23. November 2023 Bernhard Sander: Die Wahlergebnisse in den Niederlanden
Wilders extreme Rechte triumphiert
Nach 25 Jahren hat der rechtsradikale Geert Wilders mit seinen Anti-Islam-, Anti-Brüssel- und Anti-Klima-Attacken die Ernte eingefahren. Die niederländischen Wähler*innen haben eine Schockwelle ausgelöst.
Wilders »Partei für die Freiheit« (Partij voor de Vrijheid, PVV) ist mit 37 von 150 Sitzen (nahezu 24% der abgegebenen Stimmen) Sieger der Parlamentswahl in den Niederlanden. Die Umgruppierung im bürgerlichen Lager vor der Wahl könnte es gleichwohl ermöglichen, die Rechtspopulisten von der Macht fernzuhalten.
Wilders, der seit Jahrzehnten die rassistischen und islamfeindlichen Vorurteile in der ehemaligen Kolonialmacht Niederlande aufgreift und anfacht, war bereits zu Beginn der neoliberalen Regierungen indirekt an der ersten Regierung von Marc Rutte beteiligt, bis dieser mit seiner rigorosen Politik des Sozialabbaus den Bruch auslöste.
Ruttes marktradikale Partei (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie – VVD), bisher stärkste Partei, landete auf Platz drei mit 24 Mandaten, obwohl sie unter der neuen Leitung von Dilan Yeşilgöz eine Verschärfung der Migrationspolitik und ihre Koalitionsbereitschaft mit der PVV angekündigt hatte. Sie hatte selbst den Streit um die Methoden und Grenzen der Einwanderungspolitik entfacht, nachdem sie in der Vierer-Koalition in der Frage der Umsteuerung in der Landwirtschaft gegenüber der christdemokratischen CDA (5 Sitze, 3,3%) nicht vorankam.
Die Christdemokraten hatten bei der Provinzialwahl Anfang des Jahres drastische Verluste eingefahren, weil sich die ländlichen Teile der Niederlande von der Randstad, also den urbanen Ballungszentren und den dortigen Regierungsbehörden, abgehängt fühlten. Als Nutznießer wurde die Protestbewegung der Bürger und Bauern (BBB) in allen elf Landesparlamenten stärkste Kraft. Es ging im Bruch des letzten Kabinett Rutte darum, wie viele Landwirte wegen der zu hohen Nitratbelastung, die seit Jahren den EU-Normen übersteigt und nun zu kontinuierlichen empfindlichen Strafzahlungen der Zentralregierung geführt hätten, zur Aufgabe veranlasst werden sollen, wie hoch die Entschädigungen ausfallen und wie stark die Provinzregierungen in diese Zahlungen einbezogen werden sollten.
Die BBB konnte ihren Erfolg bei der Wahl zum Nationalparlament nicht wiederholen und enttäuschte mit 7 Sitzen und 4,7%. Aber die Wählerschaft ging aus diesem Durchlauferhitzer nicht zur CDA zurück, sondern zur PVV, die ihre Parlamentssitze verdoppeln konnte. Die Gründe sind darin zu suchen, dass die BBB-Vorsitzende es am Willen zur Macht fehlen ließ, und erklärt hatte, nicht Regierungschefin werden zu wollen. Zudem war ihre Partei zu sehr eine Bewegung geblieben, die nur auf ein Thema setzte und vor allem bei dem zum dominanten Thema aufgeputschten Thema Migration keine neuen radikalen Ideen präsentieren konnte. Allerdings wäre von der BBB auch kein Widerstand zu erwarten, wenn sie an einer potenziellen rechtspopulistischen und national-sozialen Koalition beteiligt wäre, die das Ausländerrecht verschärfen würde.
Letztlich ist es Wilders am besten gelungen, die tiefe Verunsicherung aufzugreifen, die sich u.a. aus der ökologischen Transformation, den pandemie-bedingten Einschränkungen im urbanen Lebensstil und den finanziellen Erschütterungen der Kleinsparer*innen in der Euro-Krise erklärt. Eine erschöpfte Bevölkerung sehnt sich danach, dass alles so schön bleiben möge, wie es vorgeblich mal war.
»Die Wahlen haben nicht zuletzt den Mythos der Niederlande als Land der Chancengleichheit aufgeblasen in die Luft gesprengt und ein Gefühl der Verzweiflung am unteren Ende der sozialen und pädagogischen Skala aufgedeckt. Aus irgendeinem Grund verbanden sich diese Wähler stärker mit Wilders’ Rhetorik, die Migranten für ihre Schwierigkeiten verantwortlich machte, als mit den konkreten Plänen anderer Parteien, Mindestlöhne anzuheben und die Steuerbelastung zu verringern«, kommentiert die Presse.
