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Eine Flugschrift
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Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
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Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

19. Dezember 2015 Otto König / Richard Detje: 60 Jahre »Gastarbeiter«

Wie Deutschland zum Einwanderungsland wurde

Italienische »Gastarbeiter« 1955 auf dem Weg in den Heimaturlaub

Mitte der 1950er Jahre boomte in Westdeutschland die Wirtschaft. In der Metall- und Stahlindustrie, der Bauwirtschaft und dem Bergbau zeichnete sich erheblicher Arbeitskräftemangel ab. Nach den Massakern des Zweiten Weltkrieges und der geburtenschwachen Kriegsjahrgänge konnte der Arbeitskräftebedarf allein aus der bundesrepublikanischen Bevölkerung nicht mehr gedeckt werden. Es wurden »Gastarbeiter« angeworben.

Um den Arbeitskräftebedarf decken zu können waren die Unternehmen auf ausländischen Arbeitnehmer angewiesen. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1968 insbesondere mit südeuropäischen Staaten Anwerbeabkommen abgeschlossen. Das erste wurde am 20. Dezember 1955 in Rom mit Italien, wo hohe Arbeitslosigkeit herrschte, paraphiert.

Darin wurde die Arbeitserlaubnis für italienische Arbeiter in der Bundesrepublik sowie die Einrichtung von »Bilateralen Kommissionen« in den Anwerbebüros der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) in Nürnberg und der italienischen Arbeitsverwaltung – zunächst in Mailand/Verona und ab 1960 auch in Neapel – geregelt. In diesen Büros wurden die jungen und meist ungelernten Arbeitskräfte nach einer intensiven medizinischen Untersuchung für den Arbeitseinsatz ausgewählt.

Die ersten »Gastarbeiter« – so der offizielle Sprachgebrauch, denn nach den Plänen der Bundesregierung sollten sie nur vorübergehend bleiben – machten sich auf den Weg. Mit einem auf zwölf Monate befristeten Arbeitsvertrag einer Metallfirma am südlichen Rand des Ruhrgebiets im Gepäck und der Hoffnung, in Deutschland »sein Glück zu machen«, verließ auch Rocco Mondo[1] Anfang Mai 1961 auf den »Spuren seines älteren Bruders« sein Heimatdorf Butera auf Sizilien.

Die mangelnde berufliche Perspektive in ihren landwirtschaftlich geprägten Heimatdörfern ließ sie nach Westdeutschland reisen. Als der 17-Jährige, der deutschen Sprache noch nicht mächtig, zum ersten Mal seinen Fuß auf den Bahnsteig in Wuppertal-Elberfeld setzte, hatte er nicht im Kopf, sein Heimatland Italien für immer zu verlassen. Wie viele seiner italienischen Landsleute dachte er, »vielleicht bleibe ich zwei oder drei Jahre, dann geht’s zurück«. Es wurden 53 Jahre und der Ennepe-Ruhr-Kreis in Nordrhein-Westfalen seine zweite Heimat.

Die Zuwanderung von Arbeitskräften, vornehmlich in die industriell strukturierten Bundesländer wurde von der einheimischen Bevölkerung mehr als reserviert zur Kenntnis genommen. Nach einer Umfrage des Allensbacher Institutes im März 1956 lehnten 55% der BRD-Bürger ab, dass italienische Arbeiter nach Deutschland geholt werden. Ihr Argument war, dass es »genügend deutsche Arbeitskräfte« gäbe. »Dafür« waren 20%, »unter Umständen dafür« 6%; vom Thema noch nichts gehört hatten 18%.[2]

Gut zwei Millionen Italiener kamen nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit zwischen 1956 und 1972 als Arbeiter in die Bundesrepublik. Unter ihnen auch Calogero Mazzarisi aus der sizilianischen Provinz Caltanissetta. 1970 folgte er wie Rocco Mondo seinen beiden älteren Brüdern in den Ennepe-Ruhr-Kreis, wo er in der Herdfabrik H. Boecker GmbH im westfälischen Schwelm seine erste Arbeit aufnahm. Der ehemalige Gevelsberger Betriebsratsvorsitzende, der für seine vorbildliche Integrationsarbeit das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam, lebt in seiner »neuen« Heimat mittlerweile im Ruhestand.

Ab 1961 kam es bei anhaltender Konjunktur und dem abrupten Ende des Arbeitskräftezustroms aus der DDR nach dem Bau der »Mauer« zu weiteren Engpässen in den Betrieben der industriellen Schlüsselbranchen. Daraufhin schloss die Bundesregierung weitere Anwerbeabkommen ab: mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), mit Marokko und Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und schließlich Jugoslawien (1968).

