21. Dezember 2016 Joachim Bischoff: Niedergang der Türkei
Zwischen Bürgerkrieg und Wirtschaftskrise
In den vergangenen zwei Jahren ist die Türkei immer wieder von schweren Anschlägen getroffen worden. Als verantwortlich für die Attentate werden meist die Jihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS), die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder die TAK, eine radikale Splittergruppe der PKK (»Freiheitsfalken Kurdistans«), genannt. Terroristen haben Anschläge mit Hunderten von Toten verübt.
Diese politisch motivierten Gewalttäter führen einen Krieg gegen ein Land, der mehr und mehr die ganze Bevölkerung erfasst. Auch die Putschisten vom Juli, deren mysteriöser Staatsstreich vereitelt werden konnte, haben sich terroristischer Mittel bedient und Zivilisten getötet. Die Reaktion des Staates verlief dann allerdings nicht in rechtsstaatlichen Bahnen.
Die Lage in der Türkei am Ende des Jahres 2016 ist extrem angespannt: Die Regierung hat Zehntausende mutmaßliche Putschanhänger verfolgt und ausgegrenzt. Gleichzeitig geht die AKP massiv gegen die Medien, GewerkschafterInnen und linke PolitikerInnen vor. Die gigantische Verhaftungswelle gegen Zehntausende von LehrerInnen, Intellektuellen, JournalistInnen und PolitikerInnen steht in keinem Verhältnis zum Kampf gegen Terrorismus und zielt offenkundig auf eine politische Gleichschaltung.
Präsident Erdoğan und die Regierungspartei AKP kriminalisieren die prokurdische HDP, setzen auf militärische Repression und treiben so der PKK neue Mitglieder in die Reihen. Der seit dem Putschversuch geltende Ausnahmezustand gibt der AKP die Handhabe mit Festnahmen und Ausgangssperren die gesamte Zivilgesellschaft einzuschüchtern. Der geplante weitere Abbau von dem, was an Demokratie in der Türkei noch geblieben ist, zielt auf Erdoğans Machtabsicherung und die Transformation der Republik in einen autoritären Staat.
Zu einem gewichtigen Teil hat die politische Führung die Entwicklung einer terroristischen Infrastruktur selbst gefördert. Zum einen war Erdoğan jedes Mittel Recht, um Syriens Diktator Bashar al-Asad zu stürzen, auch die Duldung von Extremisten. Und zweitens bagatellisierte die AKP den IS und weigerte sich lange gegen diese Gruppierung vorzugehen, um die Entstehung eines unabhängigen De-Facto-Kurdenstaates in Nord-Syrien zu verhindern.
Erdoğan hatte schon vor dem Putsch im Juli 2016 einen autoritären und antiwestlichen Kurs verfolgt, an dessen Ende die Abschaffung der Demokratie und eine Art modernes Sultanat stehen. Diesen Kurs hat er lediglich beschleunigt, er hat die Revolte als »Geschenk Allahs« bezeichnet. Die islamisch-konservative Regierung fordert seit geraumer Zeit einen Systemwechsel als unumgänglichen Schritt im Kampf gegen den Terror. In Zeiten, in der Gülenisten, Extremisten und Saboteure das Land bedrohten, brauche es eine starke Führung.
Die prokurdische Partei HDP und die kemalistisch-sozialdemokratische CHP warnen zu Recht vor einem Übergang zu einer autoritären Herrschaft, zumal de facto die Gewaltentrennung aufgehoben werde. Eine sich abzeichnende personale Form der Klassenherrschaft wird die Entwicklung der Türkei um Jahrzehnte zurückwerfen.
Gemäß dem Entwurf zur Einführung des Präsidialsystems, der 21 Artikel umfasst, soll die Funktion des Regierungschefs abgeschafft und die Exekutivgewalt in die Hände des Staatschefs konzentriert werden. Die Rolle des Parlaments wird auf die Gesetzgebung reduziert, die Kontrollbefugnisse werden ausgesetzt. Um den Präsidenten zu überstimmen, wäre eine qualifizierte Mehrheit notwendig.
Ministerpräsident Binali Yıldırım erklärte, mit diesem Systemwechsel werde der »Verwirrung« über die Machtteilung ein Ende gesetzt. Die von Yıldırım beklagten Abgrenzungsprobleme sind indes primär ein Ergebnis der Machtgelüste des ehemaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan. Anders als seine Vorgänger lehnt er es ab, sich mit repräsentativen Aufgaben zufriedenzugeben.
Sollte der Entwurf vom Parlament und in einem Volksreferendum gebilligt werden, bekäme das Staatsoberhaupt die Kompetenz, Dekrete zu erlassen, den Ausnahmezustand auszurufen und das Parlament aufzulösen. Der Ausgang einer Volksbefragung wäre allerdings ungewiss, auch wenn regierungsnahe Medien suggerieren, die Bevölkerung wünsche sich nichts sehnlicher als ein Präsidialsystem.
