30. Dezember 2019 Rebecca Long-Bailey: Eine ehrliche Debatte darüber, warum wir verloren haben
»Wir müssen das Vertrauen zurückgewinnen«
Im Jahr 1979, dem Jahr, in dem ich geboren wurde, löste Margaret Thatchers Wahlsieg den Angriff auf die Organisationen und Communities der Arbeiterklasse unseres Landes aus. Die Bande, die uns zusammenhielten, und die Institutionen, auf die wir stolz waren, wurden zerpflückt.
In meiner Kindheit und Jugend musste ich mit ansehen, wie die Freunde meines Vaters ihren Job verloren. Sie arbeiteten bei Shell in der Raffinerie – einst ein Leuchtturm guter Löhne und sicherer Arbeitsplätze für die Industriearbeiter in unserer Gegend. Der Betrieb wurde dicht gemacht, und meine Familie war gezwungen, umzuziehen. Wir hatten zunächst Glück, aber auch in seinem neuen Betrieb setzte sich die Vernichtung von Arbeitsplätzen mit unverminderter Geschwindigkeit fort.
Bei meinen ersten Job – bei einem Pfandleiher – bekam ich mit, wie Menschen gezwungen waren, Familienerbstücke zu versetzen, um ihre Kinder ernähren zu können. Und jetzt, als Abgeordnete, habe ich die verheerenden Auswirkungen in unseren Gemeinwesen gesehen, die eine konservative Regierung nach der anderen bewirkt hat.
Die Dezemberwahl war eine historische Chance, das Blatt zu wenden. Aber im ganzen Land, auch in vielen der von der Austeritätspolitik am härtesten getroffenen Gebieten, sind wir gescheitert. Der Brexit hat das Land tief gespalten und unsere Kompromisslösung überzeugte zu wenige. Aber wir können dem Brexit nicht allein die Schuld geben. Wir müssen anerkennen, dass es nicht ausreicht, die richtigen Lösungen zu haben, wenn die Menschen nicht daran glauben, dass man sie umsetzen kann.
In den nächsten Monaten müssen wir eine ehrliche Diskussion darüber führen, warum wir verloren haben und wie wir gewinnen können. Die in »Westminster« – in der Partei- und Fraktionsführung und in der Fraktion – entworfenen, teils divergierenden Strategien haben ihren Anteil daran. Aber es trifft auch zu, dass die Unterstützung für Labour in vielen Communities schon seit einem Jahrzehnt oder auch noch länger rückläufig ist.
Wir müssen das Vertrauen wieder aufbauen, nicht nur in unsere Partei, sondern in die Überzeugung, dass Veränderung wirklich möglich ist. Das bedeutet, dass wir nicht zu der Politik der Vergangenheit zurückkehren können. Unsere transformative Agenda ist begründet und populär. Das Weichspülen unserer Programmatik würde uns nur zurückwerfen.
Es bringt uns auch nicht voran, wenn wir an unserem innerparteilichen »Dreifrontenkampf« festhalten, den Querelen zwischen den uns assoziierten Gewerkschaften, den lokalen Parteiorganisationen mit unseren Individualmitgliedern und der Parlamentsfraktion. Aus der Niederlage sind eine Vielzahl von Lehren zu ziehen. Doch es ist offensichtlich, dass wir nicht deswegen verloren haben, weil wir das jetzige System der Sozialhilfe grundlegend ändern, die Investitionen in öffentliche Dienstleistungen stärken oder Studiengebühren abschaffen wollen.
Das politische System, das unser Gemeinwesen in all seinen Verzweigungen über Jahrzehnte hinweg zurückgeworfen hat, ist nicht mehr in der Lage, einen Ausweg zu finden. Es ist an uns, diese Wende herbeizuführen. In der Tat müssen Reichtum und Macht zu den Menschen zurückkehren, und ihr Wunsch nach Kontrolle über ihr eigenes Leben und über die Zukunft ihrer Communities muss im Mittelpunkt unserer Agenda stehen. Genauso brauchen wir mutige, transformative Lösungen sowohl zur Umkehr des sinkenden Lebensstandards als auch zur Bekämpfung der Klimakrise.
Zusammen mit Aktivist*innen, Gewerkschaften und Expert*innen habe ich mich für die Pläne unserer Partei für eine grüne industrielle Revolution eingesetzt, um die Klimakrise durch Investitionen in gute, gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze und mit der Reindustrialisierung unserer Regionen in allen Landesteilen zu bekämpfen. Das wird das Wachstum neuer Branchen ankurbeln und garantieren, dass die auf erneuerbarer Energie basierenden Zukunftstechnologien, von Elektrofahrzeugen bis hin zur Solarenergie, für jeden Haushalt in Großbritannien verfügbar sind. Diese radikalen Veränderungen kann nur die Labour-Bewegung bewirken.
