29. September 2019 Otto König/Richard Detje: Weltweite Demonstrationen für Klimaschutz – »Eine Welle der Veränderung«
»Wie könnt ihr es wagen?«
Greta Thunberg hat in New York die Staats- und Regierungschefs mit einem von Wut und Verzweiflung geprägten Statement zu entschiedenen Maßnahmen gegen die globale Klimakatastrophe aufgefordert. Schonungslos stellte sie eine Politik bloß, die den realen Problemdimensionen ausweicht und vor Systemkorrekturen zurückschreckt.
»Ganze Ökosysteme brechen zusammen. Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens. Und alles, worüber ihr reden könnt, ist Geld und Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum.« Seit mehr als 30 Jahren sei die Wissenschaft »kristallklar« in der Beweisführung eines menschenverursachten Klimawandels und der Dringlichkeit umgehender und umfassender Gegenmaßnahmen. Jahrzehnte wurden mit Symbolpolitik vertan. Selbst heute noch lebt man von geborgter Zeit. Der bei den Vereinten Nationen versammelten Staatshäuptern rief sie entgegen: »Und wenn ihr euch entscheidet, uns im Stich zu lassen, werden wir euch niemals verzeihen.«[1] Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass man in der UN eine derartige Anklage gegen die Polit-Elite zu hören bekam.
Den Climate Action Summit hatte UN-Generalsekretär António Guterres mit den Worten eröffnet, die jungen Klimaaktivisten hätten Recht, wenn sie »sofortiges Handeln« verlangten. Eine weltweite CO2-Neutralität bis zur Mitte dieses Jahrhunderts ist nach Einschätzung des Weltklimarats die Voraussetzung dafür, die Erderwärmung noch auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter begrenzen zu können. Dieses Ziel hatte sich die internationale Gemeinschaft im Pariser Klimaabkommen 2015 gesetzt. Bereits vor dem Treffen in New York hatten Wissenschaftler im aktuellen Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC 2018) gewarnt, dass die globale Erwärmung zwischen 2030 und 2052 1,5°C erreichen und von dort aus weiter steigen werde. Die atmosphärische Konzentration des Treibhausgases CO2 steigt in Rekordtempo, die dadurch hervorgerufene Versauerung der Ozeane (Bildung von Kohlensäure aus Kohlendioxid) nimmt weiter zu und der Anstieg der Meere beschleunigt sich.
In seinem aktuellen »Sonderbericht über den Ozean und die Kryosphäre« stellt der IPCC fest, dass bereits heute die Meereisflächen der Arktis jedes Jahrzehnt um 13% schrumpfen, was ebenso wie das Schmelzen des Permafrostes Rückkopplungseffekte zur Folge hat, die den Klimawandel dynamisieren. Damit dürften im kommenden Jahrzehnt möglicherweise unumkehrbare Veränderungen – sogenannte Kipppunkte – eintreten, die in den bisherigen Berechnungen der Erderwärmung nicht oder nur unzulänglich berücksichtigt sind. So zeichnet sich in den heute zugänglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Welt ab, die man in der Tat »nicht wiedererkennt«.
Das wiedererwachte Umweltbewusstsein treibt die Menschen auf die Straßen. Spätestens seit dem global-climate-strike am 20. September ist die Schüler*innen-Bewegung Fridays for Future eine weltweite Massenbewegung geworden. In über 150 Staaten beteiligten sich über vier Millionen Menschen an zehntausenden Demonstrationen. Allein in Deutschland fanden in 575 Städten Aktionen und Demonstrationen mit rund 1,4 Millionen Menschen statt: Berlin 270.000, Hamburg 90.000, Köln 70.000, Frankfurt 40.000, München 50.000 und Essen 8.000 etc. In mehreren Großstädten ging am 20. September über viele Stunden nichts mehr. Es ist ein Erfolg der neuen Jugendbewegung, deren Aktivist*innen seit knapp einem Jahr auf die Straße gehen, dass die Klimakrise zu einem dominierenden Thema auf der politischen Agenda wird und bleibt, weil, so Noam Chomsky, das »menschliche Überleben auf dem Spiel« steht. Übertrieben? Noch einmal IPCC: Bereits 80% des Planeten bekommen die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren. »Wir können das nur unter Kontrolle bringen, wenn wir die Emissionen schnell und stark senken.«
Daran ist »Klimapolitik« zu messen – nicht an Lobbyinteressen, Koalitionsproporz, Schwarzen Nullen oder Rücksichtnahme auf nord- und lateinamerikanische Klimaleugner und Regenwaldzerstörer. »System change, not climate change« heißt es bei Fridays for Future.
