2. Dezember 2024 Bernhard Sander: Die Lage in den Niederlanden
Westeuropa tritt auf der Stelle
In Frankreich, Belgien und den Niederlanden sind im vergangenen Jahr neue Parlamente gewählt worden, ohne dass sich stabile Regierungskonstellationen daraus entwickelt hätten. Der allgemeine Durchschnittswille und stabile Kräfteverhältnisse kristallisieren sich nicht heraus, obwohl große wirtschaftliche und finanzpolitische Handlungsnotwendigkeiten bestehen.
Insbesondere die angehäufte Verschuldung, aber auch die staatliche Neuverschuldung weiten sich unkontrolliert aus, die öffentliche Infrastruktur verfällt und transformative Investitionen unterbleiben. Und in Deutschland, der zweiten europäischen Führungsnation, zeichnen sich spätestens nach dem Bruch der Ampel-Koalition ähnliche Blockaden nach der Winterwahl ab.
Die Viererkoalition, die in den Niederlanden im Sommer die neoliberalen Regierungen unter Ministerpräsident Rutte abgelöst hatte, basiert auf entschlossenem Klientelismus neu gebildeter politischer Formationen, deren parteiförmige Instabilität außer Frage steht. Verbindendes Element ist eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Fremdenangst und -feindlichkeit.
Die Bauern- und Bürgerbewegung (BBB) als Zerfallsprodukt der Christdemokratie versucht, Umweltauflagen für die Landwirtschaft zu verhindern. Der Neue Sozialvertrag (NSC), ebenfalls aus der Christdemokratie hervorgegangen, will die verbliebenen Strukturen des sozialpartnerschaftlichen korporativen Poldermodells zersetzen, um Bewegungsspielraum für start-Ups, Digitalisierung und Finanzialisierung zu schaffen. Die rechtsextreme Partei für die Freiheit (PVV) ging aus dem um sich greifenden Unmut vor allem mit der neoliberal gewendeten Rutte-Partei VVD hervor und verspricht vor allem, die Mittelschichten durch rigorose Migrationspolitik vor empfundenen und realen Verlusten von Wohlstand und gesellschaftlichem Einfluss zu schützen.
Drei dieser Parteien, deren Vorsitzende allesamt nicht in der Regierung sitzen, sondern sie über ihre Parlamentsfraktionen unter Druck setzen können, verfügen über keinerlei administrative Erfahrung. Der VVD wollte sich auf solide öffentliche Finanzen und die Sicherung der Unterstützung für die Ukraine konzentrieren. NSC kann an der Agenda für soziale Sicherheit und Verwaltungsinnovation arbeiten. PVV und BBB werden im Kabinett die Möglichkeit haben, sich scharf mit ihren Themen zu profilieren.
Fakt ist, dass die Anhänger*innen von VVD und NSC viel weniger begeistert vom Amtsantritt des neuen Kabinetts sind als die Wähler*innen von BBB und PVV. Mangelnde Schlagkraft und Stabilität sind für viele VVD- und NSC-Wähler*innen Gründe, an dem neuen Kabinett zu zweifeln, während es bei sechs von zehn PVV-Wähler*innen (59%) eine Rolle spielt, als Bürger*innen ernst genommen und von der Politik »gesehen« zu werden, und dass die Partei im Kabinett »für Leute wie mich« da ist.
Schon die Regierungsbildung verlief holprig. Die VVD stimmte nach anfänglichem Protest ihrer Vorsitzenden Yeeswargöz der Nominierung der PVV-Hardlinerin Marjolein Faber zu, mit der man die »strengste Asyl - und Migrationspolitik ever« umsetzen will. Faber will an Flüchtlingszentren Schilder aufstellen, die darauf hinweisen, dass »wir hier arbeiten, um euch zurückzuschicken«. Koalitionspartnerin Caroline van der Plas von der BBB hält die Schilder für Tyrannei. Aber die stellvertretende Ministerpräsidentin der BBB, Wohnungsbauministerin Mona Keijzer, findet sie großartig und hat kein Problem damit, das zu sagen.
Wilders arbeitet darauf hin, eine Krise im niederländischen Asylsystem ausrufen zu lassen, damit das Parlament umgangen werden kann. Das ist für die NSC und ihren Vorsitzenden Pieter Omtzigt, der nach den Haushaltsverhandlungen, die fast zum Scheitern der Koalition geführt hätten, wochenlang mit Burn-Out-Symptomen laborierte, nicht akzeptabel.
