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Gespaltene Staaten von Amerika, autoritärer Staatsumbau, neue Blockkonfrontation
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25. Mai 2014 Otto König / Richard Detje: 30 Jahre Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche

»Wem gehört die Zeit?«

1984 forderten die Gewerkschaften IG Druck und Papier und IG Metall die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich für alle. Drei Ziele standen im Mittelpunkt: Arbeitsplätze sichern und neue schaffen; Arbeitsbelastungen senken und Arbeit menschlicher machen – »mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen«.

»Keine Minute unter 40 Stunden«, hielten die Arbeitgeber dagegen und erklärten die Verkürzung der Arbeitszeit zum Tabu.[1] Schützenhilfe bekamen sie von der schwarz-gelben Bundesregierung und den bürgerlichen Medien. Bundeskanzler Helmut Kohl tönte, die Forderung nach der 35-Stunden-Woche sei »dumm, dreist und töricht«. Es bahnte sich »die härteste Tarifauseinandersetzung in der Geschichte der IG Metall« an (Ernst Eisenmann, damaliger Stuttgarter Bezirksleiter der IG Metall).

Anfang Mai stimmten in den IG Metall-Tarifbezirken Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen mehr als 80% der Gewerkschaftsmitglieder für Streik. 13.000 MetallerInnen traten in 14 Automobil-Zuliefererbetrieben in Nordwürttemberg/Nordbaden und eine Woche später 33.000 in Hessen in den Ausstand. Bereits am 12. April begann der Arbeitskampf in der Druckindustrie.[2]

Die Metallarbeitgeber konterten auf die gewerkschaftliche »Taktik der Nadelstiche« (Mini-Max-Streikstrategie) mit der »heißen« Aussperrung. Sie sperrten 155.000 Beschäftigte in den umkämpften Tarifgebieten aus. Zusätzlich nutzten sie außerhalb der Kampfgebiete die juristisch umstrittene »kalte« Aussperrung – durch Streik bedingte Produktionsausfälle – als politisches und ökonomisches Druckmittel.

Normalerweise zahlte die Bundesanstalt für Arbeit (BfA) bei streikbedingtem Produktionsausfall Kurzarbeitergeld. Doch am fünften Streiktag verkündete BfA-Chef Heinrich Franke, »dass ein Leistungsanspruch nach § 4 der Neutralitätsanordnung ruht«. Mit Rückendeckung des Bundesarbeitsministers Norbert Blüm wurde eine zweite Front gegen die Streikenden eröffnet. Die Arbeitsämter verweigerten den »kalt« Ausgesperrten das ihnen zustehende Kurzarbeitergeld.

Damit standen rund 500.000 heiß und kalt Ausgesperrte vor den Fabriken – zehnmal so viele wie Streikende. Die IG Metall klagte vor zahlreichen Sozialgerichten gegen diesen eklatanten Rechtsbruch und mobilisierte mit den DGB-Gewerkschaften die Öffentlichkeit gegen den »Franke-Erlass«.

In zahlreichen Städten außerhalb der Kampfgebiete gab es vielfältige Aktionen gegen die Aussperrung unter dem Motto »Wer aussperrt – gehört eingesperrt«. In Bremen und Bochum zum Beispiel führte ein »Zug der kalt Ausgesperrten« zum Arbeitsamt und zum Sozialgericht, um dort ihr Recht auf Zahlung des Kurzarbeitergeldes einzuklagen. Die »kalt« Ausgesperrten der Firma Filter Knecht in Lorch besetzten drei Tage und drei Nächte »ihre« Werkshallen.

Mitte Mai kam es zu Solidaritätsstreiks, dazu aufgerufen hatten die damals noch 17 DGB-Gewerkschaften und am 28. Mai 1984 demonstrierten rund 250.000 Metaller und Drucker aus ganz Westdeutschland im Hofgarten in der Bundeshauptstadt Bonn gegen Aussperrung und die Weigerung, kalt Ausgesperrte durch das Arbeitsamt zu finanzieren. Gewerkschafter aus ganz Europa verfolgten solidarisch den Kampf der deutschen Metaller und Drucker.

Ende Juni erklärten die Landessozialgerichte in Bremen und Hessen den »Franke-Erlass« für rechtswidrig. Die Arbeitsämter mussten das Kurzarbeitergeld auszahlen. Am 27. Juni kam es nach dem Schlichterspruch des ehemaligen Verteidigungsministers Georg Leber (SPD) zur Einigung im Tarifkonflikt. In der zweiten Urabstimmung stimmten die am Arbeitskampf Beteiligten mit 54,52% dem »Leber-Kompromiss« zu: Die Arbeitszeit wurde zunächst auf 38,5 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich verkürzt. Die 35-Stunden-Woche trat endgültig 1995 in Kraft.

Zum einen wurde bezogen auf die Machtkonstellation zwischen Kapital und Arbeit »das Tabu der Arbeitgeber, um keinen Preis einer generellen Arbeitszeitverkürzung zuzustimmen, gebrochen« (Metall-Nachrichten, 3.7.1984), zum anderen bedeutete der Tarifabschluss zugleich den Einstieg in die Differenzierung und Flexibilisierung der Arbeitszeit und deren Anpassung an betriebswirtschaftliche Erfordernisse. In zahlreichen Unternehmen wurden Freischicht- und Arbeitszeitkonten eingeführt. Die weitere Entwicklung verlief sehr einseitig zugunsten der Flexibilitätsansprüche der Arbeitgeber. Die Beschäftigten haben bis heute kaum Wahlmöglichkeiten und Zeitsouveränität.