Auch in der ehemaligen DDR herrschte ab den 1950er Jahren aufgrund des Flüchtlingsstroms nach Westdeutschland ein Mangel an einheimischen Arbeitskräften. Die Lücke wurde mit sogenannten Vertragsarbeitern aus Ungarn, Polen, Algerien, Kuba, Mosambik und Vietnam geschlossen. So kam Benson Kabila aus Kitwe, einer Stadt im Norden Sambias, 1963 zum Studium in die DDR. An der TU Dresden studierte er Elektrotechnik, absolvierte ein zweijähriges Praktikum im VEB Fimag in Finsterwalde. Schließlich reiste er 1971 in die Bundesrepublik aus, wo er Wochen später im westfälischen Hattingen in der Elektrowerkstatt der Henrichshütte seine Arbeit aufnahm.

Im Ruhrgebiet waren es vorwiegend die Stahlkonzerne, die beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hohe Wachstumsraten generierten. Dies führte beispielsweise auch bei der späteren »Thyssen Henrichshütte« in Hattingen zu steigenden Auslastung der Anlagen, was ein Anwachsen der Beschäftigtenzahl von rund 3.000 Mitte der 1950er Jahre auf 10.000 Anfang der 1960er Jahre nach sich zog.

In den 1950er Jahren konnte der Arbeitskräftebedarf zunächst aus dem Hattinger Raum und den umliegenden ländlichen Gemeinden sowie bis 1961 mit DDR-Flüchtlingen und mit ehemaligen Bergleuten aufgrund der 1958 einsetzenden Strukturkrise im Kohle-Bergbau abgedeckt werden. Danach setzte eine verstärkte Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer durch die Personalabteilung des Stahlwerks ein: aus dem Süden Westeuropas, aus Jugoslawien und in verstärktem Maße aus der Türkei.

Luis Martinez Aragunde erinnert sich, wie ihm, dem 20-Jährigen, der Arbeitsvermittler 1964 im galicischen Vigo in Spanien einen einjährigen Arbeitsvertrag für die Henrichshütte in die Hand drückte. In Hattingen angekommen, quartierten sie ihn mit weiteren 16 spanischen Landsleuten und neun portugiesischen Kollegen zuerst im Hotel »Adler« in der Henschel Straße und später im sogenannten Ledigenheim, dem Wohnheim der Hütte, ein.

»Die Bundesrepublik Deutschland entbietet Ihnen, die Sie fleißige Leute sind, ein herzliches Willkommen und versichert Ihnen, dass Sie sich auf unsere Gastfreundschaft verlassen können«, konnten die Neuankömmlinge einem Faltblatt der BfA als »Willkommensgruß« 1963 entnehmen. Am 10. September 1964 begrüßte eine offizielle Delegation am Bahnhof Köln-Deutz den Portugiesen Armando Rodrigues de Sá als millionsten »Gastarbeiter«. Bis 1973 kamen rund 14 Millionen ArbeitsmigrantInnen in die Bundesrepublik.

Die neuen Arbeitnehmer wurden zunächst befristet angestellt – zumeist in den untersten Lohngruppen. Weil sie aber häufig in überdurchschnittlich zahlenden Großunternehmen beschäftigt waren, Schwerstarbeit verrichteten und viele Überstunden machten, erreichten sie Anfang der 1970er Jahre im Schnitt immerhin Bruttogehälter, die nur wenig unter denen ihrer deutschen KollegInnen lagen.[3]

Die Bundesregierung verfolgte keine Einwanderungspolitik. Im Gegenteil: Die »Gastarbeiter« sollten per Rotationssystem alle drei bis vier Jahre ausgetauscht werden. Dagegen liefen die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Sturm, weil es für die Betriebe wenig effektiv war, immer neue Kräfte einzuarbeiten. Der Rotationszwang wurde wieder abgeschafft. So erhielten die Arbeitsmigranten eine Bleibeperspektive. Sie wurden zu Einwanderern, holten vermehrt ihre Familien nach und konnten die lagerartigen Baracken bzw. Wohnheime verlassen.

Dass es der Politik weiterhin nicht um eine vorausschauende Integrationspolitik ging, zeigte sich in der ersten großen Weltwirtschaftskrise des Nachkriegskapitalismus Mitte der 1970er Jahre, als die sozialliberale Koalition noch unter dem Kanzler Willy Brandt einen »Anwerbestopp« verhing. Mit der Stahlkrise und dem einsetzenden Niedergang der Montanindustrie verschärfte sich die Situation der Arbeitsmigranten insbesondere im Ruhrgebiet. Schnell überstieg die Arbeitslosenquote der ausländischen Beschäftigten die der Deutschen.

