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29. April 2020 Tim Solcher: Machtkampf in Libyen

»Zurück ins Glied!«

Pro-Hafta-Demonstration. Foto: Wikimedia Commons/Magharebia (CC BY 2.0)

Die EU-Mission »IRINI« zur Überwachung des Waffenembargos in Libyen ist ein verzweifelter Versuch, wieder die Kontrolle über einen eskalierenden Krieg zu erlangen. Und ein Lehrstück über die Funktion, die den lokalen »Verbündeten« dabei zukommen soll.

Seine Freunde kann man sich nicht aussuchen – diese Erkenntnis dürfte dem Präsidenten der von der UNO eingesetzten »Nationalen Konsensregierung« Libyens (GNA), Fajes Al-Sarradsch, seit Tagen im Kopf herumspuken. Schließlich kommen die neuen Initiativen der EU, Einfluss auf den seit Jahren tobenden Krieg in Libyen zu nehmen, für Al-Sarradsch zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Als erstmals seit vor über einem Jahr die Offensive des abtrünnigen Generals Khalifa Haftar und seiner selbsternannten »Libyschen Nationalarmee« (LNA) auf Libyens Hauptstadt Tripolis begann, konnten GNA-treue Truppen zum militärischen Gegenschlag ausholen und am 13. April die Einnahme mehrerer Ortschaften an der Mittelmeerküste zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze verkünden. Das eroberte Gebiet umfasst die rund 70 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegenden Städte Sabrata und Sorman und ermöglicht seitdem den Vormarsch auf Haftars verbliebene Hochburgen im Westen des Landes, die Stadt Tarhuna und den Luftwaffenstützpunkt Watiya, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Kämpfern der GNA umstellt waren. Von der Weltöffentlichkeit infolge der Corona-Krise weitgehend unbemerkt, scheint sich damit in Libyen eine Umkehrung des militärischen Kräfteverhältnisses zu manifestieren.

EU-Vorstoß »IRINI«

In eben jene Entwicklung fällt nun aber die EU-Operation »IRINI« zur Überwachung des 2016 in der UN-Resolution 2292 beschlossenen,[1] de facto aber längst gegenstandslosen UN-Waffenembargos gegen Libyen. »IRINI« soll die Vorgängermission »Sophia« ablösen. Diese lief am 31. März aus und war aufgrund ihrer nicht-intendierten Verpflichtung, zugleich Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer retten zu müssen, stetiger Streitpunkt der europäischen »Wertegemeinschaft« und entsprechend unpopulär unter den Vertragspartnern. Im Mandatsentwurf der Operation »IRINI« (griech. für »Frieden«) bewiesen die EU-Staaten Lernfähigkeiten, solche aus ihrer Sicht wohl menschenrechtlichen Kollateralschäden in Zukunft zu vermeiden: Die Überprüfung des Waffenembargos auf dem Mittelmeer zu Luft, zu Wasser und per Satellitentechnik soll nun vor allem abseits der üblichen Fluchtrouten stattfinden, um einen »pull-Effekt« auf Flüchtende zu verhindern.[2] Die Operation soll sich neben der Durchsetzung des Waffenembargos auf die Kontrolle illegaler Ölausfuhren aus Libyen, das Training der »libyschen Küstenwache« und die Vermeidung von Menschenhandel und Schmuggel konzentrieren.[3]

Rätselhaft bleibt, wie die konkrete Durchsetzung des Waffenembargos in der Praxis aussehen soll. Denn obwohl im Mandatsentwurf eindeutig die »Nationale Konsensregierung« als Kooperationspartner adressiert ist, wird die Mittelmeerroute vor allem von der Türkei genutzt, um Waffen an eben jene, offen unterstützte GNA zu schicken. Und so verwundert es nicht, dass GNA-Präsident Al-Farradsch höchst verschnupft auf den EU-Vorstoß reagierte, der ihm den jüngsten und für Beobachter*innen überraschenden militärischen Gegenschlag, die Operation »Peace Storm«, zum Strohfeuer verkommen zu lassen droht.

