wieder belebt wird. Der immer wieder verkündete Aufbruch mit neuen Wachstumsimpulsen dürfte sich allerdings nicht einstellen. Mehr noch: Die neue konservative Regierung ist gehalten, die schwächelnde Konjunktur aufzufangen und die Wirtschaft für die weiteren Konflikte mit Europa und den USA fit zu machen. Daher steht Johnson vor der Notwendigkeit kurzfristig der Mehrheit der Wirtschaft Wachstumsimpulse zu erschließen.

Zwar haben die Konservativen nicht in solchem Maße wie Labour eine Ausweitung der Staatsausgaben versprochen, doch wollen auch sie auf bereits im Herbst angekündigte Erhöhungen draufsatteln. »Im Februar dürfte eine konservative Regierung wahrscheinlich eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen um 20 Mrd. Pfund oder knapp 1% des Bruttoinlandprodukts ankündigen«, sagen die Analytiker von Capital Economics: »Ein Brexit Ende Januar und die fiskalische Lockerung dürften die Wirtschaft und das Pfund stützen.«

Die britische Ökonomie hat in den zurückliegenden Monaten eine klare Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Position verarbeiten müssen. Ob der britische Wirtschaftsmotor von der neuen Tory-Regierung wieder auf Touren gebracht werden kann, dürfte allerdings weniger von staatlichen Konjunkturimpulsen abhängen als vielmehr davon, ob die Unsicherheit über das künftige Handelsverhältnis zur EU nicht so lähmend wird wie bis zum Wahltag die Unsicherheit über den Austritt. Für den Moment ist eine Aufbruchstimmung sogar am Aktienmarkt spürbar: Der Aktienindex FTSE 250, der auf die inländische Wirtschaft ausgerichtete, mittelgroße Unternehmen abbildet, sprang nach dem Wahltag um mehr als 4% nach oben. Der Leitindex FTSE 100 avancierte dagegen nur um knapp 2%.

Im FTSE 100 sind die Papiere der größeren Konzerne zusammengefasst, die mehr auf das Exportgeschäft ausgerichtet sind. Normalerweise verliert der Leitindex an Boden, wenn das Pfund erstarkt – eine teure Währung verteuert auch die Exporte. Doch momentan gelten die üblichen Gesetze an der Londoner Börse nicht, so wie auch in der britischen Politik.

Die Investitionen der britischen Unternehmen haben seit der Brexit-Abstimmung im Jahr 2016 kaum zugenommen. Von Anfang 2018 bis Mitte 2019 sind sie gar um 2% geschrumpft. In den übrigen führenden G7-Industrieländern haben Firmen seit dem Sommer 2016 hingegen durchschnittlich 13% mehr investiert. Großbritannien hat in geringem Ausmaß den Anschluss an die internationale Kapitalbewegung verpasst. Hätte es das Brexit-Referendum nie gegeben, hätten britische Betriebe laut Saunders bis heute 12% mehr für neue Anlagen, Gebäude und Ausrüstung ausgegeben. Das National Institute of Economic and Social Research (NIESR) schätzt, dass es 15% mehr gewesen wären. Der Ausgangspunkt ist für die britische Ökonomie keineswegs optimal.

Schleppende Investitionen sind nicht nur für die weitere Zukunft schlecht: Sie schränken das Produktionsangebot der Zukunft ein, weil die Kapazitäten nicht wachsen. Die Wirtschaft stößt dann schneller an ihre Grenzen, was zu einer Überhitzung und Inflation führen kann. Und in der Gegenwart sorgen aufgeschobene Investitionen für eine geringere Nachfrage, weil die Firmen weniger Aufträge für Erneuerungen vergeben. Dieser Nachfrageeffekt ist in Großbritannien spürbar.

Das schwächere globale Wirtschaftswachstum und die internationalen Handelskonflikte haben den Rahmen für die Wahlen abgesteckt. Es ist Labour nicht gelungen, diese Gefährdung der Zukunft der britischen Gesellschaft im Wahlkampf aufzuzeigen. Insofern hat die Auseinandersetzung um den Brexit eindeutig ihren Preis. Laut dem Institute for Fiscal Studies (IFS) ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) seit Juni 2016 insgesamt um bis zu 3% schwächer gewachsen, die Wettbewerbsposition der britischen Unternehmen hat sich verschlechtert.

Andere Wirtschaftsforscher kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Großbritannien ist zwar nicht in eine Rezession gerutscht, aber es hinkt hinterher. Die übrigen G7-Länder sind von 2016 bis 2018 pro Jahr stärker gewachsen als in den vorausgegangenen sechs Jahren. Großbritannien hingegen nicht – laut dem IFS ein einzigartiger Fall. Johnson beginnt mit dem Austritt und den anschließenden Verhandlungen mit der EU also einen Wettlauf, um die Position der Ökonomie insgesamt wieder aufzuwerten.

