31. Oktober 2025 Bernhard Sander: Die Parlamentswahlen in den Niederlanden
Wo bleibt der Aufbruch?
Trotz der großen Dimensionen der Umgruppierungen bei der Wahl in den Niederlanden bleibt ein rechter Block von mehr als einem Viertel der Stimmen, der den inneren Bruch mit dem System vollzogen hat, in die politische Elite kein Vertrauen mehr setzt und militant islamfeindlich ist.
Ein gutes Abschneiden von Geert Wilders »Partei für die Freiheit« (PVV) war absehbar. Er beschrieb sich (als einzigem Parteimitglied) im Wahlkampf als die Partei, die die Gefühle der Niederländer*innen wirklich kenne. Seine jahrzehntelang vorgetragene Kritik an der Migration, vor allem aber am Islam und seinen praktizierten Formen (Koranschulen, Kopftuch usw.) als dem Inbegriff des Fremden und Ursprung alles Bedrohlichen, wurde von fast der Hälfte der Wahlberechtigten in Vorwahlumfragen als eins der beiden entscheidenden Themen neben der Wohnungsfrage angesehen.[1]
In einem dreiminütigen Video auf der Website der PVV schwor Wilders, seine Partei werde »niemanden mehr in die Niederlande lassen, um Asyl zu beantragen«, und bezeichnete die Flüchtlinge als »Glücksjäger, die vor allem wegen unserer Häuser, unserer Sozialleistungen und unserer Frauen kommen«.[2]
Wilders profitierte letztlich davon, dass er die Mitte-Rechts-Koalition in den Fragen Migration, Verteilung der Asyllager im Landesgebiet und Militäreinsatz gegen illegale Grenzübertritte platzen ließ. Der Schwenk der rechtsliberalen VVD schon bei der letzten Wahl zu einer restriktiven Linie in diesen Themen öffnete Wilders die Tür ins Kabinett. Allerdings erfuhr er bei dieser Wahl deutliche Verluste, da er seine Anhängerschaft enttäuschte und materiell nichts erreichte; PVV verlor 6,8% der Stimmen und ist nicht mehr stärkste Partei (20 Sitze, -6).
Die Verluste der marktradikalen VVD hielten sich entgegen der Umfragen und Meinungsmachenden in engen Grenzen. Das Chaos in der Regierung wurde nicht dieser Partei angelastet, die mit Mark Rutte in den letzten zwölf Jahren die dominierende Kraft in vier Kabinetten war. VVD hatte seit dem Abgang ihres Ministerpräsidenten Rutte auf die internationale Ebene versucht, das Thema Migrationssteuerung, Asyl zu besetzen und so Wilders das Wasser abzugraben. Der Versuch, auf die sich ausbreitende Rechts-Stimmung einzugehen, ist gescheitert und hat nur zu einer Normalisierung des ausländerfeindlichen Diskurses beigetragen.
Die von der Erfolglosigkeit der Rechts-Regierung Frustrierten wandten sich der rechtskonservativen Ja 21 zu, die mit 9 Sitzen (+8) sensationell performte und dem rechtsextremen Forum für Demokratie, das seine Sitze auf 7 mehr als verdoppeln konnte. Die rechtspopulistische Bauern- und Bürgerbewegung, Parlaments- und Kabinetts-Neuling, halbierte sich umgekehrt. Die Wählerschaft des NSC (Neuer Gesellschaftsvertrag) zerstreute sich so schnell wie sie vor zwei Jahren gesammelt und 20 Sitze errungen hatte, wandte sich größtenteils wieder dahin zurück, woher sie gekommen war, nämlich zum Christdemokratischen Appell (CDA), der »urbane« Themen (Klima, Wohnen, Offenheit in Zuwanderungsfragen) aufgegriffen hatte und mit 18 Sitzen (+13) seine Wiederauferstehung feiern kann.
