14. Juli 2023 Redaktion Sozialismus.de: Die regierungsamtliche China-Strategie
Wie umgehen mit dem Elefanten im Raum?
Die Bundesregierung hat sich erstmals umfassende Leitlinien für den Umgang mit der Volksrepublik China gegeben. Die verabschiedete China-Strategie soll einen Weg aufzeigen, wie Deutschland seine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der asiatischen Großmacht weiter ausbauen kann, ohne seine eigenen Werte und Interessen zu gefährden.
Die politisch Verantwortlichen wollen damit die Beziehungen zu der wirtschaftlichen Großmacht neu ordnen. In der neuen Strategie sind allerdings letztlich nur die bisher verfolgten Leitlinien zusammengefasst: Die Interessen der Regierungspolitik und die von deutschen Unternehmen sind nicht deckungsgleich. Der Staat wird in Zukunft weniger Risiken des China-Geschäfts übernehmen und einseitigen Importabhängigkeiten soll gegengesteuert werden.
Der übergreifende Titel der regierungsamtlichen China-Strategie lautet daher: »De-risking«, Risikominimierung im wirtschaftlichen Umgang mit der Volksrepublik. Eine Abkopplung (»Decoupling«) vom chinesischen Markt wird es nicht geben.
In der Ausarbeitung moniert die Bundesregierung an der chinesischen Regierungspraxis, Menschenrechte schwerwiegend zu verletzen und mit ihrer Machtpolitik im Indopazifik das Völkerrecht zu unterlaufen: »Verhalten und Entscheidungen Chinas führen dazu, dass die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in unserer Beziehung in den vergangenen Jahren zugenommen haben.« Die Passagen zu Taiwan, Hongkong, der Situation der Uiguren in Xinjiang und zur Menschenrechtslage wertete die chinesische Botschaft als Einmischung in die innen Angelegenheiten Chinas.
Der Plan der Bundesregierung, Abhängigkeiten zu verringern, wird von Peking als Risiko für die Wiederbelebung der Wirtschaft und die globale Stabilität eingestuft. Die Betrachtung als »Systemkonkurrenten und -rivalen« entspreche weder den objektiven Tatsachen, noch den gemeinsamen Interessen beider Länder. Die chinesische Seite warnte, ein »ideologischer Blick auf China wird nur Missverständnisse und Fehleinschätzungen verstärken und die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen schädigen«. Beide Seiten sollten stattdessen ihr gegenseitiges politisches Vertrauen kontinuierlich stärken, und die Minderung des Risikos für die gegenseitigen Beziehungen vorantreiben.
Siegfried Russwurm, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), buchstabiert die Essenz der China-Strategie in die Formel: Risiken herunterfahren und gleichzeitig weitermachen: De-risking aber kein Decoupling sei das Richtige: »Sie adressiert geopolitische Risiken, betont aber gleichzeitig Deutschlands Interesse an substanziellen Wirtschaftsbeziehungen und an Kooperationen mit China zur Bewältigung globaler Herausforderungen.« China bleibe als »zweitgrößter Markt der Welt ein absolut zentraler Wirtschaftspartner«.
Dass die China-Debatte der deutschen Industrie mit der Berliner Strategie eher am Anfang steht als am Ende, machte Russwurm ebenfalls klar. Bei der »konkreten Ausgestaltung einiger Maßnahmen« bestehe »aus Sicht der Industrie noch Diskussionsbedarf«, vor allem was »mögliche Instrumente zur Kontrolle deutscher Investitionen im Ausland anbelangt«. Was den BDI, was die Industrie besonders umtreibt, ist deren Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen und Vorprodukten. Deutschland und die EU bräuchten hier »eine umfassende und langfristig angelegte Strategie zur Diversifizierung«.
Dass sich China in den vergangenen Jahren verändert hat, worauf sich auch die deutsche Politik einstellen müsse, eine Banalität, die die grüne Außenministerin Annalena Baerbock formulierte, ist eine Diagnose, der wohl kein/e Manager*in in diesem Land widersprechen würde. Einseitige Abhängigkeiten von China abbauen, wenn möglich sogar vermeiden, die eigene wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit im Auge haben – wird wohl ein*e jede*r unterschreiben. Die Frage ist nur: Wie weit dürfen die Veränderungen gehen, wenn aus dem jahrelangen Partner ein systemischer Rivale wird.
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, stellt daher zu Recht den wenig konkreten Charakter des De-Risking heraus – vielleicht auch, weil ein Papier, das der Industrie Risikominderung statt Entkopplung empfiehlt, nicht wirklich konkret sein kann. »Denn die besorgniserregende Wahrheit ist, dass Deutschland in einem so hohen Maße abhängig von China ist, dass ein schneller Abbau der Abhängigkeiten und Risiken unrealistisch scheint.«
Die US-Finanzministerin Janet Yellen hat im Ergebnis ihrer kürzlichen China-Reise (siehe hierzu auch unseren Beitrag zu ihrem Besuch »Koexistenz oder Eskalation?«) eine treffendere Auflösung für den Widerspruch im geschäftlichen Umgang mit der Volksrepublik gefunden: »Manche sehen die Beziehungen zwischen den USA und China im Rahmen eines Großmachtkonflikts: ein bilateraler Nullsummenwettstreit, bei dem der eine fallen muss, damit der andere aufsteigen kann. Präsident Biden und ich sehen das nicht so. Wir glauben, dass die Welt groß genug für uns beide ist. China und die Vereinigten Staaten können und müssen einen Weg finden, zusammenzuleben und am globalen Wohlstand teilzuhaben. Wir können unsere Unterschiede anerkennen, unsere eigenen Interessen verteidigen und in einen fairen Wettbewerb treten.
In der Tat werden die Vereinigten Staaten weiterhin mit Vertrauen in die fundamentale Stärke der amerikanischen Wirtschaft und die Fähigkeiten der amerikanischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handeln. Aber wie Präsident Biden sagte: ›Wir sind gemeinsam dafür verantwortlich, zu verhindern, dass der Wettbewerb auch nur annähernd zu einem Konflikt wird.‹ Es ist schwierig, die Konturen eines Engagements zwischen Großmächten auszuhandeln.
Und die Vereinigten Staaten werden niemals Kompromisse bei unserer Sicherheit oder unseren Prinzipien eingehen. Aber wir können einen Weg nach vorne finden, wenn auch China bereit ist, seinen Teil beizutragen […] Ich hoffe, dass ich nach dem politischen Wandel in Peking mit meinem neuen chinesischen Regierungspartner einen wichtigen und substanziellen Dialog über wirtschaftliche Fragen führen kann. Ich glaube, dass dieser Dialog dazu beitragen kann, den Grundstein für eine verantwortungsvolle Gestaltung unserer bilateralen Beziehungen zu legen und in Bereichen zu kooperieren, die für unsere Länder und die Welt eine gemeinsame Herausforderung darstellen.«
Das Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen auf der einen, und wertepolitischen Grundsätzen auf der anderen Seite wird auch in den kommenden Jahren die politische Debatte prägen. Die deutsche Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie sich in von präziseren und weniger ideologisch geprägten Einschätzungen leiten ließe.