Das zeitgleich mit dem globalen Klimastreik präsentierte »Klimaschutzprogramm 2030« des schwarz-roten »Klimakabinetts« zeugt davon, dass natur- und gesellschaftswissenschaftliches Dringlichkeitswissen nicht Leitlinie großkoalitionären Handelns ist. Was auf 22 Seiten in 70 Einzelmaßnahmen zusammengeheftet wurde, ist bereits »im Ansatz verfehlt« (siehe hierzu Das Klimapaket der GroKo: Im Ansatz verfehlt, SozialismusAktuell.de vom 24.9.2019). Schon die Einleitung von Kanzlerin Merkel unter dem Titel »Politik ist das, was möglich ist«, deutet darauf hin, dass das Maßnahmenpaket der Koalition das beinhaltet, was Merkel zufolge eigentlich unterlassen werden sollte: »Pillepalle«. »Mit dieser Entscheidung wird die Bundesregierung die selbstgesteckten Klima-Ziele für 2030 nicht erreichen«, kommentierte Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
In der Bewertung des 50-Milliarden-Euro-Klimapakets sind sich fast alle Experten einig: Es markiert keinen Aufbruch in eine kohlenstoffarme Zukunft. Umweltverbände wie BUND, Nabu und Greenpeace bewerten das Eckpunktepapier der GroKo als Dokument des Scheiterns, mit dem die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens misslingen werde. Die Fridays for Future-Aktivist*innen twitterten nach der Bekanntgabe: »Wir sind fassungslos, wie vehement die Regierung vor so dringend notwendigen Maßnahmen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zurückschreckt. Das kann nicht die Antwort auf neun Monate Klimastreiks und auf den Weckruf von über 26.000 Scientists for Future sein.«
Okay, im Klein-Klein lässt sich was finden, wie die steuerliche Förderung der Wärmesanierung von Altbauten, oder das Verbot der Installierung neuer Ölheizungen – wenn auch viel zu spät – ab 2026. Zum reduzierten Mehrwertsteuersatz angebotene Bahntickets werden keine CO2-relevante Lenkungsfunktion haben, und auf die Einführung eines 365-Euro-Nahverkehrstickets (Wiener Modell) hat das Klima-Kabinett von vornherein verzichtet (obwohl es in Görlitz und Reutlingen den Praxistest bestanden hat) . Ein CO2-Preis für Brenn- und Treibstoffe in Höhe von 10 Euro pro Tonne CO2 (drei Cent pro Liter) liegt im Rahmen jener Schwankungen, die Mineralölkonzerne sich zu Beginn von Ferienwochen genehmigen. Auch hier: Lenkungsfunktion nahe Null, das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) spricht von einer »Alibi-Funktion«. Selbst Wirtschaftsverbände wie BDI, VDMA und BDEW kritisieren den schleppenden Ausbau von Wind- und Solarenergie als »nicht ausreichend, um das Ziel von 65% erneuerbare Energie bis 2030 zu schaffen« (derzeit liegt der Anteil bei gerade einmal 40%), womit Elektromobilität auf der Basis regenerativer Energieträger gleichsam in der Luft hängt. Und die Landwirtschaft ist im Maßnahmenpaket der Bundesregierung überhaupt nicht betroffen. Die Dekarbonisierungsziele werden so verfehlt. Das weiß auch die Bundesregierung: Einer Aufstellung des Klimakabinetts zufolge bringen sie, wenn es gutgeht, gerade einmal die Hälfte der bis dahin notwendigen Einsparung von 300 Millionen Jahrestonnen CO2.