Die Abbildung[3] zeigt die Entwicklung der Wahlabsichten von 50 bis 65-jährigen
Wilders hat es doch schon immer gesagt, dachten sich offenbar vor allem diejenigen mit dem geringsten Bildungskapital, von denen in der Amtszeit des Mitte-Rechts-Kabinetts durchweg über 20% eine Tendenz zur PVV, aber immer nur ca. 10% eine sozialdemokratisch-grünlinks Tendenz zeigten. Bei Erwerbstätigen zwischen 50 und 65 Jahren hat Wilders seine größten Anteile. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Leistung im Erwerbsleben nicht so auszahlt wie versprochen. Statt hier ein Programm materieller Reformen anzubieten, ruft Wilders zum nationalen Zusammenhalt auf. Vor allem bleibt er in der zentralen Frage des Mangels an bezahlbarem Wohnraum nebulös.
Der Traum vom eigenen Heim, mit dem man die schwachen Altersrenten abzufedern versucht, bleibt für immer mehr niederländische Haushalte ein Trugbild.[4] Der Staat setzt hier mit Steuerbefreiung für Hypothekenzinsen, Infrastruktur- und Bauförderungs-Programmen, neuen Baugenehmigungen usw. Rahmenbedingungen für Investoren und kleine »Bauherren«, auf die vor allem letztere geringen bis gar keinen Einfluss haben. Wenn aber »die Politiker« und »der Staat« versagen und »die Fremden« bevorzugen, bietet Wilders die Nation als neues Fundament an.
Die Immobilienpreise erreichten im Juni 2013 einen Tiefststand; sie folgten bis August 2022 einem Aufwärtstrend. Dieser Trend kehrte sich um und die Preise fielen bis Juni 2023, aber seitdem sind die Hauspreise wieder gestiegen. Im September 2025 lagen sie im Schnitt um 14,0 Prozentpunkte höher als bei ihrem bisherigen Höchststand im Juli 2022, meldete das staatliche Statistikbüro CBS. Im September lag der durchschnittliche Transaktionspreis für Eigenheime bei 489.072 Euro.
Staatliche Bauaktivität und Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt wird unter dem Diktat der Haushaltsdisziplin vor allem durch die Migration beeinflusst, den Rest überließ man dem Markt. In den letzten zehn Jahren sollen rund eine Million Menschen in die Niederlande gekommen sein. Das sind sogenannte Ex-Pats (ausländische Fachkräfte internationaler Unternehmen), Asylsuchende und Arbeitsmigranten. Wilders macht da – im Gegensatz zum D66-Vorsitzenden Rob Jetten – keine Unterschiede. Er schlug im Wahlkampf vor, zuerst einmal die 70.000 Syrer*innen aus dem Land zu werfen, die Marokkaner *innen (2,4% der Bevölkerung) waren schon bisher sein bevorzugtes Hassobjekt, der Bau von Asylzentren überall im Land müsse gestoppt werden.
Die Nation, deren Reinheit und Einheit PVV nach der Säuberung vom »faschistischen Islam« als Allheilmittel anbietet, ist jedoch nur eine Chimäre in der postkolonialen wertepluralen, sozial gespaltenen niederländischen Gesellschaft, die ihren Reichtum im goldenen 17. Jahrhundert auf den aufblühenden Handelskapitalismus gründete. Schon damals aber war, wie das Schicksal Baruch de Spinozas und der Amsterdamer Juden zeigt, von Weltoffenheit keine Rede. Der calvinistische Tugendterror setzt sich bis heute in der SGP fort, die ihre üblichen drei Sitze besetzte.
Eine politische Wende nach Links schien lange Zeit möglich, nachdem die sozialdemokratische PvdA (Partei der Arbeit) und die ehemals kommunistische GrünLinks sich zu einem Fusionsprojekt zusammengeschlossen hatten. Ihr Ergebnis (-3% und nur noch 20 Sitze) enttäuschte. Ein vernünftiges Bauprogramm allein macht noch keine attraktive Erzählung; die rassistischen Ressentiments sind offenbar schon zu weit verbreitet. Der amtierende Vorsitzende Frans Timmermanns aus der alten Generation der Verwaltung einer leidlich stabilen Welt trat zurück. Das wird vermutlich der Beginn einer umfassenden personellen Erneuerung und vielleicht einer Beschleunigung der inhaltlichen Annäherung der beiden Parteitraditionen sein, die bei internen Mitgliederbefragungen kaum auf nennenswerten Widerstand stieß. Offen bleibt die Frage, ob es dem Projekt dann auch gelingt, Absplitterungen aus der Sozialdemokratie wie die Rentnerpartei 50PLUS (zwei Sitze) und die migrantisch geprägte DENK (drei Sitze) wieder heranzuholen.
