29. November 2018 Otto König/Richard Detje: IG Metall-Umfrage – 190.000 wählen »Umwandlung von Geld in Zeit«
»Wer will, der kann!«
Mit dem Slogan »Mein Leben, meine Zeit« startete die IG Metall in die Tarifrunde 2018. Die Gewerkschaft hatte nach jahrzehntelanger Abstinenz das Thema Arbeitszeit in Form von mehr Selbstbestimmung für die Beschäftigten wieder auf die tarifpolitische Agenda gesetzt.
Der Druck von 1,5 Millionen Streikenden aus den Betrieben, zuletzt in Tagesstreiks, ermöglichte einen Tarifabschluss, der akzeptable Entgelterhöhungen, das Recht auf »verkürzte Vollzeit« mit Rückkehrrecht zur »Normal-Vollzeit« und die Wahloption für Schichtarbeiter und Beschäftigte mit bis zu acht Jahre alten Kindern sowie pflegebedürftigen Angehörigen, das ab 2019 anstehende »Tarifliche Zusatzgeld« (TZUG) in Höhe von 27,5% eines Monatsentgelts in acht zusätzliche freie Tage umzuwandeln. Zwei dieser Tage finanziert der Arbeitgeber.
Zu Beginn der Umsetzungsphase des Tarifvertrags steht fest: Acht freie Tage statt zusätzlichem Lohn – diese Option ist für zehntausende Beschäftigte der deutschen Metall- und Elektroindustrie attraktiv. Wie ehren- und hauptamtliche Gewerkschafter*innen aus den Betrieben und den Geschäftsstellen der IG Metall übereinstimmend berichten, hat es einen regelrechten Run auf die Wahl-Option gegeben. Insgesamt haben sich unter den insgesamt knapp zwei Millionen Metaller*innen in tarifgebundenen Betrieben bis Ende Oktober mehr als 190.000 Beschäftigte dafür entschieden, im nächsten Jahr die zusätzlichen freien Tage statt des tariflichen Zusatzgeldes in Anspruch zu nehmen. So die ersten Zwischenergebnisse einer Befragung der IG Metall unter Betriebsräten in bislang 1.400 von 2.800 Unternehmen, darunter vor allem größere Unternehmen.
So haben beispielsweise bei Airbus 90% der Anspruchsberechtigten Anträge auf die Wahloption gestellt. Am Standort Sindelfingen des Autobauers Daimler sind bis Ende Oktober knapp 7.200 Anträge auf freie Tage statt zusätzlichem Geld eingegangen – 5.800 davon von Beschäftigten im Schichtbetrieb. »Für die Umsetzung in Sindelfingen ist unser klares politisches Ziel: Wer will, der kann«, sagte Betriebsratschef Ergun Lümali (Handelsblatt, 13.11.2018). Die absolute Zahl der Anwärter*innen für diese Wahloption steht noch nicht endgültig fest, da die Rückmeldung aus weiteren 1.400 tarifgebundenen Betrieben – darunter vor allem Klein - und Mittelbetriebe – aussteht. Entsprechend erwartet die Gewerkschaft bis Anfang 2019 höhere Zahlen.
Die meisten Anträge auf Umwandlung von Geld in Zeit wurden von 140.000 Schichtarbeitern gestellt. Das verwundert nicht, denn gerade in Bereichen mit starren Schichtsystemen sind die Belastungen durch Mehrarbeit und Sonderschichten sowie Arbeits- und Leistungsverdichtung in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Die Beschäftigten brauchen die freien Tage zur Erholung. Die Wahloption in diesem Beschäftigungssektor entwickelt sich damit zu einem »Humanisierungsprojekt« – Stichwort »Gute Arbeit«. Weitere 40.000 Beschäftigte wollen statt des Geldes mehr Zeit für ihre Kinder haben. Zudem erhoffen sich 10.000 Beschäftigte durch die acht freien Tage eine Entlastung bei der Pflege von Angehörigen.
Die Entscheidung für die Wahloption wird in den Medien als Bestätigung dafür gedeutet, dass viele Beschäftigte das Bedürfnis haben, weniger zu arbeiten, und dafür bereit sind, »Lohneinbußen« in Kauf zu nehmen – entsprechend die Schlagzeilen mit dem Tenor »Tausche Geld gegen Freizeit«. Ein Grund dafür könnte sein, so die Botschaft, dass die Metaller mit ihren Durchschnittslöhnen weit oben auf der Verdienstskala stehen würden. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat diese Argumentation dankbar aufgenommen und verbreitet nun das Narrativ: »Ganz offensichtlich spielt der Wunsch nach einem höheren Einkommen nicht mehr die zentrale Rolle – was wir für kommende Tarifrunden interessiert zur Kenntnis nehmen.«
Der Versuch, die »Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich« auf diese Weise mehrheitsfähig machen zu wollen, entbehrt jedoch jeder Grundlage, denn von der »kurzen Vollzeit« – also der Option, die Arbeitszeit[1] für bis zu 24 Monate auf bis zu 28 Wochenstunden zu reduzieren und danach zum ursprünglichen Volumen zurückzukehren – machen nach bisherigen Erkenntnissen nur rund 8.000 Beschäftigte im kommenden Jahr Gebrauch. Der Grund: Anders als die mit dem »T-ZUG« finanzierte Inanspruchnahme der acht freien Zusatztage ist die verkürzte Vollzeit mit echten Einbußen beim Monatsentgelt verbunden, was sich nur ein verschwindend geringer Teil der abhängig Beschäftigten leisten kann.