Deshalb bot die schwarz-gelbe Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl in den 1980er Jahren den Arbeitsmigranten, die in Kurzarbeit waren oder durch Konkurs des Arbeitgebers bzw. durch Betriebsstilllegung wie nach dem zwölfmonatigen Arbeitskampf um die Hattinger Henrichshütte in 1987[4] ihren Arbeitsplatz verloren, eine »Rückkehrprämie« in Höhe von 10.500 DM an, wenn sie Deutschland verließen.

Rund 14.000 Menschen nahmen im Laufe der 1980er Jahre bundesweit das Geld an und kehrten in ihre Heimatländer – vornehmlich in die Türkei – zurück. Zu wenige, fand der damals junge bayerische Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer, der schon 1983 in einer Bundestagsdebatte hetzte: »Wir können weder das Arbeitsamt noch das Sozialamt für die ganze Welt sein.« (DLF, 7.12.2015)

Missbrauchs-Kampagnen und populistische Pöbeleien gegen ArbeitsmigrantInnen haben in der bayerischen CSU und ihrem »irrlichtenden« Ministerpräsidenten eine lange Tradition. Opfer für ihre brandgefährlichen Zündeleien finden sich immer wieder: Da werden Flüchtlinge als »Armutsmigranten« und »Asylbetrüger« abgestempelt. Migranten aus Rumänien und Bulgarien, die seit Anfang des Jahres 2014 volle Freizügigkeit in der EU haben und auf der Suche nach Arbeit und einem »besseren« Leben sind, wird »Sozialtourismus« unterstellt und gedroht »Wer betrügt, der fliegt«.

Der rechtspopulistische Diskurs der CSU, der angesichts der gestiegenen Zahl an Schutzsuchenden Ängste der BürgerInnen vor der »Masseneinwanderung in die Sozialsysteme« schürt, bedient auch die Ressentiments des rechten Rands der Bevölkerung, die sich bei Pegida und in der AFD wiederfinden, und trägt bei zu einem politischen Klima, zu dem auch das Anzünden von Flüchtlingsheimen gehört.[5] Wie sich die Parolen vom »Sozialamt der Welt« über die Jahrzehnte doch gleichen.

Dabei wurde Deutschland längst zum Einwanderungsland. Die damaligen ArbeitsmigrantInnen haben die Bundesrepublik – und nicht nur deren Wirtschaft – mit aufgebaut und durch ihre Beiträge die Sozialversicherungssysteme stabilisiert. Da es unwahrscheinlich ist, dass in den Regionen, aus denen die Flüchtlinge kommen, sehr bald wieder Frieden herrscht, dürfen die Fehler der 1960/70er Jahre nicht wiederholt werden, sondern die Integration der Neuangekommenen in die Gesellschaft muss von Anfang an vorangetrieben werden.

[1] Die in dem Artikel erwähnten bzw. zitierten Migranten sind ehrenamtliche Funktionäre der IG Metall Geschäftsstelle Gevelsberg-Hattingen.
[2] Fast 60 Jahre später kommt eine Allensbach-Umfrage zur »Flüchtlingskrise« zu dem Ergebnis, dass die Besorgnis in der Bevölkerung auf Grund des »Zustroms von Flüchtlingen« wachse: Waren im August 40% der Bürger außerordentlich besorgt, im September 44%, sind es im Oktober 54%. Die Zuwanderung bringe nach Einschätzung der überwältigenden Mehrheit überwiegend Risiken mit sich; lediglich 6% sehen überwiegend Chancen, weitere 16% ein ausgewogenes Verhältnis von Risiken und Chancen (FAZ, 21.10.2015).
[3] Jutta Höhne/Benedikt Linden/Eric Seils/Anne Wiebel: Die Gastarbeiter – Geschichte und aktuelle soziale Lage, WSI Report Nr. 16, September 2014.
[4] Otto König: Wenn es brennt an der Ruhr – Hattingen kämpft ums Überleben, in: ders.: Band der Solidarität – Widerstand, Alternative Konzepte, Perspektiven, VSA: Verlag, Hamburg 2012.
[5] Bis Mitte November 2015 wurden 1.610 überwiegend rechtsradikal motivierte Delikte gezählt, die im Zusammenhang mit der »Unterbringung von Asylbewerbern« stehen. Unterkünfte wurde 817-mal angegriffen – viermal so viel wie in 2014. (Zeit online, 15.12.2015)

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