D66, eine linksliberale Partei, ist der strahlende Sieger dieser Wahl: Sie gewann mehr als 10% der Stimmen hinzu und ist mit 26 Sitzen jetzt genauso stark wie die PVV. Der junge Parteivorsitzende Rob Jetten verkörpert einen Neuanfang, versucht nicht mit Problemen, sondern mit Lösungen zu argumentieren, die moralische Grundsätze festhalten (Asylrecht, Öffnung der Bildungsinstitutionen für ausländische Studierende, Sprachförderung, Wohnungsprogramme für gut verdienende Ex-Pats) aber ungeregelte Lebensbereiche (Wohnungsnot, Abschiebung illegaler Migranten) benennen. Das Programm richtet sich an die gut verdienenden Beschäftigten und hofft auf einen sozialen Trickle-down-Effekt.
Das Parlament ist zersplittert wie seit Beginn des Jahrhunderts, trotz gewisser Konzentrationstendenzen (insbesondere das Ende des NSC zugunsten der Christdemokraten, Zuwächse der linksliberalen D66, die Zahl der »Sonstigen« sank um 13%). Doch die inkonsistenten Catch-All-Wahlprogramme bieten keinen Halt in den bewegten Zeiten, in denen eine neue und bedrohliche Welt(un)ordnung heraufdämmert. Niemand sagt bisher voraus, wie sich die Mentalitäten radikalisieren, wenn auch der Zauber der Nation schwindet und die Lebenslage bedrückt bleibt.
Für die Ausübung der Herrschaft müssen sich nach dieser Wahl vier sehr heterogene Parteien zusammenraufen, um auf eine Haushaltsmehrheit von 75 Sitzen plus X zu kommen: D66, VVD, CDA und GrünLinks-PvdA haben zusammen solide 86 Sitze. Diese Konstruktion scheint nicht eben belastbar (z.B. in der Wiedereinführung der Wehrpflicht, Migrationsthemen), sie hat keine dominierende Kraft gegen die zentrifugalen Kräfte, die in den ehemals großen Parteien der linken und rechten Mitte wirken. Sie stehen einem rechten Lager gegenüber, das, wie der Blick auf Deutschland nach dem Krieg zeigt, zwar immer wieder bedrohlich auftaucht (Reichspartei, NPD, Republikaner, AfD), aber über lange Phasen durch die etablierten Parteien integrierbar war. Davon hat sich die Rechte mit der PVV als Flaggschiff freigemacht.
Das niederländische System der mühsamen Verhandlungen, das »Poldermodell«, ist ins Stocken geraten, was zu einem dysfunktionalen Asylsystem, einem Mangel an rund 400.000 Wohnungen und einem Versagen bei der Bekämpfung der übermäßigen Stickstoffverschmutzung durch Gülle geführt hat. »Die niederländische Regierung hat in den letzten 10 bis 15 Jahren nicht wirklich große beeindruckende Dinge getan«, sagt D66-Vorsitzender Jetten. »Solange die Menschen das Gefühl haben, dass ihr Leben stillsteht, weil sie keine Fortschritte machen, wird dies zwangsläufig diese Gefühle der Angst und Unzufriedenheit in der Gesellschaft nähren, und in diesem Klima ist es immer einfach, diese Angst auszunutzen.«
Anmerkungen
[1] Zu den gesellschaftlichen Problemen der Niederlande siehe auch meinen »Vorbericht«.
[2] PVV fordert Asylstopp, Mietkürzungen und Bohrungen in der Nordsee - DutchNews.nl Hier findet sich eine Zusammenfassung des Wahlprogramms.
[3] Politieke voorkeur – Ipsos I&O Publiek.
[4] de.tradingeconomics.com/netherlands/home-ownership-rate.