Bei den großen Stellschrauben haben die Koalitionäre versagt. Notwendig wäre eine langfristige staatliche Investitionsoffensive, doch dafür muss sich die Regierung von der sogenannte »schwarzen Null« verabschieden. Zusätzliche Einnahmen können aus der Vermögens-, der Erbschafts- und Finanztransaktionssteuer kommen. Der Entwurf lasse jedoch vermuten, »dass die Priorität der Bundesregierung weiterhin dem ausgeglichenen Haushalt gilt und nicht einer entschlossenen Klimapolitik, deren Investitionsbedarfe weit über den zu erwartenden Mehreinnahmen liegen«, kritisierte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann.
Der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid muss teurer werden, damit Autofahrer, Industrie und Hausbesitzer einen Anreiz haben, weniger von dem Klima-Gas zu produzieren. Grundsätzlich gibt es zwei Varianten für einen CO2-Preis:[2] Entweder man erhöht die Steuern auf Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas entsprechend ihres CO2-Gehalts. Oder man etabliert einen Handel mit Zertifikaten für den Verkauf von Heiz- und Kraftstoffen. Da die CDU/CSU das Wort Steuer, um jeden Preis verhindern wollte, will die schwarz-rote Koalition einen komplizierten und langwierigen Emissionshandel für den Bereich Wärme und Verkehr einführen. So sollen Konzerne ab 2021 für jede freigesetzte Tonne CO2 zehn Euro zahlen. Bis 2025 will die Bundesregierung diesen Preis bis auf 35 Euro pro Tonne anheben. 2026 wird die Bepreisung in einen nationalen Emissionshandel mit 35 Euro Mindest- und 60 Euro Höchstpreis überführt; wie es danach weitergehen soll, wird erst 2025 festgelegt.
Erläuterung zur Grafik: Das DIW (grün) schlägt vor, ab 2020 je freigesetzte Tonne 35 Euro zu erheben und bis 2030 auf 160 Euro anzuheben. Das Potsdamer Institut (PIK) (grau) empfiehlt einen Einstiegspreis von 50 Euro der auf 130 Euro steigen sollen. Dagegen hat das Klimakabinett (rot) einen CO2-Preis von 10 Euro als Einstiegspreis , der in 2025 auf 35 Euroangehoben werden soll, beschlossen.
»Der homöopathische Einstieg in die CO2-Bepreisung von 10 Euro die Tonne CO2 wird keinerlei Lenkungswirkung entfalten«, kritisieren Umweltschützer in einer gemeinsamen Stellungnahme. Ein sinnvoller Einstiegspreis liegt bei 50 Euro pro Tonne CO2 – und er müsste dann bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts, also 2030, auf 130 Euro steigen.[3] Der CO2-Preis hätte das klimapolitische Leitinstrument werden müssen, hat aber nun nur eine Alibi- Funktion.
