19. Juni 2020 Redaktion Sozialismus: Sorge um zweite Infektionswelle in China
Wiederaufbauprogramm in China gefährdet?
In der Volksrepublik wächst die Sorge vor einer zweiten Corona-Infektionswelle. China hat im Juni den höchsten Anstieg bei Neuinfektionen mit dem Coronavirus seit April gemeldet. Die meisten Fälle traten in der Hauptstadt Peking auf und wurden offenbar nicht aus dem Ausland »importiert«.
Diese Neuinfektionen stehen nach Behördenangaben im Zusammenhang mit einem nahegelegenen Großmarkt. Der Xinfadi-Markt im Pekinger Stadtviertel Fengtai, der rund 90% des Gemüses und Obstes der 20-Millionen-Metropole liefert, wurde geschlossen. Im Umfeld wurden elf Wohnviertel abgeriegelt sowie neun Kindergärten und Grundschulen zugemacht. Rund 10.000 Händler und Mitarbeiter*innen des Marktes sollen getestet werden. Der Xinfadi-Markt ist der größte in Peking und hat eine Fläche von 112 Hektar – umgerechnet rund 150 Fußballfelder. Er soll umfassend desinfiziert werden. Die ursprünglich geplante Öffnung der Grundschulen wurde wegen des neuen Infektionsherds verschoben. Auch alle Sportveranstaltungen sowie Gruppenreisen in andere Provinzen wurden abgesagt.
Dieser Rückschlag in der Kontrolle des Infektionsgeschehens trifft die chinesische Ökonomie in einer fragilen Konstellation: Der Belebungsprozess der gesellschaftlichen Reproduktion wird gestört. Chinas Wirtschaft hat sich im Mai leicht von dem Konjunktureinbruch infolge der Corona-Krise und des Lockdowns erholt. Die Industrieproduktion legte im Vergleich zum Vorjahr um 4,4% zu, schon im April war die Industrieproduktion der Volkswirtschaft um knapp 4% gestiegen. Da aber der Rekonstruktionsprozess der Weltwirtschaft deutlich langsamer und widersprüchlicher verläuft, kommt der Binnenkonjunktur eine tragende Rolle zu: Im Mai verzeichnete das Verarbeitende Gewerbe mit einem Plus von 5,2% den größten Anstieg, gefolgt von der Energieversorgung mit plus 3,6%. Gleichwohl schwächelt die Binnennachfrage weiterhin. Die Umsätze im Einzelhandel fielen im Mai im Jahresvergleich um 2,8%.
Im Mai haben in China die Investitionen in die Infrastruktur die Wirtschaft belebt. Davon profitieren auch die Stahl- und Zementproduzenten sowie die Millionen Wanderarbeiter*innen, die stark unter den Folgen von Covid-19 leiden. Zumindest laut den offiziellen Zahlen des National Bureau of Statistics of China erholt sich das asiatische Land schneller als erwartet von der Covid-19-Krise.
Besonders die industrielle Produktion mit einem Plus von 4,4% im Mai gegenüber dem Vorjahresmonat zieht wieder an. Der Detailhandel ist zwar noch im Minus. Aber auch seine Lage bessert sich schrittweise, nachdem er vor allem im Januar und Februar zur Hochzeit der Covid-19-Pandemie noch zweistellig eingebrochen war.
Die finanzpolitischen Impulse für die Aufwärtsbewegung auf dem Binnenmarkt sind die Ausgaben für Infrastruktur, die im Mai um annähernd 12% zugelegt haben. Damit schlagen sich die an die Provinzregierungen verteilten Quoten zur Ausgabe spezieller Anleihen in den Zahlen nieder, mit denen nun landesweit Infrastrukturprojekte finanziert werden.