Wilders Wahlkampfauftritte wurden zudem als eine mildere, verantwortungsvollere Version seiner selbst beschrieben. Er bekundete die Bereitschaft, die Politik, die seine Partei seit 25 Jahren definiert, in ein Kühlhaus zu bringen, wie beispielsweise ein Verbot des Korans, ein Referendum über den Nexit und die Schließung islamischer Schulen.
Erst in der letzten Woche vor der Wahl, nachdem die Umfragen im gesamten Wahlkampf ein Kopf-an-Kopf-Rennen signalisierten und in der Endphase die Vereinte Linke von Arbeiterpartei und Grün-Links mit dem Spitzenkandidaten und ehemaligen Vizepräsidenten der EU-Kommission Frans Timmermans zu den Liberalen von VVD aufgeschlossen hatte, drehte Wilders in den Fernsehdebatten wieder voll auf, obwohl Migration nur das viertwichtigste Thema für die Wählerschaft war.
Die Wohnungsfrage, die Krise des Gesundheitswesens, die (Alters-)Armut und die ökologische Transformation waren die wichtigeren Themen. Hier hatte sich die PVV wieder mit einem klaren Sozialprogramm (Mindestlohn) als »normale Partei« profilieren können, die sich aber in langen Jahren als Opposition »gegen die da oben« Glaubwürdigkeit erarbeitet hat. Damit konnte die PVV Stimmen auch von anderen neu-rechten Parteien (Forum für Demokratie, Ja21) auf sich ziehen.
Die Hauptpunkte aus dem Wahl-Manifest der PVV sind
- Ende der Diskriminierung der niederländischen Ureinwohner;
- keine Flüchtlinge mehr, Begrenzung der Anzahl ausländischer Studenten und Arbeiter;
- Bürokratieabbau zur Förderung des Wohnungsangebots, Mietkürzungen und Erhöhung des Wohngeldes;
- Beendigung der Stickstoffbeschränkungen für den Neubau von Wohnungen;
- Erhöhung des Mindestlohns (aber nicht angegeben, wie viel);
- Verbot von Moscheen, islamischen Schulen und dem Koran;
- keine doppelte Staatsangehörigkeit;
- 0% Mehrwertsteuer auf Lebensmittel;
- Reduktion des staatlichen Rentenalters wieder auf 65 Jahre;
- 14-Jährige, die wegen Gewalt- und Sexualverbrechen verdächtigt werden, sollten als Erwachsene behandelt werden;
- kein eigenes Risikoelement in der Krankenversicherung;
- keine Zucker- und Fleischsteuer oder Steuer auf das Fliegen. Energiesteuern zu senken;
- Kohle- und Gaskraftwerke bleiben erhalten, mehr Atomkraft;
- finanzielle Hilfe für arme ältere Menschen mit kranken Haustieren;
- Bürgermeister*innen sollen durch Abstimmung gewählt werden, das Oberhaus des Parlaments wird verschrottet;
- Beendigung des Hasses der Linken »auf Helden aus der Geschichte«, die Entschuldigungen für Sklaverei, Stopp für Kunst- und Kultursubventionen;
- mehr Straßenbau, das maximale Tempolimit erhöht sich auf 140 km / h;
- kein Geld mehr für Entwicklungshilfe;
- Nexit-Referendum.
Die vorgebliche Mäßigung Wilders beruht auf der realistischen Einschätzung, dass mit ziemlicher Sicherheit seine Pläne zur Bekämpfung von Moscheen und Koran-Schulen aufgegeben werden müssen, weil hier die Gerichte mitzureden haben. Anders sieht es beim »Racial Profiling« aus. Wilders hatte in der Kommunalwahl-Nacht 2014 seine begeisterten Anhänger gefragt: »Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?« und hat sich mit den nicht enden wollenden Antwortrufen »Weniger! Weniger!« ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.
Würde Wilders Regierungschef, werde die PVV dafür sorgen, dass die Niederlande aus der EU austreten, den Gulden als Währung wieder herstellen und keine Waffen mehr in die Ukraine liefern. Wilders wird auch versuchen, die Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels zu blockieren, die er als Geldverschwendung verspottet hat.
Mit den beiden neu-rechten Parteien und der BBB könnte Wilders die Grundlage für ein neues Kabinett schaffen, dafür sind 48 Mandate erforderlich. Auch die Bürgerlichen, auf die ein Minderheitskabinett Wilders angewiesen wäre, legen sich in die Kurve: Bereits in den letzten Tagen vor der Wahl sagte die VVD-Vorsitzende Yeşilgöz, Wilders sei nicht der »vereinigende« Führer, den die Niederlande brauchten, schloss aber eine Regierungsbeteiligung nicht aus. Ihre Priorität sei es, »den Menschen zuzuhören«, während der Ex-CDA-ler Pieter Omtzigt (der »Heilige Pieter«) darauf bestand, dass das Land »regiert werden muss«, obwohl er vor der Wahl kategorisch eine gemeinsame Regierung mit PVV ausgeschlossen hatte.