»Die so genannte Asylkrise ist größtenteils von der neuen Regierung selbst herbeigeredet worden, und die Flüchtlingszahlen liegen weit unter den offiziellen Prognosen. Die Gesamtzahl der Antragsteller im Jahr 2024 wird in diesem Jahr voraussichtlich 50.000 erreichen, genauso viele wie in den Jahren 2022 und 2023«, stellte DutchNews.nl fest.
Die Haushaltsberatungen sind deshalb so stressig verlaufen, weil die Musterschüler der deutschen Finanzminister bisher die härtesten Verfechter im Austeritätslager der EU waren. Die jüngsten Prognosen des Nationalen Planungsbüros gehen nun aber für den Zeitraum von 2022 bis 2025 beim BIP von sinkenden Wachstumsraten aus und in der Neuverschuldung von steigenden Raten (siehe Tabelle).
Gross domestic product (economic growth, %) | 5.0 | 0.1 | 0.6 | 1.5 |
General government financial balance (% GDP) | -0.1 | -0.4 | -1.8 | -2.5 |
Gross debt general government (% GDP) | 48.3 | 45.1 | 45.0 | 46.7 |
In der Vergangenheit war das sogenannte Maastricht-Kriterium (-3% des BIP) kein bestimmender Faktor in der praktischen Haushaltspolitik, gewinnt aber durch die Rahmenrichtlinien der EU-Kommission nun handlungsleitende Relevanz. Der Haushalt ist auf Kante genäht. Die Militärhilfe für die Ukraine ist zwischen Wilders PVV und den anderen Koalitionären umstritten. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Güter der Kultur und des Sports von 9 auf 21%, sogenannte »Mittelklasse-Hobbys« wie Theater, Bücher und Museen, scheiterte im Parlament. Das gleiche Schicksal droht den geplanten massiven Kürzungen im Bildungssektor.
So bleibt Symbolpolitik für die eigene Klientel: Man wolle prüfen, ob das Tempolimit auf vier Straßenabschnitten wieder auf 130 km/h erhöht werden soll. Die Regierung hat sich dem Druck der Unternehmen gebeugt und die Steuererleichterung für Expats beibehalten, die als 27%-Regelung bekannt ist. Sie hat zur Beruhigung der NSC-Anhängerschaft ihren Widerstand gegen die Einführung von Null-Emissions-Zonen in den Städten aufgegeben - auf die sie ohnehin keinen Einfluss hatte.
Die Landwirtschaftsministerin Femke Wiersma, deren früherer Ruhm darin bestand, als Kandidatin in der Reality-Soap » Bauer sucht Frau« aufzutreten, hat ein Programm der Vorgängerregierung zum freiwilligen Rückkauf von Landwirtschaftsbetrieben, mit dem die Zahl der Tiere auf dem Land und damit die Gülleproduktion reduziert worden wäre, verworfen. Das Gesetz hatte massive Bauernproteste und die Gründung des BBB ausgelöst. Bei den wirklich großen Themen wie Wohnungsnot, Güllesee und Stickstoffverschmutzung der Böden hat es bisher keinerlei Fortschritte gegeben.
Die FAZ urteilt scharf: »Konkrete Schritte hat die Koalition bisher kaum verabschiedet, stattdessen ist sie von einer internen Krise zur nächsten gestolpert.« The Economist spricht von einem »Durcheinander«, DutchNews.nl gar von einem »blody Chaos«. Vorläufiger Höhepunkt ist dass die Regierung bereits an den gewalttätigen Ausschreitungen zwischen israelischen und niederländischen Fußball-Hooligans zu zerbrechen drohte, die zu »polarisierenden Umgangsformen« und rassistischen Äußerungen im Kabinett geführt haben.
Bei der ersten Kabinettssitzung nach dem Gewaltausbruch zwischen propalästinensischen Jugendlichen und Hooligans des israelischen Fußballklubs Maccabi Tel Aviv soll es ziemlich gekracht haben, erfuhr das öffentlich-rechtliche Fernsehnetzwerk NOS. Dabei sollen die Worte »Scheißmarokkaner« und »Halalfresser« gefallen sein. Finanzminister Eelco Heinen zog angeblich den Vergleich mit einem Pickel, den man ausdrücken müsse.
Wilders forderte in der Konsequenz, Antisemitismus als Grund zum Entzug der Staatsbürgerschaft (natürlich nur von Zugewanderten) zu prüfen, woraufhin die Finanz-Staatssekretärin ihr Amt und zwei NSC-Abgeordnete ihr Mandat niederlegten. Die Staatssekretärin ist in Marokko geboren, kam aber schon als Kind in die Niederlande, wo ihr Vater für wenig Geld als Koch arbeitete. Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen am Rand des Stadtviertels Schilderswijk im Zentrum von Den Haag. Fast jeder im Schilderswijk besitzt einen Migrationshintergrund.