Die Regierung und ihr Milizenkartell

Die GNA wurde 2015 im marokkanischen Skhirat von den Vereinten Nationen als offizielle libysche Regierung eingesetzt. Ihrer Ernennung ging ein Bürgerkrieg zahlreicher lose verbundener und lokal operierender Stämme, Milizen und religiöser Fundamentalisten voraus, der seit dem gewaltsamen Sturz des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafis 2011 durch eine vor allem ostlibysche Protestbewegung, als deren Luftwaffe die NATO offen Partei ergriff, tobte. Das fragile und unter Ghaddafi teils durch Klientelpolitik, teils Unterdrückung zusammengehaltene Stammesgemisch konnte sich im post-revolutionären Land nicht auf eine stabile Zusammenarbeit einigen.

Ein Staat mit funktionierendem Sicherheits- und Justizapparat sowie dem uneingeschränktem Gewaltmonopol und der Kontrolle über das Staatsterritorium existiert im post-revolutionären Libyen bis heute nicht. Die GNA fungiert zwar als offizielle Regierung, kontrollierte aber vor ihrer derzeitigen Offensive kaum mehr als die Hauptstadt Tripolis und die unmittelbare Umgebung. Und selbst die Hoheit über dieses Territorium ist höchst fragil. In Ermangelung eines staatlichen Gewalt- und Sicherheitsapparates stützt sich die GNA auf diverse, unabhängig voneinander und mitunter in offener Rivalität zueinander operierende private Milizen. Und diese sehen im Staatsapparat eher eine privat-ökonomische Beute denn eine anzuerkennende Autorität, wie zuletzt der Milizenkrieg um Tripolis im August 2018 unter Beweis stellte.

Als mächtigste Milizen in Tripolis bildeten sich 2017/18 die Tripoli Revolutionaries Brigade, die Nawasi-Brigade, die Abu-Salim-Brigade, die salafistische Rada und die Special Deterrence Forces (SDF) heraus.[4] Die Kräfteverhältnisse anerkennend gestand Präsident Al-Sarradsch ihnen beträchtliche Autonomie und exekutive Autorität zu. Die Milizen der Hauptstadt fungieren de facto als mafiöse Gewaltunternehmer, die sich durch Menschenhandel, Entführungen, Schmuggel, illegale Devisengeschäfte auf dem Schwarzmarkt und Klientelpolitik innerhalb der Einheitsregierung finanzieren. Und sie stellen die Basis der sogenannten libyschen Küstenwache, die die europäische Flüchtlingspolitik im Mittelmeer buchstäblich exekutiert. Gleichzeitig konkurrieren sie miteinander um Einfluss auf die verschiedenen Institutionen der Einheitsregierung und die Zentralbank. Im August 2018 versuchten einige von ihnen, die dem Innenministerium unterstellt sind, Einfluss auf andere Institutionen, wie die National Oil Corporation (NOC), zu erlangen. Die in der Nachbarstadt Tarhuna ansässige 7. Brigade, vom libyschen Verteidigungsministerium 2017 ins Leben gerufen, startete daraufhin ab dem 26. August eine Großoffensive mit Raketenangriffen auf das Milizenkartell in Tripolis.

Erst nachdem die Einheitsregierung den Ausnahmezustand verhängt und den Notstand ausgerufen hatte, vermittelte die UN-Mission in Libyen (UNSMIL) einen Waffenstillstand am 3. September 2018, der allerdings erst in einem zweiten Anlauf am 26. September erfolgreich war, nachdem der Flughafen Maitiga durch Artilleriebeschuss schwere Schäden davontrug. Insgesamt starben circa 115 Personen in den Auseinandersetzungen um Einfluss und Einnahmequellen in Tripolis.[5]