Im laufenden Jahr sollen diese Impulse unter dem Stichwort »neue Infrastruktur« ausgebaut werden, sodass entsprechende Vorhaben mit rund 650 Mrd. Yuan gefördert werden, was in etwa 90 Mrd. Euro entspricht. Diese Konjunkturmaßnahmen zeigen auch, dass der Großteil der für 2020 vorgesehenen Kredite von 3.750 Mrd. Yuan weiterhin noch immer für traditionelle Infrastrukturvorhaben eingesetzt wird. Kurzfristig ist damit eine Belebung der Konjunktur verbunden, die sich vor allem im zweiten Halbjahr auf die Statistiken auswirken wird.
Die Wirkung auf den Konsum ist bislang begrenzt: Erstens weil die Chines*innen wegen der unsicheren Wirtschaftslage verunsichert sind, was sich negativ auf ihr Konsumverhalten auswirkt; zweitens werden wegen der schwierigen Lage am Arbeitsmarkt und der zurückgehenden verfügbaren Einkommen die Konsumausgaben nur zögerlich gesteigert.
Die Coronakrise hatte die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt im ersten Quartal um 6,8% zum Vorjahr einbrechen lassen. Das erste Land, das durch einen rigorosen Lockdown massiv geschädigt wurde, erholte sich auch als erstes aus dem Corona-Schock. Jetzt lösen die Meldungen aus dem Wirtschaftssektor die Erwartung aus, dass die Krise ausgestanden sein könnte. Für das anstehende dritte Quartal kann mit einem BIP-Wachstum um 5% gerechnet werden. Die OECD war in ihrer jüngsten Wirtschaftsprognose daher optimistisch, was die Erholung der chinesischen Wirtschaft angeht. Die weltgrößte Volkswirtschaft USA könnte in diesem Jahr um bis zu 8,5% schrumpfen, die chinesische dagegen nur um maximal 3,7%.
Eine Reihe von Indikatoren stützen diese Prognose: Die chinesischen Exporte sind zwar eingebrochen, aber weniger als erwartet. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres nahmen die Ausfuhren von medizinischen Produkten sowie Textilien, etwa für Atemschutzmasken, um gut 20% zu. Auch der zeitweilig lahmgelegte Automobilsektor kommt wieder in Bewegung. Die Verkäufe auf dem weltgrößten Pkw-Markt kletterten auf Jahresbasis um 14,5% auf 2,2 Mio. Fahrzeuge, wie der Herstellerverband CAAM meldet. Im März waren sie um gut 40% eingebrochen. Im April hatten die Autoverkäufe bereits um 4,4% zugelegt. Im Februar war der Rückgang mit minus 80% besonders hoch, weil damals das öffentliche Leben wegen der Maßnahmen zur Bekämpfung Pandemie praktisch stillstand. Der Verband rechnet dank der Unterstützungsmaßnahmen der Regierung und des gestiegenen Verbrauchervertrauens inzwischen bei den Verkäufen nur noch mit einem Rückgang um 15% statt wie ursprünglich von bis zu 25%.
Die VR China übernahm nach der Finanzkrise 2008 nicht nur die Stimulierung der nationalen Wirtschaft, sondern die Impulse zogen auch den Rest der Welt aus der wirtschaftlichen Schieflage. Nationale Kredite von mehr als 500 Mrd. US-Dollar – 13% der damaligen Wirtschaftsleistung – brachten die heimische Wirtschaft damals auf Trab. Das war genug, um die Nachfrage in China so stark anzukurbeln, dass auch andere Länder davon profitierten.
In der Finanzkrise hat also China maßgeblich zur Stabilisierung der Weltwirtschaft beigetragen. In der Coronakrise wird es eine entsprechende Lokomotiv-Funktion nicht geben. Zwar macht Peking wieder milliardenschwere Hilfen locker, um die angeschlagene Konjunktur auf die Beine zu bringen.
Das Gesamtpaket ist nach Analystenschätzungen sogar etwas größer als damals. Doch Chinas Wirtschaftsleistung hat sich seit der Finanzkrise fast verdreifacht. Demnach müsste ein äquivalentes Hilfspaket rund 1,5 Bio. US-Dollar schwer sein. Die Corona-Hilfen bleiben also hinter denen in der letzten Krise deutlich zurück. Der Grund: Ein geschätzter Schuldenstand von mehr als 300% des BIP und die massiven Handels- und Wirtschaftskonflikte legen eine Konzentration auf die Binnenwirtschaft nahe.