Statt planbarer Arbeitszeiten für die Beschäftigten kam es zur Anhäufung von Stunden auf Arbeitszeitkonten, dem Verfall von geleisteten Stunden durch das Kappen von Gleitzeitkonten in Angestelltenbereichen, die Unterordnung des Arbeitszeitregimes unter die betrieblichen Arbeitsschwankungen und der Ausweitung der ständigen Erreichbarkeit. Immer mehr Beschäftigte leiden in Folge dessen unter permanenter Leistungsüberforderung. Eine wachsende Zahl von Beschäftigten klagt über Stress, Burnout die psychischen Erkrankungen nehmen zu.

»30 Jahre nach der Debatte um Arbeitszeitverkürzung, nach 30 Jahren fortschreitender Flexibilisierung, brauchen wir eine arbeitszeitpolitische kurz-, mittel- und langfristige Strategie«, erklärte der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, auf einer betriebspolitischen Tagung Mitte Mai 2014 in Frankfurt. Nach sicherer Arbeit und ausreichendem Einkommen stehen für die Beschäftigten in der Metall- und Stahlindustrie Fragen der Arbeitszeit wieder an prominenter Stelle.

Aus der Beschäftigtenbefragung der IG Metall, an der sich mehr als eine halbe Million Beschäftigte der M+E-Industrie 2013 beteiligt haben,[3] wird unter anderem deutlich:

  • Zwischen den vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten und der Arbeitszeitrealität in den Betrieben klaffen erhebliche Lücken – nicht nur temporär sondern dauerhaft. Nur ein knappes Drittel der Befragten, für die vertraglich die 35-Stunden-Woche gilt, arbeiten auch entsprechend, 63,9% hingegen länger. Im Durchschnitt gilt nicht die 35- sondern die 40-Stunden-Woche.
  • Die Beschäftigten der M+E-Industrie wünschen sich kürzere Arbeitszeiten. Das gilt bei Arbeitszeiten über 35 Wochenstunden (und insbesondere über 40); das gilt aber auch in Richtung reduzierter Vollzeit unter 35 Stunden pro Woche.


  • Nahezu vier Fünftel (78%) der Befragten gibt an, mit Flexibilität in der Arbeitszeit »gut« umgehen zu können. Allerdings sind davon »häufig« bzw. »ständig« nur deutlich weniger als ein Drittel oder ein Viertel der in der Umfrage erfassten Beschäftigten betroffen: von kurzfristigen Änderungen der Arbeitszeit 29%, von Arbeit außerhalb der regulären Arbeitszeit 22% und jederzeitiger Erreichbarkeit 12%. Doch es gibt relevante Beschäftigtengruppen, denen die ihnen abgeforderte Flexibilität zum Teil erhebliche Probleme bereitet, insbesondere Schichtarbeiter, Angelernte und ältere Beschäftigte. Hinzu kommen Beschäftigte, bei denen Flexibilitätsforderungen mit gestiegenem Leistungsdruck einher gehen.

Entscheidend sind die Gegenleistungen wie verbindliche Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung (für 93%), Ausgleich durch Entgeltzuschläge (88%), ausreichend lange Ankündigungsfristen (88%) und die Zusage, kurzfristig Freizeit nehmen zu können (93%). Schwerpunkte der neuen Arbeitszeitdebatte sind folglich mehr Arbeitszeitsouveränität, also über die eigene Zeit bestimmen zu können, bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, Beruf und Familie sowie Alters- und alternsgerechtes Arbeiten.

Obwohl die Arbeitszeitverkürzung als Mittel zur Beschäftigungssicherung nach wie vor aktuell ist – dies hat sich erst wieder in der Wirtschaftskrise 2008/2009 gezeigt –, zeichnet sich ab, dass zur künftigen Strategie der IG Metall keine generelle Reduzierung der tariflichen Arbeitszeiten gehören wird. Stattdessen wird die Flexibilisierung zentrales Thema sein. »Bislang ging es um flexible Arbeitszeiten aus Sicht der Arbeitgeber, jetzt geht es um Flexibilität für die Arbeitnehmer, die sie für Familien-, Bildungs- oder Pflegezeiten brauchen. Arbeitszeit wird ein Megathema der nächsten Jahre«, so der IG Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel (Der Tagesspiegel, 4.5.2014).

Dazu ist es notwendig, einen Zukunftsentwurf zur Neuregulierung der Arbeitszeit auf den Weg zu bringen, der Fragen von »Re-Regulierung der Arbeitszeit«, »guter Arbeit«, »Vereinbarung Leben und Arbeit« und Arbeitszeitverkürzung zusammenfügt. Parallel ist eine gesellschaftliche Debatte über neue arbeitszeitpolitische Initiativen anzustoßen, wenn die Gewerkschaften und die zivilgesellschaftlichen Kräfte in der »alten« Frage »Wem gehört die Zeit?« weiterkommen wollen.

[1] Aus: »Katalog der zu koordinierenden lohn- und tarifpolitischen Fragen«, Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA)
[2] In der Druckindustrie waren vom 12.4. bis zum 6.7.1984 in 563 Betrieben 45.612 Mitglieder der IG Druck und Papier beteiligt.
[3] IG Metall Vorstand (Hrsg.): Beschäftigtenbefragung. Analyse der Ergebnisse, Frankfurt a.M. 2014.

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