Der Politiker Erdoğan galt zu Beginn des 21. Jahrhunderts als gemäßigt religiöser Reformer. Ein Jahr nach der schweren Finanzkrise von 2001 gewählt, verfolgten die AKP und Erdoğan ein Modernisierungsprogramm, um das Schwellenland Türkei aus den Blockaden der Klientelwirtschaft (Cronyism) herauszuholen.[1] Zwischen 2002 und 2005 realisierte die Türkei mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds eine tiefgreifende gesellschaftliche Erneuerung. Der Bankensektor wurde bereinigt, der Wechselkurs flexibilisiert, die Unabhängigkeit der Zentralbank gefestigt, die öffentliche Infrastruktur modernisiert, der Mittelstand gestärkt und die wirtschaftliche Erneuerung auch in den anatolischen Provinzen durchgesetzt.
Nach 14 Jahren ununterbrochener Regentschaft hat sich der Reformeifer aufgelöst. Zwar weist die Türkei seit Jahren ein recht ansehnliches Wirtschaftswachstum aus und hat zudem viele Jobs geschaffen, namentlich in den früheren strukturschwachen Regionen. Doch die autoritäre Inszenierung Erdoğans, die Durchsetzung der Zensur, die Aushebelung der Gewaltenteilung und die massive Inhaftierung der Opposition sowie die willkürlichen Eingriff in Wirtschaft und Eigentumsrechte, schlagen sich in wachsenden ökonomischen Fehlentwicklungen nieder.
Die Türkei klagt über den chronischen Mangel an Direktinvestitionen. Die Wirtschaft krankt zudem an diversen Ungleichgewichten, die seit Jahren nur halbherzig angegangen werden. So wird das Wachstum allzu stark durch den Privatkonsum angetrieben, finanziert durch eine leichtfertig Kreditvergabe. Entsprechend tief ist die Sparquote. Dies führt dazu, dass der Aufbau der Infrastruktur und des privaten Kapitalstocks in hohem Maß von Kapitalimporten abhängig ist, also vom volatilen Auf und Ab der Finanzmärkte. Enge Grenzen für die Entwicklung setzt auch die tiefe Beschäftigungsquote der Frauen. Der Bildungsbereich und die sozialen Dienstleistungen sind unterentwickelt.
Diese Schwächen führten zu einem Rückgang des Wachstums. Im Vorjahresvergleich hat die Währung gegenüber dem Dollar um 18% an Wert eingebüßt. Die positive Wirkung tieferer Erdölpreise ist als Wachstumsimpuls verpufft. Das Vertrauen der Konsumenten bewegt sich auf dem tiefsten Niveau seit fünf Jahren, während die Arbeitslosenquote mit 11% nahe einem Fünf-Jahre-Hoch liegt. Auch das Wirtschaftswachstum verharrt mit knapp 3% weit unter dem langfristigen Potenzial. Dazu kamen drastische Rückgänge in der Tourismus-Wirtschaft infolge der terroristischen Gewalttaten.
Die Kriegswirren im Irak haben für die türkischen Exporteure einschneidende Auswirkungen. So brachen die Ausfuhren im Juli im Vergleich zum Vorjahr um 46% ein; im vergangenen Monat betrug die Einbuße laut dem Verband der türkischen Exporteure 27%. Der Irak, wohin primär Baumaterialien, Textilien und Lebensmittel geliefert werden, ist für die Türkei nach Deutschland der zweitwichtigste Absatzmarkt.
In Reaktion auf die bewaffnete Revolte im Juli hat Ankara eine rigorose Säuberungswelle ausgelöst, die eben auch ökonomische Folgen hat. Die Massenentlassungen und Verhaftungen haben tiefe Spuren im Arbeitskörper hinterlassen. Die Polizei führte bei Banken sowie bei über hunderten von Unternehmen Razzien durch und nahm viele Geschäftsleute fest. Wer diese Repressionsmaßnahmen gegen angebliche Verschwörer kritisierte, geriet selbst in den Verdacht, dem Feindeslager anzugehören.
Folgenreich ist die staatlich geförderte und kreditfinanzierte Stärkung der öffentlichen Bauwirtschaft. Der Bausektor wurde zur zentralen Säule der Binnenwirtschaft. In der Metropole Istanbul entsteht bis zum Jahr 2018 ein dritter Flughafen, der mit einem geplanten Aufkommen von jährlich 150 Mio. Passagieren zum größten der Welt werden soll. Auch in entlegenen Provinzen werden Malls und Bürotürme errichtet, die den Stolz der von Erdoğan propagierten »neuen Türkei« repräsentieren sollen. Einige Konzerne, deren Kerngeschäft schwächelte, wechselten in den Immobiliensektor.
Ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum wird sich – so die Einschätzung vieler Ökonomen – nur einstellen, wenn die Regierung endlich die willkürlichen Eingriffe in die bestehende Unternehmenslandschaft und die öffentliche Beschäftigung unterlässt, und sich wieder auf die umfassende Stärkung der Binnenwirtschaft besinnt.