Mächtige Gegenspieler

Statt die innerlibyschen Differenzen zu überwinden, hat die Einsetzung der »Konsensregierung« unter Präsident Al-Sarradsch 2015 in eine weitere Eskalationsspirale geführt, in deren Zuge aus dem Bürgerkrieg ein scheinbar nicht endender Konflikt mit internationalen Dimensionen geworden ist, angeheizt und instrumentalisiert von zahlreichen ausländischen Interventionen, und der mit dem Begriff »Stellvertreterkrieg« nur unzureichend beschrieben wird. Zwar wird die GNA seit ihrer Einsetzung von den USA und der EU unterstützt – aber nur soweit es die realpolitische Interessenlage zulässt. Denn während vor allem Italien die GNA mittels zahlreicher Abkommen und finanzieller Mittel als eigene Küstenwache im europäischen Interesse aufgebaut hat, unterstützt Frankreich unter Präsident Macron diskret, aber doch nachdrücklich den abtrünnigen General Haftar.[6] Und unter Donald Trump nehmen auch die USA eine zunehmend ambivalente Haltung zu den Konfliktparteien ein.

Khalifa Haftar, Ex-Offizier unter Muammar Al-Ghaddafi, seit 1987 im US-amerikanischen Exil und 2011 wesentlicher Teil der Revolution, hatte den neuen libyschen Machthabern immer wieder »islamistische Tendenzen« vorgeworfen. 2014 vereinigte der General unterschiedliche Milizen der Revolutionszeit und ehemalige Soldaten der libyschen Armee zur LNA und erklärte im Mai eigenmächtig den Kampf gegen» islamistische Milizen« mit der Operation »Ehre« landesweit für eröffnet. Seinen Kampf unterstützte von Anfang an das 2014 neu gewählte Repräsentantenhaus (HoR). Dieses musste 2014 von Tripolis in den Osten des Landes, nach Tobruk, flüchten, wo es noch heute seinen Sitz hat. Das HoR erkennt die von der UNO eingesetzte GNA nicht an, ernannte sich 2015 zur Gegenregierung und verlieh Khalifa Haftar den Posten des Armeechefs. Heute existieren in Libyen de facto zwei Regierungen mit je eigenen staatlichen Institutionen, Zentralbanken und einer nationalen Ölgesellschaft (NOC).[7]

Doch Haftar verfolgt eigene Interessen und politische Ambitionen und gilt nicht umsonst als der eigentliche Anführer der politisch-militärischen Koalition und »starker Mann« Libyens. Heute kontrolliert er große Teile des Ostens und Nordostens. Als sein Hauptquartier gilt die Stadt Bengasi. Vor allem aber kontrolliert er Libyens »Ölhalbmond«,[8] die Region im Golf von Sirte, die die größten Ölexportanlagen des Landes in den Städten Sidra, Ras Lanuf, Brega und Zuwetina beherbergt. Sein kontinuierlicher Aufstieg vom lokalen Warlord zum zentralen Gegenspieler der Einheitsregierung verdankt sich mehreren Faktoren. Der General schuf aus losen Milizen und Stammesgruppen eine relativ gut organisierte und hierarchisch geführte Armee, die schnell Erfolge im Kampf gegen als islamistisch denunzierte Gruppen, aber auch Bedrohungen wie dem »Islamischen Staat« (IS) in Libyen vorweisen konnte.

Der Einheitsregierung wirft er vor, mit der »Muslimbruderschaft« zu kooperieren, als deren entschlossener Gegner er sich inszeniert. Dies hat ihm mit Ägypten, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) mächtige Fürsprecher beschert, die ihn seit 2014 logistisch und finanziell unterstützen und seit 2015 auch Luftangriffe auf Gegner Haftars fliegen. Die VAE besitzen in Ostlibyen seit 2015 eine eigene Luftwaffenbasis. Darüber hinaus kämpfen nach verschiedenen Angaben Söldner aus dem Sudan und dem Tschad auf Haftars Seite. Auch Russlands Außenminister Lawrow empfing den General mehrmals in Moskau. Seitdem Haftar im April 2019 die Offensive auf Tripolis einleitete, sollen seinen Vormarsch Söldner der privaten russischen »Wagner-Gruppe« unterstützen.[9] Haftar gilt in Russland, aber auch Frankreich als Stabilitätsgarant, der das Land autoritär einen könnte.