Omtzigt hatte unter größter Medienaufmerksamkeit seine Partei »Nieuw Sociaal Contract« (NSC) aus der Taufe gehoben, die aus dem Stand mit 20 Sitzen viertstärkste Fraktion wird. Seine Mischung aus Sozialprogramm (Schwerpunkt auf unbefristeten Arbeitsverträgen, nicht auf freiberuflichen und flexiblen Arbeitsplätzen, erhebliche Reduzierung der 30%-Obergrenze für den Anteil internationaler Arbeitnehmer*innen, Überarbeitung der Mindestlohnregeln, Reform des Steuersystems zur Steigerung der niedrigen und mittleren Einkommen), strikter Migrationsbegrenzung, aber widersprüchlicher ökologischer Forderungen (Bau von zwei AKW, Auslaufen der Mega-Viehfarmen) und Reform institutionalisierter Klassenkompromisse konnte immerhin 12,8% der Wählerschaft überzeugen.
Die politische Linke hatte mit der Einleitung einer Fusion von sozialdemokratischer PvdA und Grün-Links ein neues Kapitel aufgeschlagen, das von der Wählerschaft mit 15,5% der Stimmen und 25 Sitzen honoriert wurde (das sind acht mehr als die beiden Ausgangs-Formationen im letzten Parlament hatten). Aber die Herzen der kleinen Leute erreichte die neue Partei nur bedingt: Rund 62% der Wähler*innen mit Universitätsabschluss unterstützten PvdA-GL, während 24% für die PVV stimmten. Fast die Hälfte der Wähler*innen mit mittlerem Bildungsstand (47%) unterstützte die PVV, während 27% für PvdA-GL stimmten. In den Schichten mit den niedrigsten Qualifikationen verstreuten sich die Stimmen mehr. Die PVV erhielt mit 29% über dem Durchschnitt und mit 11% für die vereinigte Linke unter dem Durchschnitt.
Die Sozialistische Partei wurde mit fünf Mandaten (und 3,1%) nahezu halbiert. Die Hauptpunkte aus ihrem Wahlprogramm zogen nicht: ein nationaler Gesundheitsfonds, der Kürzungen im Gesundheitswesen beendet; vorübergehende Einstellung der Arbeitsmigration, Einführung von Arbeitserlaubnissen; Einrichtung eines neuen Ministeriums zur Bewältigung der Wohn- und Lebensbedingungen; Mietkürzungen, um Wohnraum erschwinglicher zu machen; Einkommenssteigerungen, damit die Aufstockung für Wohnen, Kinderbetreuung und Gesundheit auslaufen kann; Abschaffung von prekären Arbeitsverhältnissen; höhere Studentenstipendien; Überprüfung der Bedingungen für die europäische Zusammenarbeit.
In den größten Städten der Niederlande fielen die Erfolge von Wilders bescheidener aus: Der rechtsextreme PVV wurde knapp zur größten Partei in Rotterdam und Den Haag, aber die Allianz GroenLinks/PvdA war bei weitem die größte in Amsterdam und Utrecht, und haben Wilders Gruppierung in Eindhoven, Leeuwarden und Groningen knapp geschlagen. Denk, das den größten Teil seiner Unterstützung unter ethnischen Minderheiten sammelt, war die vierte Partei in Den Haag und Rotterdam und hat gerade die Top 5 in Amsterdam erreicht. In Amstelveen, einer typischen Randstad, in der Wilders frühe Erfolge verzeichnete, verlor der VVD die Unterstützung, hielt sich aber an der Spitze fest.
Wenn die Gespräche auf der rechten Seite zu keiner Einigung führen, hätte eine Mitte-Koalition, angeführt von Timmermans mit VVD, NSC und liberalen D66 ausreichend Mandate, um eine Regierung zu bilden, unter der Annahme, dass Yeşilgöz und Omtzigt bereit sind, PvdA und GroenLinks erhebliche Zugeständnisse zu machen. Für Timmermans würde das eine Gratwanderung bedeuten: ein linkes Bündnis aufrechterhalten und zugleich ein Kabinett bilden, das auch eher rechte Kräfte einbindet.
In diesem Sinne liegt die wahre Macht bei der Gestaltung der nächsten Regierung nicht bei den beiden größten Parteien, sondern bei den Mitte-Rechts-Fraktionen von VVD, NSC und BBB.