Im zweiten Quartal 2019 schrumpfte die britische Wirtschaftsleistung. Auch wenn sich das im dritten Quartal nicht fortsetzte, so war im Oktober doch wieder eine Stagnation zu verzeichnen. Hier macht sich ein zweiter Effekt der niedrigen Investitionen bemerkbar, zusätzlich zu der schwächeren Nachfrage: Die Produktivität wächst nicht so schnell, wie sie könnte. Seit Anfang 2018 stagnierte oder sank die Produktion pro geleistete Arbeitsstunde fast immer. Im zweiten Quartal 2019 war sie 0,5% kleiner als ein Jahr zuvor. Dieses Malaise bei Investitionen und Produktivität verfolgt das Land zwar seit der globalen Finanzkrise von 2009, aber mit dem Brexit hat es sich verschärft.

Damit ist noch nicht alles über den britischen Sonderfall gesagt. Normalerweise drücke Unsicherheit nicht nur auf die Investitionen, sondern auch auf die Beschäftigung, hält das IFS fest. Diesmal nicht: Die Arbeitslosenquote ist von knapp 8% im Jahr 2013 auf zuletzt 3,8% gesunken, den niedrigsten Stand seit 1975. Der Brexit hat den Trend nicht aufgehalten. Stattdessen sieht es so aus, als habe die Dauer der Unsicherheit die Firmen veranlasst, nicht alle Ausgaben aufzuschieben. Doch statt sich an teure Maschinen oder Neubauten zu binden, substituieren sie Kapitalinvestitionen mit zusätzlichen Arbeitskräften, die sie im Notfall dank dem flexiblen britischen Arbeitsmarkt leicht wieder loswerden können.

Johnson und die große Fraktion der »Konservativen« drücken auf das Tempo beim Brexit, und hoffen mit ihrem Optimismus die britische Wirtschaftskonjunktur beleben zu können. Dies ist mit Sicherheit kein Patentrezept. Den Beweis dafür, dass die neue Elite das Land aus der herrschenden Blockade herausführen kann, und dass sich die Wirtschaftskonjunktur und die sozialen Investitionen für die Mehrheit der Bevölkerung einstellen werden, wird Johnson dann sehr bald erbringen müssen.

Es ist aber eine deutlich nach rechts verschobene Partei, mit der Boris Johnson die politische Landschaft in Großbritannien umgepflügt hat, und jetzt neben dem Brexit auch die Erneuerung organisieren muss. Der gebetsmühlenartig vorgetragener Slogan »Bringen wir den Brexit hinter uns« ist noch kein politischer Weg für die Besserung der Wirtschafts- und Lebenslage. Für Boris Johnson galt bisher als einziges Ziel, diese Wahl mit allen Mitteln zu gewinnen und die Sorge um das Danach auf später zu verschieben. Das wird sich jetzt ändern müssen. Wie dies erfolgen soll, ist bislang völlig ungeklärt.

Johnson strebt einen umfassenden Freihandelsvertrag mit Amerika an. Dieser ist nur zu haben, wenn sich London von europäischen Agrar- und Umweltstandards freischwimmt. Die Tories favorisieren auch eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik mit Steuersenkungen und Deregulierung. Von Dominic Cummings, Johnsons wichtigstem Berater, weiß man, dass ihn das »Manhattan Project« begeistert, die gigantische Anstrengung in Amerika am Ende des Zweiten Weltkriegs, öffentliche und private Kräfte und Gelder der Förderung der wirtschaftlichen Erneuerung und dem Ausbau des Volkswohlstands unterzuordnen. Dieses politische Rezept wird sich nicht wiederholen lassen.

Die Stärke der britischen Ökonomie liegt aktuell bei den Dienstleistungen. Der Sektor macht schon jetzt 81% der nationalen Wirtschaftsleistung aus, während der Anteil der Industrie von 25% in den 1970er Jahren auf 11% gesunken ist. Die Industrieproduktion wird angesichts der internationalen Konkurrenzsituation weiter an Bedeutung verlieren. Bislang ist die Diskussion der materiellen Grundlage in der konservativen Partie eher ein Randthema. Viele zu den Konservativen übergelaufenen »Blue-Collar Worker«, die gewerblichen Angestellten, könnten überrascht sein, dass sie mit einer angebotsorientierten Politik zwar den Brexit durchgesetzt haben, aber in kurzer Zeit wiederum zu den Verlierern der Umgestaltung gehören.

Anmerkung

[1] Zum Ausgang der Parlamentswahlen sieh auch die Beiträge von Jeremy Corbyn, Hinrich Kuhls und Florian Weis in Sozialismus.de, Heft 1/2020, das Anfang Januar ausgeliefert wird.

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