Waffenstillstand oder Gegenoffensive?

Im Wissen um die mächtigen Verbündeten und die militärische Lufthoheit setzte Haftar im April vergangenen Jahres alles auf eine Karte und ging zum vermeintlich entscheidenden Angriff auf Tripolis über. Doch der General hat seine militärische Schlagkraft überschätzt und seine Fronten zu weit ausgedehnt. Vor Tripolis kam seine Offensive ins Stocken und der libysche Konflikt ging in einen Stellungs- und Zermürbungskrieg über, der bis vor wenigen Wochen im Großen und Ganzen anhielt und mehr als 1.000 Tote und über 200.000 Binnenflüchtlinge zu verzeichnen hat. Das militärische Kräftegleichgewicht sichert der GNA seit Mai 2019 die Türkei, die mittels massiver Drohnenangriffe auf Stellungen Haftars dessen Luftüberlegenheit zu brechen vermochte. Ein im Dezember vergangenen Jahres abgeschlossenes Beistandsabkommen zwischen der GNA und der Türkei regelt die Entsendung von türkischen Militärberatern und turkmenischen Söldnermilizen sowie Waffen und Logistik nach Tripolis.[10] Nach Angaben des LNA-Sprechers Ahmed al-Mismari sollen auch von der Türkei ausgebildete Kurden, sogenannte Roj-Peschmerga, für die GNA kämpfen.

Es ist wohl vor allem dem türkischen Beistand zu Lande und in der Luft zu verdanken, dass die GNA erstmals zur Gegenoffensive übergehen kann und am Wochenende mit der Operation »Peace Storm« Haftars letzte Hochburgen im Westen des Landes angegriffen hat. Und so verwundert es nicht, dass die wiederholten Appelle der UNO, im Angesicht der zu erwarteten Verbreitung der Corona-Pandemie Libyen[11] einen Waffenstillstand zu vereinbaren, ungehört verschallen. Ebenso wenig Notiz wurde bislang von einem gemeinsamen Aufruf des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell mit den Außenministern Frankreichs, Deutschlands und Italiens genommen, in Anbetracht des Ramadan die Waffen schweigen zu lassen.[12] Der Operation »IRINI« warf Al-Sarradsch in einem Brief an den UN-Sicherheitsrat vor, durch die ausschließliche Kontrolle des Seeweges de facto Haftar in die Hände zu spielen, der seinen Nachschub vor allem über ägyptisches Festland und Luftbrücken bekäme.

Wohl auch deshalb ist Al-Sarradsch momentan entschlossen, jedweden zukünftigen Verhandlungen mit seinem Kontrahenten Haftar eine kategorische Absage zu erteilen, wie er der italienischen Tageszeitung »La Repubblica« mitteilte.[13] Der General wiederum erklärte in einer Fernsehansprache vom 27. April die UN-Vermittlung von 2015 für Null und nichtig. Er sei bereit, das libysche Volk zu einen und die Bedingungen für eine neue Regierung zu schaffen. Dafür sei es nötig, den »Befreiungsprozess« bis zum Ende durchzuhalten.[14] Militärisch hat Haftars LNA der GNA-Offensive bislang allerdings wenig entgegenzusetzen. Zwar wird seitdem Tripolis tagtäglich mit Raketenangriffen überzogen, die nach Angaben der GNA und der UNO vor allem Wohngebiete, aber auch wiederholt Krankenhäuser getroffen haben sollen, Geländegewinne verzeichnet die LNA allerdings nicht.