Das heißt für künftige tarifliche arbeitszeitpolitische Schritte: Arbeitszeitverkürzung ist für das Gros der Beschäftigten nur dann attraktiv, wenn der Lohnverlust (zumindest teilweise) ausgeglichen wird. Dies ist nicht unwesentlich, denn Arbeitszeitverkürzung zur Sicherung der Arbeitsplätze wird vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden strukturellen Umbrüche in der Metallindustrie wie in der Automobilbranche und deren Zulieferer sowie bei einem Ende des seit Jahren anhaltenden konjunkturellen Aufschwungs und damit verbundenen Wegfall von Arbeitszeitvolumina in größerem Umfang wieder eine größere Bedeutung bekommen.
Der Tarifvertrag verpflichtet die Arbeitgeber bis Ende des Jahres gemeinsam mit den Betriebsräten, praktikable Lösungen für die Umsetzung der Wahloption in den Betrieben zu finden. Vertreter von Gesamtmetall und deren regionalen Metallarbeitgeberverbände reagierten wenig begeistert über den »Sturm« in den Betrieben auf die Wahloption. Angesichts der hohen Beschäftigung und Auslastung der Betriebe und des herrschenden Fachkräftemangels in Deutschland berge »die Inanspruchnahme ein großes Problem«, lauten die Klagelieder landauf und landab. Deshalb müsse jeder »Freistellungstag« im Betrieb von »einem gleich qualifizierten Mitarbeiter durch längere Arbeitszeiten« ausgeglichen werden.
»Im Grunde brauchen wir für jeden, der verkürzen will, jemanden, der bereit ist, länger zu arbeiten«, fordert Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall. »Was betrieblich geht, wollen wir ermöglichen. Was nicht kompensiert werden kann, müssen wir jedoch ablehnen«, assistiert ihm der Präsident von METALL NRW, Arndt G. Kirchhoff. Der betriebliche Ablauf könne durch zu viele Antragsteller gefährdet werden. Um dies zu vermeiden müssten Anträge auch abgelehnt werden, was bedeute, »die neuen Tarifregelungen im Betrieb können zum Streit führen«. Um dies zu verhindern, erwarte er die Unterstützung der IG Metall.
Die Gewerkschaft wäre jedoch schlecht beraten, wenn sie sich vor den Karren der Arbeitgeber spannen ließe und nicht alles versuchen würde, die angemeldeten Ansprüche der Wahloptions-Nutzer betrieblich durchzusetzen. Aus Sicht der IG Metall lässt der Tarifvertrag den Arbeitgebern wenig Möglichkeiten, die Zustimmung zu verweigern. Sind die Anspruchs-voraussetzungen gegeben, müsse der Antrag des/der Beschäftigten bewilligt werden. Nirgendwo im Tarifvertrag steht, dass für jeden, der die freien Tage in Anspruch nehmen will, jemand länger arbeiten muss als bisher. Vereinbart ist, dass bei betrieblicher Notwendigkeit das entfallende Arbeitszeitvolumen durch die Nutzung flexibler Arbeitszeitinstrumente betriebsintern ausgeglichen werden soll. Für die Unternehmen gibt es zahlreiche Ausgleichsmöglichkeiten: Nutzung von Arbeitszeitkonten, Aufstockung der Stunden von interessierten Teilzeitkräften, unbefristete Übernahme der Ausgebildeten und Leiharbeiter, Neueinstellung sowie Qualifizierung und Förderung von Beschäftigten. Das setzt natürlich eine vorausschauende Personalpolitik voraus.
Es wird die Aufgabe der Betriebsräte sein, mit Unterstützung der IG Metall zum einen den tarifvertraglichen Anspruch der Beschäftigten durchzusetzen und zum anderen mehr Flexibilität »nach oben«, sprich eine Arbeitszeitverlängerung zu verhindern. Das setzt eine transparente, beteiligungsorientierte und wenn notwendig konfliktstarke Umsetzung der neuen Ansprüche voraus. »Wer heute Anträge der Beschäftigten auf mehr freie Zeit ablehnt, darf nicht damit rechnen, dass die Kolleginnen und Kollegen morgen zur Sonderschicht erscheinen«, warnt der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann die Arbeitgeber vor einer Blockadehaltung. Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein, auf der die Arbeitgeber die Fahrtrichtung vorgeben.
[1] Im Westen gilt in der Metall- und Elektroindustrie mit ihren insgesamt rund vier Millionen Beschäftigten die tarifliche 35-Stunden-Woche, im Osten sind es 38 Stunden.