Die Entwicklung fasste sich im Anstieg der Preissteigerungsrate und dem Rückgang des Wechselkurses der türkischen Lira zusammen. Seit dem gescheiterten Militärputsch vom Juli gleitet die türkische Lira von einem Allzeittief zum nächsten. Allein im November verlor die Landeswährung gegenüber dem Dollar 8% an Wert. Die Inflationsrate bewegt sich schon seit Jahren deutlich über der Zielmarke von 5% (Oktober 2016: 7,2%).
Die türkische Regierung greift zudem zu Importrestriktionen und erhöht z.B. die Steuern auf Mittelklassewagen, womit sie die Importmarken trifft. Die Mixtur von Preissteigerungen, Zinserhöhungen und staatlicher Repression hat zu einer sich beschleunigenden Kapitalflucht geführt. Erdoğan hat immer wieder die Politik der Notenbank kritisiert. Mittlerweile hat die Schwäche der Währung zur Angst vor einer allgemeinen Banken- und Refinanzierungskrise in der Türkei geführt.
Die türkische Lira hat seit Anfang des Jahres gegenüber dem US-Dollar beinahe ein Fünftel ihres Wertes verloren und fiel damit auf ein 30-Jahre-Tief. Dies bringt Unternehmen in Schwierigkeiten, die in Fremdwährungen verschuldet sind. Nicht-Lira-Kredite machen etwa 40% der enormen Firmenverbindlichkeiten im Land aus.
Keine Erholung zeichnet sich im Tourismussektor ab, einem wichtigen Arbeitgeber und Devisenbringer, weil die Türkei immer wieder von Terroranschlägen heimgesucht wird. Die vom Fed eingeläutete Zinswende erhöht den Anreiz, Gelder aus der Türkei abzuziehen. Der Staat enteignete 600 Unternehmen und Vermögenswerte von über 10 Mrd. $. Es soll sich um Gefolgsleute des islamischen Predigers Fethullah Gülen handeln.
Die Türkei wird auch 2017 mit einer milliardenschweren Kapitalflucht konfrontiert werden. Die neuen Meldungen über den Zustand der Wirtschaft beunruhigen weiter: Nach sieben Jahren Wachstum ist die Volkswirtschaft zwischen Juli und September 2016 zum ersten Mal geschrumpft. Es war der von vielen erwartete Bremseffekt des gewaltsamen Umsturzversuches vom 15. Juli. Diese Schrumpfung fiel mit 1,8% (gegenüber dem Vorjahresquartal) stärker aus als erwartet. Auch ein beispielloser Schub der Staatsausgaben (+24%) vermochte die Einbußen im Dienstleistungssektor und in der Industrie nicht zu kompensieren.
Die islamisch-konservative Führung der AKP denkt nicht an eine Kurskorrektur. Staatspräsident Erdoğan deutet die Währungsturbulenzen als Sabotage. Sein Appell an das Volk, Dollarbestände gegen Lira zu wechseln, löste zwar einen »Massenumtausch« aus – ohne damit den Kurs der Lira nachhaltig beeinflussen zu können. Ministerpräsident Yıldırım hat die Verantwortlichkeiten für die Geschäftsbanken und die Kapitalmärkte personell mit Gefolgsleuten von Erdoğan besetzt.
Und dieser polemisiert in der für ihn typischen Art und Weise: »Der Angriff auf unsere nationale Währung ist ein neuerlicher Putschversuch... Nachdem sie es mit militärischen Mitteln im Juni nicht geschafft haben die Regierung zu stürzen, versuchen sie es nun mit ökonomischen Mitteln.« »Sie«, das sind die bekannten Widersacher der Gülen-Bewegung und der kurdischen PKK im Verbund mit üblen ausländischen Kräften, die der Türkei schaden wollen.
Über der Türkei liegen schwere Wolken, viele Menschen resignieren. Ein Politikwechsel hängt daran, ob sich die zersplitterte Opposition auf einen gemeinsamen Kurs verständigen kann, also eine demokratische Front aus Liberalen, Linken, Kurden, Kemalisten – ein Bündnis aller, die nicht akzeptieren, dass aus der Türkei Erdoğanistan werden soll. Unglücklicherweise ist ein solches Bündnis nicht in Sicht. Die rechtsnationalistische Opposition ist schon ausgeschert, sie hat sich mit der Regierung arrangiert. Sie unterstützt Erdoğans Kriegskurs in der Kurdenfrage. Also: geringe Aussichten auf eine zivilisatorische Lösung.
[1] Cronyism ist eine Deformation der Ordnungsstrukturen des Äquivalententausches. Die Ware-Geld-Logik wird partiell durch »politische Märkte« ersetzt. Entscheidend sind nun nicht mehr, dass Unternehmen im Wettbewerb um Marktanteile konkurrieren. Basis für ökonomischen Erfolg ist das »rent-seeking«, die Fähigkeit, sich die Macht der Regierung zunutze zu machen, um Wettbewerbsvoreile durchzusetzen.