Erste Spekulationen,[15] wonach Haftars internationale Verbündete, allen voran die VAE und Ägypten, den General fallen lassen könnten, scheinen aber verfrüht zu sein. Dies hinterließe ein Machtvakuum, in welches nach Stand der Dinge die Türkei, Ägyptens Hauptrivale in der Region, als Schutzmacht der GNA stoßen würde. Und Auflösungserscheinungen in der LNA oder ein signifikanter Stimmungsumschwung in der ostlibyschen Bevölkerung sind noch nicht festzustellen. Zudem sind die politischen Kosten für Haftars Aufrüstung immer noch gering, da das Waffenembargo über die ägyptisch-libysche Grenze nicht zu kontrollieren ist. Und auch Frankreich, Russland und die USA dürften ihre Verbindungen nach Bengasi/Tobruk nicht voreilig trennen. Immerhin kontrolliert Haftar nach wie vor die wichtigsten Ölexporthäfen des Landes. Er besitzt damit die Verfügungsmacht über Libyens mit Abstand wichtigstes Exportprodukt und weiß diesen Trumpf politisch auszuspielen, wie seine Maßnahme, die Ölausfuhren des Landes seit Januar zu blockieren, unter Beweis stellt.[16]

Über die Kräfteverhältnisse in einem imperialistischen Konflikt

Und so scheint ein Einfrieren des Krieges momentan die einzig realistische Option zu sein. Sie dürfte auch die präferierte Lösung der internationalen Interventen darstellen und den innerlibyschen Kriegsparteien einen unverstellten Eindruck der ihnen zugedachten Funktion in diesem Konflikt vermitteln. Denn dass der jüngste Vorstoß der EU, »IRINI«, ihren Bündnispartner Al-Sarradsch nun militärisch zurückzuwerfen droht, kann nur dem ironisch erscheinen, der die überstrapazierte Analogie eines »Stellvertreterkrieges« in Libyen wörtlich genommen hat. Dabei war die Bezeichnung für die Vorgänge im Land schon immer eher desorientierend und schlägt schon auf phänomenologischer Ebene fehl: welche großen, gemeinsamen Ideale sollen denn in diesem Konflikt aufeinandertreffen, mit Frankreich, Russland, Jordanien, Ägypten und den VAE auf einer Seite, den EU-Staaten – inklusive Frankreich in Bezug auf die Migrationspolitik –, Katar und der Türkei auf der anderen Seite? Welche fundamentalen weltanschaulichen Differenzen sollen ausgefochten werden und wofür?

In Libyen gibt es hauptsächlich zwei imperialistische Kalküle: den Zugang zu Öl und Gas und die Kontrolle über die Fluchtrouten gen Europa. Die Einnahmen aus ersterem sind in Ermangelung eines selbsttragenden, geschweige denn im Weltmarktmaßstab konkurrenzfähigen industriellen Sektors nach wie vor Libyens Lebensversicherung. Nach Angaben von Crisis Watch produzierte das Land vor 2011 1,65 Mio. Barrel am Tag, was bis zu 65% des BIP entsprach und für Schuldenfreiheit sorgte. Die Zeiten sind vorbei. Die Kämpfe um den Zugang zum Öl im post-revolutionären Libyen drosselten die Produktion im Jahr 2016 auf 300.000 Barrel am Tag, die Einnahmen gingen von 40 Mrd. US-Dollar im Jahr auf 4,6 Mrd. US-Dollar zurück.[17]