Dem rechten und heimlichen Regierungschef Geert Wilders dient Schilderswijk als vermeintlich abschreckendes Beispiel für die Übernahme der Niederlande durch den radikalen Islam. Erst im August erklärte er den »Schariafaschisten« im Schilderswijk den Krieg.
Ob diese Regierung noch lange durchhält, ist fraglich. Neben den Kosten für die Ukraine-Subventionierung (vgl. Kasten) fürchtet man die Auswirkungen des us-amerikanischen Regierungswechsels. Die Ausfuhren in die USA machen nur zwischen 4% und 5% der niederländischen Exporte aus, so dass die Auswirkungen der Einfuhrzölle äußerst begrenzt sein werden, so das CPB. Die USA sind der fünftgrößte Exportmarkt der Niederlande und der größte außerhalb der EU, so das Financieele Dagblad. Die Unternehmen bereiten sich auf eine Trump-Präsidentschaft vor und einige sind besorgt über die möglichen Auswirkungen. Die Ökonomen der Rabobank vermuten, dass die neuen US-Zölle den Wert der niederländischen Exporte um 10 Milliarden Euro verringern könnten, was sich auf die Unternehmensgewinne auswirken könnte, heißt es in der Zeitung.
Die von Trump geplanten Einfuhrzölle werden die US-Exporte um 20 % verringern, die niederländischen Importe und Exporte werden jedoch nur um insgesamt 1% zurückgehen, so rechnete das halbstaatliche Zentrale Planungsbüro CPB vor. Die Auswirkungen auf einige Sektoren des verarbeitenden Gewerbes, wie Maschinenbau und Elektronik, werden größer sein, aber niederländische Unternehmen, die in den Bereichen Telekommunikation, Luftfahrt und Maschinenleasing tätig sind, werden von dem Plan eher profitieren, so die Agentur. In ganz Europa werden die Auswirkungen im Großen und Ganzen ähnlich sein, wobei Fahrzeugimporte und pharmazeutische Produkte am stärksten betroffen sind.
Wie belastet der Ukrainekrieg die nationale Wirtschaftskraft?[1]
Die Niederlande zahlten bisher rd. 6,92 Mrd. US-Dollar für bilaterale Hilfen, das entspricht etwa 0,68% des BIP 2021 für militärische, humanitäre und Wiederaufbauhilfen. Zugesagt sind insgesamt 11,72 Mrd. US-Dollar, also rd. 1,16% des BIP.
Belgien zahlte bisher für den Ukrainekrieg 2,34 Mrd. US-Dollar, was rd. 0,39 des BIP von 2021 entspricht. 2,39 Mrd. US-Dollar sind von Belgien zugesagt (0,4% des BIP). Frankreich hat 7,73 Mrd. US-Dollar zugesagt, davon sind 4,92 Mrd. US-Dollar ausgezahlt; das entspricht 0,26% des BIP (zugesagt) und 0,17% (ausgezahlt).
Zum Vergleich hat Deutschland an direkten Hilfen bisher rd. 24,82 Mrd. US-Dollar zugesagt und davon 16,23 Mrd. US-Dollar ausgezahlt, das entspricht 0,38% des BIP für Auszahlungen bzw. 0,58% des BIP an Zusagen.
Hinzu kommen die jeweiligen nationalen Anteile an Zahlungen und Zusagen im Rahmen von Vereinbarungen mit der EU. Die EU selbst und ihre Institutionen haben bisher an die Ukraine 47,16 Mrd. US-Dollar gezahlt von den zugesagten 85,84 Mrd. US-Dollar, was etwa bei den Auszahlungen 0,27% der Wirtschaftsleistung in der EU bzw. 0,50% entspricht (Zusagen). Es gibt durchaus Länder, vor allem Skandinavien und die baltischen Länder, die ein Vielfaches dieser BIP-Anteile für den Ukraine-Krieg einsetzen.
Alles in allem gilt aber für die genannten EU-Staaten, dass die Belastungen der Wirtschaftsleistung sich vorläufig in engen Grenzen halten und sich keinesfalls dazu eignen, um Drohkulissen des Staatsbankrotts aufzubauen. Wenn diese Kosten am Sozialbudget gemessen werden, beunruhigen diese Kosten gleichwohl. In den politischen Auseinandersetzungen vor allem des deutschen Wahlkampfes wird bereits die Kriegsfinanzierung zum Vorwand genommen, systematische Einschnitte am sozialen Transfersystem zu rechtfertigen.
Anmerkung
[1] ca7e9fa4-7667-4af3-a64d-8d1db535dd62-Ukraine_Support_Tracker_Release_19.xlsx