Dass es ökologisch sinnvoll wäre, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu verteuern, gilt – von den völkisch-nationalistischen Klimaleugnern der AfD abgesehen – als unstrittig. Der Zweck eines CO2-Preises ist, klimaschädliches Verhalten unattraktiver zu machen. Es soll ein Anreiz entstehen für eine klimaschonende Lebensweise. Natürlich haben die Beschäftigten Interesse an einem sicheren Job und einer guten Bezahlung, aber auch daran, »dass die Erde für ihre Kinder und Enkel lebenswert bleibt. Und sie haben Interesse an bezahlbarer und zugänglicher Mobilität und Energie«, so der Erste Vorsitzende der IG Metall Jörg Hofmann im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.09.2019). Also: »Einen gut ausgebauten und erschwinglichen öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV), ein flächendeckendes Netz von Schnellladestationen für Elektroautos, geförderte umweltfreundliche Heizungen. Ohne diese Alternativen führt der CO2-Preis nicht zu mehr Klimaschutz, sondern zu Frust in weiten Teilen der Bevölkerung – weil viele Menschen gar keine Wahl haben und für sie lediglich die Lebenshaltungskosten steigen.«
Um Haushalte mit unterdurchschnittlichem Einkommen nicht zusätzlich zu belasten, hatten die IMK-Forscher Sebastian Gechert, Katja Rietzler, Sven Schreiber und Ulrike Stein in einem Gutachten für das Bundesumweltministerium eine Kombination aus CO2-Steuer und »Klimaprämie«[4] als sozialverträgliche Lösung vorgeschlagen. Um die Kluft zwischen den Einkommensschichten nicht noch weiter zu vergrößern, sei es nötig, die Einführung einer CO2-Steuer mit einer Entlastung der unteren Einkommen zu verbinden – ohne die Lenkungswirkung der Steuer zu konterkarieren. Dem Gutachten zufolge wäre eine sogenannte Klimaprämie ein geeignetes Instrument. Die Idee: Das Aufkommen aus der Besteuerung von CO2-Emissionen wird in Form eines einheitlichen Pro-Kopf-Betrags an alle Bürger ausgezahlt. Im Verhältnis zum Einkommen würde diese Auszahlung bei Geringverdienern höher ausfallen und damit dem regressiven Effekt der CO2-Steuer entgegenwirken.
Dass es politisch riskant sein kann, die sozialen Auswirkungen zu vernachlässigen, haben die »Gelbwesten«-Proteste in Frankreich gezeigt. Der CO₂-Preis von 10 Euro bedeutet eine Preiserhöhung für einen Liter Sprits von rund drei Cent und bei 35 Euro würde der Benzinpreis um zehn Cent ansteigen. Um die Belastung für Pendler, die täglich mit dem Auto zur Arbeit fahren müssen, abzumildern, will die Bundesregierung die Pendlerpauschale marginal anheben. Statt 30 Cent pro Entfernungskilometer sollen Autofahrer künftig 35 Cent von ihrer Lohnsteuer absetzen können – allerdings vorerst befristet bis 2026 und erst ab dem 21. Kilometer. Darunter bleibt es bei 30 Cent. Zusätzlich soll das Wohngeld steigen und Strom etwas billiger werden. Das sind Ausgleichszahlungen, deren ökologische aber auch soziale Lenkungswirkung zu vernachlässigen sein wird – gerade auch beim SUV-Fahrer.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich trotz der dünnen Ergebnisse des New Yorker Klima-Gipfels zufrieden. Staatschefs aus rund 70 Staaten – nicht darunter der Klimaleugner Donald Trump – hatten versprochen, Pläne fristgerecht bis Ende 2020 vorzulegen – der Pariser Weltklimavertrag sieht diese Deadline vor. Eine Gruppe von 77 Ländern, darunter auch Industriestaaten, kündigte an, bis 2050 »klimaneutral« werden zu wollen. Doch den Ankündigungen müssen Taten folgen. Wie dringlich das ist, zeigt der Sonderbericht des UN-Weltklimarates (IPCC).
Um das »Business as usual« beim Klimaschutz zu durchbrechen, muss der Druck der Straße weitergehen. Mit Blick auf den Weltklimagipfel im Dezember in Santiago sagte Greta Thunberg vor 250.000 Demonstrant*innen in New York: »Wir sind nicht nur ein paar junge Leute, die die Schule schwänzen, oder ein paar Erwachsene, die nicht zur Arbeit gegangen sind – wir sind eine Welle der Veränderung. Zusammen sind wir nicht aufzuhalten.« Solidarität neu durchbuchstabiert!
Anmerkungen
[1] Die Rede ist übersetzt auf der Homepage der Wochenzeitung »Freitag« nachzulesen.
[2] Siehe hierzu Axel Troost/Reinald Ötsch, CO2-Preis – weder Superheld noch Superschurke, in: Sozialismus.de, Heft 10/2019.
[3] Vgl. Optionen für eine CO2-Preisreform«, MCC-PIK-Expertise für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Berlin Juni 2019.
[4] Vgl. »Fairer Wandel mit Klimaprämie«, Böckler Impuls 13/2019.