Seit September 2016 kontrolliert Haftars LNA den Ölhalbmond, wobei sie bis zum Jahresanfang 2020 interessanterweise ausgesprochen gut mit den Offiziellen in Tripolis zusammenarbeitete. De facto fungierten Haftars Truppen als Schutzmacht des reibungslosen Öl- und Gasexports im Golf von Sirte. Dadurch konnte die Produktion auf bis zu 1,1 Mio. Barrel am Tag in 2018 gesteigert werden.[18] Die Einnahmen gingen interessanterweise nicht nach Bengasi, sondern an die Zentralbank in Tripolis, die wiederum gesetzeskonform das Salär derjenigen LNA-Generäle bezahlte, die bereits vor 2015 zur LNA gehörten.[19] Haftar konnte sich so vor der Welt als »verantwortungsbewusster Patriot« präsentieren, bei dem die Reichtümer des Landes im Interesse der internationalen Partner gut aufgehoben seien. Gleichzeitig besitzt der General damit bis heute ein Druckmittel, welches er seit Anfang des Jahres auch ausspielt und somit seine Geldgeber wie auch in- und ausländischen Konkurrenten an den Verhandlungstisch zwang. Immerhin drosselte seine Ausfuhrblockade die Produktion auf zuletzt katastrophale 80.000 Barrel pro Tag, was nach Angaben der NOC in Tripolis einen Einnahmeverlust von 4,1 Mrd. US-Dollar zufolge hatte.[20]

Haftar zur Zusammenarbeit beim Ölexport zu bewegen, war bislang neben der Realisierung der europäischen Migrationspolitik das Faustpfand der international anerkannten Regierung in Tripolis, die eigene Legitimität zu wahren. Für seine europäischen »Verbündeten« war die Regierung Al-Sarradsch stets ein nützlicher Handlanger, nicht mehr. Im Amt gehalten und finanziert durch die »Gnade«, ein willfähriger Vorposten des EU-Grenzregimes in Nordafrika zu sein. An einer militärisch erstarkenden GNA als Marionette Erdogans hat in Brüssel niemand ein Interesse. Schließlich waren die bisherigen Friedensbemühungen vom Ziel getragen, die libyschen Juniorpartner jeder Couleur möglichst klein zu halten. Und sollte doch der exzentrische General Haftar den Krieg für sich entscheiden, haben Emmanuel Macron und der »größte Dealmaker aller Zeiten« im Weißen Haus einen Fuß in der Tür, die gemeinsamen Interessen zu wahren.

Nachzügler Deutschland

Eben jenen Fuß stößt Deutschland sich vorerst noch blau. Die hierzulande mit enormem medialem Getöse begleitete »Berliner Libyen-Konferenz« im Januar dieses Jahres sollte beide Konfliktparteien und ihre jeweiligen internationalen Sponsoren und Gönner unter deutscher Federführung an den Verhandlungstisch für eine gemeinsame Zukunft bringen. Die Initiative kam zu eben jenem Zeitpunkt, da General Haftar beschloss, die Ölausfuhren aus dem Sirte-Becken zu blockieren – dem Gebiet, in dem die Wintershall Dea, an der der deutsche Chemieriese BASF zu 67% beteiligt ist, ihr Tätigkeitsfeld hat und im Laufe der Jahre nach eigenen Angaben über zwei Mrd. US-Dollar investierte.[21] Dieser bislang ehrgeizigste Versuch Deutschlands, die Zukunft Libyens direkt zu beeinflussen, und nicht nur über die hegemoniale Rolle in der EU – in bester imperialistischer Landestradition dreist als »interessenlose Vermittlerrolle« samt Verharmlosung der eigenen Kolonialgeschichte angepriesen[22] – schlug dröhnend fehl. Das es nicht der letzte Versuch gewesen sein dürfte, davon zeugen die 300 Bundeswehrsoldaten, mit denen sich Deutschland nun an der Mission »IRINI« beteiligt.

Tim Solcher ist Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialismus.de.