Der Corona-bedingte Einbruch im ersten Quartal 2020 belief sich auf knapp 13% zum letzten Quartal 2019. Ministerpräsident Li Keqiang machte beim jährlichen Volkskongress Ende Mai keinen Hehl daraus, wie ernst die Lage ist. »Chinas Entwicklung sieht sich mit unvorhersagbaren Umständen konfrontiert«, sagte er. Binnennachfrage, Investitionen und Exporte seien rückläufig. Außerdem habe der Druck auf den Arbeitsmarkt zugenommen, ebenso wie die Finanzrisiken. Die chinesische Zentralbank steht bereit, der geschwächten Wirtschaft deshalb noch stärker unter die Arme greifen. »Die Auswirkungen der Pandemie auf Wirtschaft und Gesellschaft sind größer als erwartet«, stellte Pan Gongsheng, einer der Vizegouverneure der Notenbank fest. »Also müssen wir die geldpolitische Unterstützung hochfahren, um Unternehmen zu halten und sowohl den Arbeitsmarkt als auch das Wirtschaftswachstum zu stabilisieren.«
Im Schlepptau der Maßnahmen für die neue Infrastruktur zieht die industrielle Produktion insgesamt an, die nach der Covid-19-Krise einen V-förmigen Verlauf aufweist. Auf den schlagartigen Einbruch erfolgt die zügige Erholung. Mit den Maßnahmen schielt Peking auch auf den Arbeitsmarkt. Laut offiziellen Zahlen ist die Arbeitslosenquote in den Städten im Mai gegenüber dem Vorjahr leicht um 0,1 Punkte auf 5,9% gesunken. Allerdings erfasst diese Statistik die Millionen Wanderarbeiter*innen nicht, die rund ein Drittel der städtischen Beschäftigten stellen, und die von der Krise heftig getroffen worden sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass zwar Viele eine neue Stelle in der Nähe ihres Heimatortes gefunden haben. Allerdings verdienen sie dort rund 20% weniger als bei ihren bisherigen Anstellungen in den Städten, was sich wiederum negativ auf den Konsum auswirkt. Die Infrastrukturprojekte werden deshalb auch forciert, um die Lage der Wanderarbeiter*innen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
Um zügig aus der Krise zu kommen, braucht die Weltwirtschaft die Volksrepublik als globale Zugmaschine. Aber die chinesische Wirtschaft hat ihre Schwachstellen und Tücken. Peking hat mehr mit sich selbst zu tun, als damals nach der Finanzkrise. Die Frage ist also, wie nachhaltig die Erholung, die derzeit zu sehen ist, sein wird. Momentan zieht die Konjunktur wieder an. Aber nur, weil Lager wieder aufgefüllt und Rückstaus abgearbeitet werden. Die langfristigen Auswirkungen der Corona-Vollbremsung aber, auch auf den chinesischen Arbeitsmarkt, sind noch gar nicht zu überblicken.
Nach Schätzungen von China-Expert*innen könnten 60 bis 100 Mio. Chines*innen in der Virus-Krise ihre Jobs verloren haben. Das entspräche einer Arbeitslosenquote von über 20%. Die offiziellen Statistiken sehen etwas anders aus, aber hier werden Wanderarbeiter*innen, Menschen ohne Ansprüche auf Unterstützung, nicht mitgezählt. China fehlen Erfahrungen mit einer Rezession. In den Boom-Jahren wurde der Aufbau von sozialen Sicherungssystemen vernachlässigt. Und eine erneute Ausbreitung einer Infektionswelle ist immer noch nicht ausgeschlossen. Die VR China und die kapitalistischen Hauptländer stehen weiterhin vor immensen Herausforderungen.