In den nächsten Jahren ist es unsere Aufgabe, eine breite Basis der Unterstützung zu erneuern, die uns wieder auf einen Regierungskurs bringt. Diese Arbeit muss sofort beginnen. Von ehemaligen Bergarbeitern in Blyth Valley bis hin zu Migrant*innen in Brixton, von kleinen Unternehmen in Stoke-on-Trent bis hin zu Selbständigen in Salford müssen wir unsere Communities in ihrer ganzen Vielfalt wieder vereinen. Britannien blickt auf eine lange Geschichte von Patriotismus zurück, der im Arbeitsleben verwurzelt ist und der auf Einheit und auf Stolz auf die gemeinsamen Interessen und das gemeinsame Leben aller beruht.
Diese Geschichte ist internationalistisch: wie 1862, als die Fabrikarbeiter in Lancashire Abraham Lincolns Politik zur Abschaffung der Sklaverei und die deswegen verhängte Blockade gegen den Baumwollexport aus den amerikanischen Südstaaten unterstützten. Um erfolgreich zu sein, müssen wir diesen fortschrittlichen Patriotismus und diese Solidarität in einer Form wiederbeleben, die dem modernen Britannien gerecht wird.
Während Boris Johnson alleinerziehende Mütter diskreditiert und muslimische Frauen mit Bankräubern vergleicht, müssen wir für den Stolz auf unsere Communities, für die Würde der Arbeit und für ein gemeinsames Ziel, das die Zivilgesellschaft im ganzen Land vereint, eintreten.
Sowohl auf die Gewerkschaften als kollektive Mitglieder der Labour Party als auch auf jedes einzelne Mitglied in den Parteiorganisationen vor Ort kommt es bei der Entscheidung über unseren weiteren Weg an. Sie sind es, die in den Betrieben und in der Zivilgesellschaft verwurzelt sind. Sie bringen ihren Reichtum an Wissen und ihre Erfahrung bei uns ein. Diese Verbindung können wir nicht mehr als eine garantierte Selbstverständlichkeit betrachten.
Unser Versprechen, die Gesellschaft zu demokratisieren, wird hohl klingen, wenn wir nicht einmal unsere eigene Partei demokratisieren können. Wir dürfen die Debatten nicht länger bevorzugt auf der parlamentarischen Ebene führen, abgeschottet von der Arbeitswelt und dem gesellschaftlichen Leben in den Nachbarschaften und Gemeinwesen. Die Partei als Organisation muss Mitglieder und Gewerkschaften unterstützen, die sich gegen die Anschläge der Tories wehren – auf Migrant*innen, auf die Schwachen in unserer Gesellschaft und auf unsere öffentlichen Dienste.
Um das Vertrauen zurückzugewinnen, müssen wir vor Ort stärker präsent sein; die Labour-Bewegung muss nicht nur im Zentrum, sondern im Herzen der Communities ihren Platz finden, um echte, konkrete Veränderungen herbeizuführen, und zwar lange vor der nächsten Parlamentswahl.
So können wir die Voraussetzungen schaffen, die Mehrheit für uns zu gewinnen. Aber zuerst muss unsere Partei ihre internen Probleme überwinden. Wir sind am stärksten, wenn wir als eine pluralistische Labour-Bewegung zusammenstehen. Mit diesem Ziel beabsichtigte ich, als Vorsitzende zu kandidieren und bei der Wahl der Parteispitze Angela Rayner als stellvertretende Vorsitzende zu unterstützen.
Parteiführung heißt kollektive Verantwortung bei der Organisation der Kooperation aller Teile unserer Labour-Bewegung. So können wir die Gesamtheit der Fähigkeiten unserer Partei ausschöpfen, um die Konservativen auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und den Weg der Labour Party zurück an die Macht zu ebnen. Millionen, die am Morgen nach der Wahl vom 12. Dezember erwachten, wähnten sich in einem Albtraum. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich das nicht wiederholt.
Rebecca Long-Bailey ist Labour-Abgeordnete für den Wahlkreis Salford und Eccles (Greater Manchester) und seit Februar 2017 wirtschaftspolitische Sprecherin (»Schatten-Ministerin für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie«) der Labour-Fraktion. Der hier dokumentierte Beitrag erschien unter dem Titel »We can take the Labour Party back into power« zuerst im Guardian vom 30.12.2019. Übertragung aus dem Englischen: Hinrich Kuhls.