Anmerkungen

[1] Vgl. United Nations Security Council, Resolution 2292 (2016). Text abrufbar unter http://unscr.com/files/2016/02292.pdf.
[2] www.operationirini.eu/wp-content/uploads/2020/04/200401-CD-IRINI-in-OJ.pdf, vgl. insb. Artikel 8.3.
[3] Ebd., vgl. insb. Artikel 1-5.
[4] Wolfram Lacher (2018): Das Milizenkartell von Tripolis. Oberflächliche Stabilisierung birgt die Gefahr neuer Konflikte. SWP-Aktuell 2018/A 28, Mai 2018, www.swp-berlin.org/publikation/libyen-das-milizenkartell-von-tripolis/.
[5] Vgl. International Crisis Group-CrisisWatch, Monatsübersicht, www.crisisgroup.org/crisiswatch/database?location%5B%5D=97&date_range=last_12_months&from_month=01&from_year=2020&to_month=01&to_year=2020.
[6] Vgl. Bloomberg.com, 13.2.2020, Macron's Plan to End the Libyan Conflict Only Made Things Worse, www.bloomberg.com/news/articles/2020-02-14/france-s-mess-in-libya-means-european-allies-now-mistrust-macron; und Politico.eu, 17.4.2019, France's Double Game in Libya, www.politico.eu/article/frances-double-game-in-libya-nato-un-khalifa-haftar/.
[7] Vgl. Of Tanks and Banks. Stopping a Dangerous Escalation in Libya, Crisis Group, Middle East and North Africa Report Nr. 201, 20.5.2019.
[8] Vgl. zum Kampf um die Hoheit über Libyens zentrale Ölhäfen: Crisis Group Middle East and North Africa Report Nr. 189, »After the Showdown in Libya´s Oil Crescent«, 9. August 2018. Text abrufbar unter www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/north-africa/libya/189-after-showdown-libyas-oil-crescent.
[9] www.tagesschau.de/ausland/libyen-431.html.
[10] Faz.net, 22.12.2019, www.faz.net/aktuell/politik/ausland/abkommen-von-tuerkei-und-libyen-warnung-vor-zweitem-syrien-16549669.html; Aljazeera.com, 27.4.2020, www.aljazeera.com/news/2020/04/turkey-military-helps-turn-tide-libyan-civil-war-200427095209181.html.
[11] Nach Angaben der John-Hopkins-Universität vom 27.4.2020 haben sich bislang 61 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert, davon starben zwei. In Ermangelung ausreichender Testmöglichkeiten und eines durch jahrelangen Krieg und ökonomische Krisen völlig unzureichend vorbereiteten Gesundheitssystems dürfte die Lage noch wesentlich ernster sein.
[12] www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gemeinsame-erklaerung-libyen/2337486.
[13] Interview mit La Repubblica, 15.4.2020, www.repubblica.it/esteri/2020/04/14/news/serraj_con_haftar_non_negoziero_piu_la_libia_non_vuole_un_altra_dittatura_-254037043/?ref=search
[14] www.aljazeera.com/news/2020/04/haftar-dismisses-libya-unity-deal-200427203029253.html
.
[15] www.aljazeera.com/news/2020/04/libya-khalifa-haftar-pull-tripoli-defeat-200421201058474.html
[16] Auch wenn dieses Druckmittel im Zuge des globalen Ölpreisverfalls für Haftar zur Unzeit zu verfallen droht.
[17] Crisis Watch, 9.8.2018, After the Showdown in Libya’s Oil Crescent, S. 1f.
[18] Ebd., S. 7.
[19] Ebd.
[20] www.libyaobserver.ly/inbrief/oil-and-gas-losses-exceed-4-billion-usd-noc-says.
[21] https://wintershalldea.com/de/wo-wir-sind/libyen.
[22] So twitterte Sigmar Gabriel am 16.1.2020 allen Ernstes: »In der Welt harter Interessenpolitik erreichen manchmal die Interessenlosen mehr. Wir haben stärkeres als Waffen & Geld: Legitimität! Wir waren nicht am Libyen-Krieg beteiligt u. nie Kolonialstaat. Gut, dass Deutschland Libyen nicht den Autokraten überlässt.« Der Tenor der medialen Berichterstattung unterschied sich nicht nennenswert.


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